100. Todestag des „Hauptmann von Köpenick“ - Verbrecher und Genie

Am 3. Januar vor 100 Jahren starb Wilhelm Voigt, besser bekannt als „Der Hauptmann von Köpenick“. Die Geschichte um den ostelbischen Hochstapler ist legendär, selbst Kaiser Wilhelm II. schaltete sich in den Fall des falschen Hauptmanns ein.

Harald Juhnke als „Hauptmann von Köpenick" / dpa
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Autoreninfo

Jonas Klimm studierte Interdisziplinäre Europastudien in Augsburg und absolvierte ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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„50-60 Jahre alt, 1,75 m groß, schlank, nach vorn gebeugte Kopfhaltung, silbergraues etwa 1 cm langes dichtes Kopfhaar, grauer unter der Nase rötlich-blonder Schnurrbart, krankhaft gelbe Gesichtsfarbe, eingefallene Backen, vorstehende Backenknochen, ziemlich breites Gesicht, tiefliegende Augen, um dieselben bogenförmige Falten, große Ohren“; darüber hinaus auch noch „auffallend hässlich“. Mit dieser wenig charmanten Charakterisierung fahndet die Berliner Polizei im Oktober 1906 nach einem Mann, der durch seine Tat in der Hauptstadt innerhalb kürzester Zeit Kultstatus im ganzen Reich erlangt hatte. Sein Name ist Wilhelm Voigt. Ein ostelbischer Schuhmacher, ein einfacher Mann aus der Provinz, der die Hauptstadtmetropole und den preußischen Militarismus zum Narren hielt. Wilhelm Voigt ist der „Hauptmann von Köpenick“.

Dass Wilhelm Voigt einmal im historischen Gedächtnis verankert und der Gegenstand zahlloser künstlerischer, literarischer und filmischer Bearbeitungen sein würde, war bei dessen Lebensweg nicht vorauszusehen. Aus proletarischen Verhältnissen stammend, fasziniert den kleinen Wilhelm seit frühen Kindertagen alles Militärische. Er lauscht gebannt den Erzählungen der Großväter über die Napoleonischen Befreiungskriege und schwärmt von den preußischen Uniformen. Früh kommt aber auch eine zweite Neigung des jungen Wilhelm zum Tragen, die sich durch sein gesamtes Leben ziehen wird: Mit der Gesetzestreue nimmt er es nicht sehr genau. Als Jugendlicher wird er der „Bettelei“ überführt, das reicht im Preußen der 1860er Jahre aus, um sich für das Militär zu verunmöglichen.

Ein routinierter Delinquent

Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, tut er es schließlich dem gewalttätigen und spielsüchtigen Vater gleich und erlernt das Schuhmacher-Handwerk. Zu diesem Zeitpunkt wäre es für den jungen Voigt noch möglich, ein dem Staat und Gott verpflichtetes integres Dasein zu fristen und lässliche Jugendsünden hinter sich zu lassen, doch ein sittlich-ruhiger Lebenswandel kommt für ihn nicht in Frage. Es zieht ihn schließlich nach Berlin, dort betreibt Voigt Urkundenfälschung im ganz großen Stil, 12 Jahre Zuchthaus sind die Folge. Nach einer Dekade der Kriminalitätsabstinenz bricht er mit einem früheren Mithäftling in der preußischen Provinz in ein Gerichtsgebäude ein, ihr Ziel ist die Gerichtskasse. Beide werden erwischt, Voigt wandert erneut ins Zuchthaus, dieses Mal für stattliche 15 Jahre. Nach Verbüßung der Haftzeit ist Voigt 57 Jahre alt, ein Großteil seines bisherigen Lebens spielte sich hinter verschlossenen Gittern ab.

Die Chancen auf ein geregeltes Leben mit Brotberuf sind da längst vertan, wo Voigt den Neuanfang auch wagt, er wird ausgewiesen. Da holt der routinierte Delinquent einen alten Plan aus der Schublade; es soll sein kriminelles Meisterstück werden. Durch Zeitungs-meldungen hatte er erfahren, dass die Köpenicker Stadtverwaltung einen Tresor anschaffen möchte. Darin sollen zwei Millionen Mark in Wertpapieren aufbewahrt werden. Eine immense Summe, die den gelernten Schuhmacher eine aberwitzige Idee in die Tat umsetzen lässt.

Auf allerhöchste Anweisung des Kaisers"

Es ist der 16. Oktober 1906. Wilhelm Voigt ist lange vor dem Sonnenaufgang auf den Beinen. In Köpenick begutachtet er das Rathaus und die Umgebung. Er trägt eine erratisch zusammengestellte Hauptmannsuniform, die einzelnen Teile hierfür hatte er sich die Tage zuvor an verschiedenen Orten gekauft. Gegen Mittag hält er sich in der Nähe der Militärbadeanstalt Plötzensee auf. Voigt weiß, dass am nahegelegenen Schießstand um 13 Uhr ein Wachwechsel stattfindet. Auf dem Weg dorthin kreuzt er die Wege eines Gefreiten mit zugehörigem Soldatentrupp. Im Brustton der Überzeugung verordnet er: „Die abgelöste Wache hat sofort meinem Befehl zu folgen, um auf Allerhöchste Anweisung des Kaisers eine Verhaftung vorzunehmen.“

Der vorgebliche Hauptmann befiehlt, die folgsamen Soldaten parieren. Gemeinsam setzt sich der Tross in Richtung Köpenick in Bewegung, vereinzelte Zweifel unter den Soldaten an der Echtheit des Hauptmanns wischt Voigt mit einer schauspielerischen Meisterleistung beiseite. Am Köpenicker Rathaus angekommen, befiehlt Voigt seinen Untergebenen die Stellung zu beziehen, niemand dürfe das Gebäude verlassen oder betreten. Bei Nachfragen vorbeiströmender Personen kommt die stramme Replik: „Auf Befehl seiner Majestät ist das Rathaus besetzt.“

Ein spektakulärer Coup

Im Gebäudeinneren dringt Voigt mit anderen Soldaten immer weiter in die Verwaltungs-strukturen Köpenicks vor. Er lässt den Stadtobersekretär in dessen Büro einpferchen und überwachen und erklärt den Köpenicker Bürgermeister Langerhans „im Namen seiner Majestät“ für verhaftet. Anschließend zwingt Voigt den Stadtkämmerer zu einem zügigen Kassenabschluss – mit der Begründung, den Geldbestand überprüfen zu müssen. Rund 4000 Mark legt der Kämmerer schließlich vor. An die zwei Millionen in Wertpapieren kommt er aber nicht ran, zwei Schlüssel wären zur Öffnung des Geldschranks vonnöten – der Kämmerer besitzt nur einen. Voigt akzeptiert und unterzeichnet die ihm vorgelegte Quittung mit „Hauptmann v. Malzahn“.

Während des räuberischen Unterfangens findet Voigt noch die Zeit, eine Kutsche zu ordern, um den Köpenicker Bürgermeister Langerhans samt Gattin zur Neuen Wache in Berlin bringen zu lassen. Voigt selbst geht nach getaner Arbeit zum Bahnhof und fährt seelenruhig zurück nach Berlin – mitsamt dem entwendeten Geld in der Tasche. Seinen Soldaten hatte er zuvor noch befohlen, die Stellung zu halten.

Ohne große Vorbereitung gelingt Voigt ein spektakulärer Coup, auch wenn die „fette Beute“ ausbleibt. Bei der Auswahl des anschließenden Verstecks wäre mehr Mühe jedoch hilfreich gewesen. Bereits nach zehn Tagen kann die Kriminalpolizei den falschen Hauptmann ausfindig machen und festnehmen.

Militärischer Untertanengiest

Voigts Tat schlägt sofort hohe Wellen. Kaiser Wilhelm II. erfährt noch am selben Tag von den Ereignissen aus Köpenick. Er erfreut sich zunächst an der Impertinenz des unbekannten Räubers, vor allem, dass sich dieser bei seiner Operation auf den Kaiser berief. Balsam für die von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Kaiser-Seele. Voigt sei ein „genialer Kerl“, so Wilhelm. Freilich, später weicht beim Kaiser die Respektsbekundung der Wut über die Konsequenzen von Voigts Tat. Hatte dieser schauspielerisch talentierte Schuhmacher doch handstreichartig nachgewiesen, wohin jahrzehntelang indoktrinierter militärischer Untertanengeist führen kann.

Während des Prozesses setzt Voigt mit seinen Anwälten auf eine gewagte Verteidigungsstrategie. Weil er immer wieder ausgewiesen worden sei (das entspricht der historischen Realität), sei seine Existenzsicherung nur noch im Ausland gewährleistet gewesen. Hierfür habe Voigt dringend einen Pass benötigt, der ihm aber stets verweigert worden sei. Deshalb, so die Begründung, erhoffte er sich im Köpenicker Rathaus ein Passformular aneignen zu können. Auf das Geld hätte er es bei seiner Aktion nie abgesehen gehabt, das sei mehr ein spontaner Einfall gewesen. Eine schöne Geschichte. Dumm nur, dass im Köpenicker Rathaus keine Pässe ausgestellt wurden. Somit schlägt die Taktik fehl, nach einem kurzen Prozess wird Voigt zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Gericht anerkennt aber, dass sich Voigt durch die ständigen Ausweisungen in einer durchaus misslichen Lage befand, daher rührt das eher milde Urteil.

Vorzeitige Haftentlassung

Vonseiten der sozialdemokratischen und liberalen Presse gibt es wenig Verständnis für das Urteil. Sie prangern die Ausweisungspraxis im Deutschen Reich an. Die Berliner Morgenpost schreibt über Voigt: „Er ist ein Verbrecher, aber er ist auch ein Genie, und man hat auch das Gefühl, daß irgend etwas in unserer Rechtspflege faul sein muß, wenn der Lebensweg eines solchen Menschen durch das Zuchthause vom Anfang bis zu seinem Ende hindurchgeht.“ Auch aus der Bevölkerung erfährt der Inhaftierte eine Welle an Solidaritätsbekundungen. Der Fall des falschen Hauptmanns wird zum Politikum, selbst der Reichstag beschäftigt sich nun mit den polizeilichen Ausweisungen.

Voigt hat Glück. Aufgrund des öffentlichen Drucks wird er – wohl auf Weisung des Kaisers – nach nicht einmal zwei Jahren Haft vorzeitig entlassen. Die folgenden Jahre nutzt er seine große Popularität und vermarktet sich und seine Geschichte geschickt. Dadurch büßt er allen voran in linken Kreisen an Sympathien ein, finanziell hat der über die Landesgrenzen bekannte Hochstapler da aber längst ausgesorgt. Nach Reisen in die USA und nach Frankreich verstirbt er am 3. Januar 1922 im Alter von 72 Jahren. Nicht einmal zehn Jahre nach seinem Tod sollte ihn Carl Zuckmayer mit seinem Drama „Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten“ endgültig zur Legende machen. Aber das ist eine andere Geschichte …

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