Zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven - Weltgeist am Flügel

Kein anderer Komponist ist derart überhöht worden wie Ludwig van Beethoven – sei es als Mythos der tragischen prometheischen Figur, sei es im Namen naiver Heldenverehrung. Doch wer war er wirklich?

Beethoven in unserer Vorstellung: Wer war er wirklich? / dpa
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Autoreninfo

Christine Eichel ist Journalistin und Autorin. Sie promovierte über Theodor W. Adorno und leitete bis April 2010 das Cicero-Ressort Salon.

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Epochenbrüche bringen ihre eigenen Protagonisten hervor. Der 1770 geborene Hegel meinte in Napoleon den „Weltgeist zu Pferde“ zu erblicken. Doch die Dynamik des Wandels kulminiert auch in Ausnahmekünstlern, die wie Seismografen auf die Ereignisse reagieren, sie in besonderer Intensität erleben und verarbeiten. Hätte Hegel die Künste nicht auf die unteren Ränge der Selbsterkenntnis des Geistes verwiesen, als bloß sinnliches Scheinen der Idee, womöglich wäre ihm für seinen Jahrgangsgenossen Beethoven die Formulierung „Weltgeist am Flügel“ eingefallen. Denn wie kein anderer Komponist ist Ludwig van Beet­hoven exemplarisch für die epochalen Umwälzungen des späten 18. Jahrhunderts: durch seinen unbeirrbaren Freiheitswillen, seine radikal individuelle Musiksprache, nicht zuletzt durch seinen Anspruch, einen gesellschaftlich relevanten Beitrag zum Fortschritt zu leisten. 

1792 springt er erstmals publikumswirksam auf die Bühne der Musikgeschichte, wild, ungebärdig, genialisch. Mit seinen Klavierimprovisationen reißt der Nobody aus der rheinischen Provinz das verwöhnte Wiener Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Niemand spielt so virtuos auf der Klaviatur der Emotionen, niemand weiß seine Zuhörer derart zu erschüttern. Damen fallen schluchzend in Ohnmacht, selbst gestandene Herren kämpfen mit den Tränen. Und Beethoven? Bricht in schallendes Gelächter aus.

Enfant terrible der Komponistenzunft

Er ist das erste Enfant terrible der Komponistenzunft, das Zugang zu höchsten Kreisen hat. Ein Mann, der Freund und Feind düpiert, der die richtigen Leute kennt und die falschen Frauen liebt. Obwohl er es geradezu darauf anlegt, die tonangebende Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen, ist er eine Trophäe, mit der sich der Wiener Adel nur zu gern schmückt. Man gibt eben nur ungern ein neues Spielzeug aus der Hand, selbst wenn es sich um eine tickende Zeitbombe handeln könnte. Und das ist Beethoven ganz gewiss. 

Im Geist der Aufklärung erzogen und als glühender Bewunderer der Französischen Revolution nach Wien, nicht etwa nach Paris übergesiedelt, sind ihm die überkommenen Herrschaftsverhältnisse ein Ärgernis. Wenngleich die Rufe nach Gleichheit und Brüderlichkeit durch Europa hallen, verschließt man sich im kaiserlich-konservativen Wien solch egalitären Ideen. An diesem Widerspruch wird Beethoven ein Leben lang laborieren: Im Herzen ist er längst Citoyen, behandelt wird er oft wie ein Leibeigener. 

Anpassung oder gar Devotion kommen für ihn allerdings nicht infrage. Die Perücke, das Distinktionsmerkmal der Mächtigen, verschmäht der revolutionär entzündete Musikus ebenso wie parkettgeschmeidige Umgangsformen. Ganz offen lässt er sein adliges Publikum wissen, was er von der Etikette hält: nichts. Wie ein Rockstar heutiger Tage erscheint er ungekämmt und nachlässig gekleidet in den parfümierten Salons, wo er brilliert – und interveniert, falls nötig. „Für solche Schweine spiele ich nicht!“, ruft er aus, als ein junger Adliger während seines Klaviervortrags ungerührt Konversation betreibt. Ein andermal lässt er eine betagte Gräfin abblitzen, die ihn auf Knien um ein Ständchen anfleht. 

Deus ex musica

Für Beethoven ist Musik keine akustische Möblierung mehr, kein belangloses Divertissement. Er fordert ungeteilte Aufmerksamkeit ein, weil er mit ganz anderen Begrifflichkeiten operiert: Idee, Gedanke, Gehalt. Ihn befeuert der Anspruch, als erster Musikschaffender überhaupt ein der Literatur und Philosophie ebenbürtiges Werk zu hinterlassen. Aus diesem Grund möchte er auch nicht mehr „Komponist“ genannt werden, zu seiner Zeit ein Synonym für solides kompositorisches Handwerk, sondern „Tonkünstler“. Vor allem aber beflügelt Beethoven die Gewissheit, eine ethische Verantwortung zu tragen. Pragmatisch betrachtet, komponiert er für Auftraggeber, in Wahrheit hat er Höheres im Sinn: „Nie von meiner ersten Kindheit an ließ sich mein Eifer, der armen leidenden Menschheit mit meiner Kunst zu dienen, mit etwas anderm abfinden.“

Diese Aufwertung der Musik geht mit einer nie da gewesenen Selbstverortung als Kunstschaffender einher. Lange vor der Idee der sozialen Durchlässigkeit kündigt Beethoven den Konsens der Ständegesellschaft auf und setzt der gesellschaftlichen Elite seiner Zeit die Kategorie des Geistes­adels entgegen. Mehr noch, er betrachtet sich als Deus ex musica. Kunst und Wissenschaft, so sein Credo, „erhöhen den Menschen bis zur Gottheit“. 

Diese von der Genieästhetik beeinflusste Definition des Schöpferischen ist nicht nur vollkommen neu, sie kommt einer sozialen Rebellion gleich. Beethovens Lehrer Haydn rangierte als Hofkomponist noch auf der Hierarchieebene eines Küchenchefs. Beethoven emanzipiert sich von dieser subalternen Rolle. Erfüllt von seiner Mission, streift er die Fesseln des musikalischen Dienstleisters nach und nach ab. Das Feudalsystem nimmt er im Hinblick auf erhofftes Mäzenatentum zähneknirschend hin. Seine Servilität aber, in Bittbriefen an Grafen, Fürsten und Könige zur Schau gestellt, ist nur noch Ornament, keine Frage klassenbedingten Respekts mehr. Die meisten dieser Adligen betrachtet er als „bloße Instrumente, worauf ich, wenn’s mir gefällt, spiele“. Oder, noch deutlicher: „Ich taxiere sie nur nach dem, was sie mir leisten.“

Das Wagnis einer frei flottierenden Existenz

Naturgemäß ist es ein Emanzipationsprozess mit Hindernissen. Weit spektakulärer noch als seine legendären Publikumsbeschimpfungen wirkt die Prügelei, die er sich 1806 mit seinem wichtigsten Mäzen Fürst Lichnowsky liefert. Als homo politicus erbittern Beethoven gleich zwei Dinge an diesem Abend: zum einen die vehement eingeforderte Ergebenheitsadresse, als musikalisches Dessert aufzutreten, zum anderen die Tatsache, dass napoleonische Offiziere an der Tafel sitzen. Seit sich Bonaparte zum Kaiser gekrönt hat, sieht er in dem Korsen nur noch einen machtgierigen Despoten und Verräter der Revolution. Der Streit eskaliert. Erst fliegen die Fäuste, dann schreibt Beet­hoven seinem Widersacher Lichnowsky einen berühmten Brief, der einem Manifest gleichkommt: „Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten wird es noch Tausende geben, Beethoven gibt es nur einmal.“ 

Eine unerhörte Provokation, zumal in der restaurativen Ära Metternichs. Die Dialektik von Herr und Knecht will es, dass Beethoven vorübergehend die finanzielle Unterstützung Lichnowskys verliert, à la longue aber Recht behält. Die Aussöhnung nach dem Vorfall ist deshalb kaum mehr als ein fauler Frieden. Immerhin hat er sich das Motto seines Bonner Lehrers Neefe zu eigen gemacht: „Die Großen der Erde lieb‘ ich sehr, schlimme Fürsten hass‘ ich mehr als die Banditen.“ 

Ihn elektrisiert die Idee der Freiheit, und dafür geht er hohe Risiken ein. Kein bedeutender Komponist vor ihm hat sich an einer frei flottierenden Existenz versucht. In den zaghaften Anfängen eines bürgerlichen Musikbetriebs und sehr lange vor juristisch einklagbaren Urheberrechten ist das ein Wagnis, das ihn immer wieder in finanzielle Nöte stürzen wird. Aber Beethoven weiß, dass er seinen eigenen Weg gehen muss, wenn er nicht das Accessoire einer selbstdarstellungssüchtigen Elite bleiben will. 

Der erste Komponist, der „ich“ sagt

Der Preis ist hoch, auch im übertragenen Sinne. Im Zuge des Epochenbruchs, der die Selbstermächtigung des Subjekts in den Fokus rückt, bedeutet künstlerische Integrität fortan die Distanzierung vom gesellschaftlichen Status quo und damit die splendid isolation des Denkens und Schaffens. Das verbindet Beethoven mit einem zweiten Jahrgangsgenossen, der am Tübinger Stift die Studierstube mit Hegel teilte: Friedrich Hölderlin, ebenfalls ein Einzelgänger und Außenseiter. Unbehaust sind sie beide, geistig wie lebenspraktisch. Kein Ort, nirgends, wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt. Beethoven wechselt fast 70-mal die Wohnung, Hölderlin kommt der Welt abhanden, als er sich in die freiwillige Isolation seines Tübinger Turmzimmers begibt. 

Was sie eint, ist das kunstreligiöse Sendungsbewusstsein. In der Elegie „Brod und Wein“ spricht Hölderlin vom „göttlichen Feuer“. So wie Beethoven lehnt er einen existenzsichernden Künstlerberuf ab, wenn er klarstellt, dass seine Dichtkunst „niemals Instrument zu einer bürgerlichen Karriere, sondern Möglichkeit sein wollte, das Höchste menschlicher Erkenntnis in Worte zu fassen“. Eine substanzielle Gemeinsamkeit ist überdies die künstlerische Aneignung des Widerspruchs, ohne falsche Versöhnung. Dieses Konzept korrespondiert mit Hölderlins Definition des Dichters, der „das Göttliche, Einige, Harmonischentgegengesetzte“ in sich trage. Ausführlich thematisiert er den „Widerstreit des geistigen Gehalts und der idealischen Form einerseits und des materiellen Wechsels und identischen Fortstrebens andererseits“. Sofern dieser Widerstreit nicht in „Ruhepunkten und Hauptmomenten“ vereinbar sei, müsse er gerade deshalb fühlbar sein und gefühlt werden. 

Auch von den Extremen, die sich berühren, spricht Hölderlin. Das lässt sich ohne Weiteres auf Beethoven übertragen. Er liebt die schroffen Kontraste, die Brüche, das scheinbar Unvereinbare. Das reicht vom Eklektizismus, mit dem er volksmusikalische Versatzstücke, französische Revolutionsmärsche und alte Kirchentonarten verwendet, bis zu extremen dynamischen Schwankungen. Bei Beet­hoven werde abwechselnd pp geflüstert und ff gebrüllt, bemerkte Alfred Brendel einmal. Im Handstreich beendet Beethoven die Ära des Rokoko und die Ästhetik des Gefälligen. Er ist der erste Komponist, der „ich“ sagt. 

Autonomie statt Hofluft

Heftige Kontroversen lassen nicht lange auf sich warten. Denn die geläufig beschworene Dreifaltigkeit Wiener Klassik – Haydn, Mozart, Beet­hoven – täuscht. Mozart schien noch ein musikalisches Äquivalent der Aufklärung zu sein: ausgewogen, klar, proportioniert. Man lobte seine Musik für elegant gezähmte Affekte, für die kompositorische Vernunft, mit der er seine genialische Einbildungskraft zügelte. Demgegenüber wirkt Beethoven wie ein Vertreter der Gegenaufklärung: ungezähmt, widerspruchsvoll, ja, verworren. Von seiner hochemotionalen Musiksprache ist das breite Publikum zunehmend überfordert. Vor allem die Sinfonien mit ihrem bis dato ungekannten Überwältigungspathos lösen oft Ratlosigkeit aus. Nach der Uraufführung der „Eroica“ sprechen Kritiker von einer „wilden Fantasie“, die sich „ins Regellose“ verliere, Heine graust sich gar vor einer „Vernichtung der Natur“. 

Auch die anarchische Sprengkraft Beethovens entgeht den feinsinnigeren Zeitgenossen keineswegs. Als der junge Mendelssohn dem Geheimen Rat von Goethe eine Klavierfassung der Fünften Sinfonie vorspielt, entfährt dem Dichterfürsten der halb begeisterte, halb erschrockene Ausruf: „Man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein!“ Als Goethe und Beethoven dann einander im Kurbad Teplitz begegnen, prallen staatstragendes Harmoniebedürfnis und revolutionäres Selbstverständnis hart aufeinander. Goethe zieht den Hut vor der Kaiserin samt Entourage, Beethoven durchschreitet das Grüppchen mit verschränkten Armen. Die Episode endet mit einem Missklang. Goethe wird das flegelhafte Benehmen Beethovens kritisieren, Beethoven wiederum insinuiert, Goethe behage die Hofluft mehr, als es einem Dichter zieme.

Es geht um nicht weniger als Autonomie. Er verwirklicht sie gleich doppelt: durch eine nie da gewesene Eigenständigkeit des kompositorischen Schaffens und durch seine Existenz als freier Künstler. Ein Ausweg aus der Abhängigkeit von spendablen Gönnern eröffnet sich ihm, als er die Drucklegung seiner Werke als Einnahmequelle entdeckt. Auch das ist neu. Kein Komponist vor ihm hat derart virtuos mit Verlagen verhandelt, ungeniert um Honorare gefeilscht und manche Komposition sogar gleich mehrfach verkauft. Dass er für die Ewigkeit komponiert und der Nachwelt daher ein gedrucktes Werk hinterlassen muss, versteht sich für ihn ohnehin von selbst. Verrisse können Beethoven nicht beirren. Über seine Kritiker unkt er: „Sie werden gewiss niemand durch ihr Geschwätz unsterblich machen, so wie sie auch niemand die Unsterblichkeit nehmen werden, dem sie vom Apoll bestimmt ist.“

Ambivalente Rezeption Beethovens

Selbstbewusste Worte. Anders als Haydn und Mozart, die quasi im Akkord komponierten, im Bewusstsein, eine leicht verderbliche Ware herzustellen, arbeitet Beethoven wie getrieben an seinem Nachruhm. Dafür ringt er mit seinem musikalischen Material, hadert mit der Welt, geht an seine Grenzen, seelisch wie körperlich. „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes“, schreibt Hegel in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“. Es hätte ein Leitspruch Beethovens sein können. Mit 56 hat er sich zugrunde gerichtet, innerlich zerrüttet, der Alkoholsucht tief ergeben. 

Was er nicht ahnt: Nach seinem Tode steigt er zwar weltweit zu einem der meistgespielten Komponisten auf, dennoch werden auch die kritischen Stimmen lauter. Im Jahre 1913 mäkelt der amerikanische Schriftsteller James Huneker: „Beethovens Musik ist nicht schön. Er ist dramatisch, mächtig, ein Sturmmacher, ein Gewitterbändiger; aber seine Sprache ist die eines ichbezogenen Egoisten.“ Hunekers Resümee: Beethoven sei „der Vater aller Größenwahnsinnigen“. Derartige Ressentiments sind typisch für die ambivalente Rezeptionsgeschichte Beethovens, die zugleich eine Geschichte beispielloser politischer Instrumentalisierung ist – nicht zuletzt im Dritten Reich.

Wissen wir wirklich alles über ihn?

So bleiben auch zum 250. Geburtstag viele Fragen offen: Wer war der Mann, der nicht multiplizieren konnte, aber Liebesbriefe im Werther-Tonfall verfasste? Wie kann es sein, dass er sich mit dem Hinduismus und der Überwindung jeglicher Leidenschaften beschäftigte, seine Köchin aber schon mal mit faulen Eiern bewarf? Kaum jemand spricht heute über Beethovens derbe Scherze, sein notorisches Querulantentum oder über die delirierende Verzweiflung seiner Tagebücher. Er steht auf einem Sockel. Das hat er nicht verdient. So wenig wie das höfliche Desinteresse an einem sogenannten Klassiker, über den man alles zu wissen glaubt. 

Wenige Komponisten haben derartig heftig die Fantasie entzündet, zur Legendenbildung eingeladen, begeistert und befremdet wie Beethoven. Jetzt ist ein guter Anlass, ihn neu zu entdecken, getreu seiner brieflichen Abschiedsfloskel: „Ludwig van Beethoven, den Sie, wenn Sie auch wollten, doch nicht vergessen sollten.“

Diesen Text finden Sie in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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