68er - Die Rechtfertigungsideologie enthemmter Konsumkinder

Kolumne: Grauzone. In diesem Jahr jährt sich die Studentenrevolte von 1968 zum 50. Mal. Die medialen Lobgesänge sind bereits absehbar. Denn nicht nur haben sich die 68er mit ihrer Version der Geschichte durchgesetzt, sondern auch mit ihrem moralisch überhöhten Selbstbild

„68 ist eine Erfindung der 68er“ / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Nichts legitimiert kulturelle Diskurshoheit besser als moralische Überlegenheit. Wie gut das funktioniert, das werden wir wieder einmal in diesem Jahr erleben. Denn dann wird – jede Wette – anlässlich von 50 Jahren „68“ in den Medien wieder das altbekannte Lied angestimmt: wie befreiend 68 war, wir es den Mief der Adenauer-Ära hinwegfegte, wie es verkrustete Strukturen aufbrach, Autoritäten infrage stellte und uns alle emanzipierte: persönlich, sexuell und überhaupt.

Denn vor 68, so die offizielle kulturgeschichtliche Lesart, war die deutsche Gesellschaft ein Hort finsterer, lustfeindlicher und faschistoider Zwangscharaktere, verkniffen, bieder und provinziell. Erst mit 68 kam Licht ins Dunkel, und Deutschland wurde endlich locker, modern, weltoffen und demokratisch.

Ergebnis, nicht Auslöser einer Revolution

Das ist natürlich Unsinn. Denn zum einen setzen die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, die mit 68 assoziiert werden, schon sehr viel früher ein. Im Grunde haben wir es mit einem Modernisierungskontinuum zu tun, das im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzte und von da an kontinuierlich die Wertmaßstäbe und Lebensformen der Menschen veränderte. Die Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre war daher alles andere als ein Dunkeldeutschland, sondern eine moderne Gesellschaft, die dabei war, Restbestände tradierter Gesellschaftsnormen zu überwinden – was immer man davon halten mag. Deshalb ist 68 nicht der Auslöser einer gesellschaftlichen Revolution, sondern deren Ergebnis.

68 ist eine Erfindung der 68er. Es das Produkt der größenwahnsinnigen Vorstellung, dass eine Handvoll Intellektueller und ein paar Hundert Studenten eine Gesellschaft revolutionieren können. Das können sie natürlich nicht. Nur Intellektuelle verfallen auf die narzisstische Idee, dass Intellektuelle in der Lage sind, eine Kulturrevolution auszulösen.

Doch gesellschaftliche Veränderungen werden nicht von Intellektuellen inszeniert. Sie finden statt, weil sich die Lebensbedingungen der Menschen verändern. Die Studenten vor 50 Jahren hätten das eigentlich wissen müssen – gerade sie. Denn immerhin war es Karl Marx, der trocken feststellte: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“

Der Freibrief zur schrankenlosen Selbstfindung

Doch die Studenten von 68 lasen nicht mehr Marx. Sie lasen Herbert Marcuse und Erich Fromm. Und dort fanden sie alles, was man als Sprössling einer prosperierenden Wohlstandgesellschaft braucht, um den eigenen Narzissmus und Hedonismus intellektuell zu rechtfertigen: die Idee, sexuelle Libertinage würde zu einer besseren Gesellschaft führen. Die Vorstellung, dass die Familie so etwas wie die Keimzelle faschistischer Gesellschaftsstrukturen ist. Und die Emanzipation von allen Bindungen eine Voraussetzung seelischer Gesundheit.

Mit kritischer Gesellschaftsanalyse hatte das nur auf den ersten Blick etwas zu tun. Tatsächlich war es der ideologische Freibrief für einen als antiautoritäres Selbstfindungsgetue getarnten Egoismus und grenzenlosen Konsum. Das war nicht links, das war als gesellschaftspolitische Subversion daherkommender Hedonismus.

Doch 68 wäre nicht zu der Chimäre geworden, die es heute ist, wenn es einfach nur die Rechtfertigungsideologie enthemmter und selbstverliebter Konsumkinder gewesen wäre. Mit dem Freibrief zur schrankenlosen Selbstfindung lieferten die Ideologen von damals gleich mehreren Generationen das Gefühl moralischer Überlegenheit. Denn egomane Selbstfindung – so die etwas infantile Formel – ist eben das Gegenteil von faschistoiden, autoritären Strukturen und somit ethisch wertvoll.

Moralisch legitimierte Machtansprüche

Es war diese moralische Selbstglorifizierung all jener, die den Marsch durch die Institutionen antraten, die aus den gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit erst 68 werden ließ. Denn der Kampf gegen das Böse und der Sieg des Guten brauchten einen symbolischen Ort, einen historischen Wendepunkt, der es erlaubte, die Geschichte in eine finstere Vergangenheit und eine helle Gegenwart und Zukunft zu teilen. Nur so lässt sich Diskurshoheit dauerhaft zementieren.

Das Narrativ 68 ist somit nichts anderes als der gelungene Versuch, durch historische Zuspitzung moralisch legitimierte Machtansprüche zu formulieren und die kulturelle Hegemonie der Neuen Linken zu untermauern.

Es wird Zeit, den Muff von 50 Jahren endlich zu beseitigen und gründlich durchzulüften. In ihrem Narzissmus haben die 68er und ihre geistigen Erben ein Klima geschaffen, das nicht zuletzt ihren eigenen Parolen Hohn spricht. Schon in der Mao-Bibel steht: „Wir müssen die Selbstzufriedenheit niederhalten und beständig an unseren eigenen Mängeln Kritik üben.“

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