100. Geburtstag von Françoise Gilot - Die Gefährtin des Heiligen Monsters

Françoise Gilot ist die einzige Frau, die Pablo Picasso den Laufpass gegeben hat – und macht keinen Hehl daraus, stolz darauf zu sein. Nun wird sie 100 Jahre alt. Die Journalistin Janet Hawley traf die Malerin vor 10 Jahren anlässlich ihres 90. Geburtstags. Lesen Sie hier ihr Porträt aus der „Cicero“-Ausgabe vom November 2011.

Francoise Gilot im Jahr 2003 in den Kunstsammlungen Chemnitz / dpa
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Janet Hawley zählt zu den bekanntesten Journalistinnen Australiens. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet.

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„Ich bin die einzige Frau, die ­Picasso verlassen hat, die einzige, die sich für das heilige Monster nicht aufgeopfert hat“, erklärt Françoise Gilot mit einem aufsässig-frechen Lächeln. „Ich bin die einzige, die noch am Leben ist und die Geschichte erzählen kann!“

Françoise Gilot, jene gertenschlanke Schönheit, die mit 24 von Picasso als „La Femme-Fleur“ verewigt wurde und zwischen 1943 und 1953 ein leidenschaftliches Jahrzehnt mit ihm verbrachte, ist inzwischen fast 90 Jahre alt. Sie sitzt in ihrer eleganten New Yorker Wohnung unweit des Central Park auf einem Louis-XV-Sessel und strahlt trotz ihrer zierlichen Gestalt Stärke aus. Ihre Fingernägel sind in einem leuchtenden Pink lackiert. 21 war sie, als sie sich in Paris trafen. Sie, eine Jurastudentin, Picasso, 61, der glühende Spanier und der berühmteste und reichste Künstler der Welt. Gilot gebar ihm zwei bemerkenswerte Kinder, Claude und Paloma Picasso. „Es war herrlich, mit ihm zusammen zu sein – wie ein Feuerwerk“, erinnert sie sich. „War er in Verführungslaune, tanzten sogar die Steine nach seiner Melodie. Aber er war auch grausam, sadistisch und unbarmherzig, anderen und sich selbst gegenüber. Pablo hielt sich für Gott, aber er war es nicht und das ärgerte ihn.“

Picasso-Legende lässt sich nicht abschütteln

In Gilots Wohnung hängen vor allem ihre eigenen farbenfrohen abstrakten Gemälde. „Ich habe überhaupt nur einen Picasso besessen, ‚La Femme-Fleur‘, aber ich habe das Bild vor Jahren verkauft, ich hatte das Gefühl, es würde mir Unglück bringen.“ Gilot legte auch nie Wert darauf, von ihm gemalt zu werden. „Nach den Fernande-, Eva-, Olga-, Marie-Thérèse- und Dora-Maar-Perioden wollte ich nicht als ‚Gilot-Periode‘ enden“, sagt sie. „Ich wusste, dass Picasso eine Frau nach der anderen erledigte, indem er sie porträtierte.“ Und in der Tat malte der Künstler schonungslose Porträts, sobald eine Frau in Ungnade fiel: Olga beispielsweise, mit Zähnen wie Rasierklingen, einer Vagina wie ein Sägeblatt und entstelltem Körper, während im Hintergrund das üppige Bild ihrer 17-jährigen Nachfolgerin Marie-Thérèse schwebt.

Doch einmal Teil der Picasso-Legende, lässt diese sich nicht mehr abschütteln, und Gilot scheint auch heute noch ein gewisses Vergnügen daran zu finden, ihre Jahre mit Picasso wie ein Historienspiel zu analysieren und auch die Paradoxien des Genies unter die Lupe zu nehmen. „Meine Beziehung zu Picasso war eine Kriegsromanze“, erinnert sie sich, „extreme Umstände brachten uns einander näher. Paris war von den Deutschen besetzt. Für meine Generation war Picasso ein Held: Er hatte Guernica gemalt und war ein Symbol für den Widerstand gegen den Faschismus und das Franco-Regime. Es war sehr mutig von ihm, in Paris zu bleiben, anstatt nach Amerika zu fliehen. Jeden Tag hätte er verhaftet werden können. Mehrere meiner Verwandten waren ermordet worden, auch ich lebte riskant. Die Deutschen hassten Jurastudenten, und so wechselte ich zu meiner wahren Leidenschaft, der Kunst. Ich kannte Picassos Ruf, was Frauen anging, und wusste, mit ihm zusammenzuziehen, könnte desaströs werden – aber ich beschloss, auf dieses Desaster nicht verzichten zu wollen.Wir alle konnten am nächsten Tag tot sein, das nahm mir die Angst.“

„Pablo jammerte, das Leben sei unerträglich“

Schon bald pflegte sie Umgang mit Picassos Freundeskreis aus Künstlern und Schriftstellern: Braque, Léger, Miró, Giacometti, Cocteau, Colette, Gertrude Stein und Alice B. Toklas, der Dichter Paul Éluard. Und wie er es auch mit seinen anderen Frauen getan hatte, bat Picasso Gilot, die Werke des Marquis de Sade zu lesen. Doch sie lehnte rundheraus ab. „Viele sehr feminine Frauen haben eine masochistische Seite“, sagt sie, „so gesehen waren meine Vorgängerinnen perfekt für ihn. Aber ich war weder Sadistin noch Masochistin, ich habe das Spiel einfach nicht mitgespielt.“

Lächelnd erinnert sie sich auch daran, wie Picasso sie in ihren langen, lebhaften Gesprächen oft fragte, warum sie ihm immer widersprechen müsse. „‚Weil wir einen Dialog führen‘, erwiderte ich damals. ‚Jeder sagt ständig Ja zu dir, als wärest du ein König, von mir bekommst du deswegen ein Nein.‘ Das gefiel ihm, glaube ich. Er fühlte sich eigentlich immer einsam, niemand verstand ihn; und ich glaubte, ihm helfen zu können.“

Aber wie sah ihr Alltag mit dem heiligen Monster aus? Jeden Morgen, spät, gegen zehn Uhr, stand Picasso in Pessimismus gehüllt auf. „Pablo jammerte, das Leben sei unerträglich, weshalb solle er überhaupt aufstehen, es sei ja zwecklos, irgendetwas zu malen oder es auch nur zu versuchen“, erzählt Gilot. „Und ich redete ihm gut zu, es sei ja alles nicht so schlimm, er würde heute etwas Wunderbares malen. Freunde kamen vorbei, Pablo gewann die eine oder andere Auseinandersetzung, lud seine Batterien wieder auf, wurde wieder zum König. Gegen ein Uhr mittags machte er sich schließlich gut gelaunt in seinem Studio an die Arbeit.“

Picasso arbeitete bis zehn Uhr – in vollkommener Stille, ohne Musik, ohne Assistenten –, bis zum Abendessen. Er rauchte 40 Zigaretten am Tag, trank aber nie. Manchmal arbeitete er weiter und ging gegen zwei Uhr ins Bett. Am nächsten Morgen ging alles wieder von vorn los. Während ihre Haushälterin einen leichten Lunch serviert, beginnt Gilot, auch von Picassos anderen Frauen zu erzählen. „Er war wie Blaubart, wenn Sie wissen, was ich meine. Seine sieben hingen da alle als Bilder an den Wänden, und ich hatte Angst, dass mir irgendwann das Gleiche passieren würde.“ Gilot kannte weder Picassos erste langjährige Partnerin, Fernande Olivier, Künstlerin und Modell, die zwischen 1904 und 1912 mit Picasso zusammenlebte, noch deren Nachfolgerin Eva Gouel, die 1915 an Tuberkulose starb. Aber sie kannte alle anderen. „Er hat sie alle ständig angelogen“, erinnert sie sich, „damit sie weiterhin um ihn kreisen würden.“

Picassos Zuneigung ließ rasch nach

1918 heiratete der Maler die russische Ballerina Olga Chochlowa, und sie blieben zehn konfliktreiche Jahre zusammen. Schon bald verabscheute Picasso Olgas zwanghaftes Streben nach sozialem Aufstieg und ihre zunehmenden Neurosen; da Scheidung in Spanien immer noch illegal war, konnte er sich nicht offiziell von ihr trennen. Olga verfolgte ihn, bis sie 1955, vermutlich geistig umnachtet, starb. Paulo, der 1921 geborene Sohn von Picasso und Olga, starb mit 54 Jahren als vereinsamter Alkoholiker.

„Paulo kannte ich gut, wir waren gleich alt. Er war ein netter junger Mann, dem das schwierige Leben unter seinen Eltern zusetzte“, sagt Gilot. „Picasso wollte nicht, dass aus seinem Sohn etwas wurde. Er behandelte ihn von oben herab, machte ihn zu seinem Chauffeur.“

1927 lernte er Marie-Thérèse kennen. „Sie war Pablos körperlich intensivste Affäre“, glaubt Gilot. „Seine Bilder von ihr sind ausgesprochen gefühlvoll, lyrisch und zart, in blassen, ozeanischen Farben. Sie war mir sympathisch. Sie war so unschuldig – nicht sonderlich schlau; passiv, freundlich und schön. Sie betete ihn an.“

Doch Picassos Zuneigung ließ rasch nach, und 1936 fiel ihm in einem Café die surrealistische Fotografin Dora Maar auf, die sich mit einem Messer zwischen die Finger stach und blutete. Picasso fühlte sich von Doras wilder, frivoler Erscheinung angezogen. „Dora war die intelligenteste seiner Frauen“, sagt Gilot, „und trotzdem konnte sie ihn nicht durchschauen und ließ sich auf seine sadistischen Spielchen ein. Sie hatte psychische Probleme, und 1943 beschloss Picasso, sie für verrückt zu halten.“ Dora Maar fotografierte Guernica, während Picasso daran malte, und bekam die Wut und das Entsetzen des Künstlers in voller Wucht zu spüren. Ein großer Teil seines Zorns ging in sein legendäres Gemälde „Die weinende Frau“ ein, das sie zeigte.

Seine Vorstellung von Liebe war besitzergreifend

Dass jemand wie Picasso nicht treu sein konnte, war selbst für die junge Françoise keine besonders große Überraschung. „Ach, welchen Unterschied machte es schon, dass er ab und zu noch einmal mit Marie-Thérèse ins Bett ging? Seit 1927 hatte er das gemacht, und wir schrieben die fünfziger Jahre! Meine Beziehung zu Pablo war vollkommen anders. Ich war nicht eifersüchtig. Ich wusste, dass Picasso so etwas wie ein großer Fluss war, der Skelette und Schutt mit sich führte. Er brauchte viel Sex, das war ein Teil von ihm.“

Claude und Paloma wurden 1947 und 1949 geboren. Gilot dachte, Picasso besser einschätzen zu können als seine bisherigen Frauen, aber natürlich irrte sie sich. Picasso wurde zunehmend ungerecht und hart. „Er machte, wonach auch immer ihm gerade war, und dachte keinen Moment lang an die Konsequenzen.“ Gilot machte sich plötzlich Sorgen, welche Auswirkungen sein Verhalten auf ihre Kinder haben würde. Picasso hatte sich ihr gegenüber immer damit gebrüstet, es mache ihm Spaß, die Menschen, die ihn liebten, leiden zu lassen. Aber erst Jahre später erkannte sie, dass sie sich zwar für Picasso aufopferte, er aber „mich überhaupt nicht kannte“. Als Picasso um sie warb, war sie von ihm so eingenommen gewesen, „dass es Augenblicke gab, in denen es mir beinahe physisch unmöglich schien, ohne seine Anwesenheit auch nur zu atmen.“ Jetzt sehnte sie sich nach Menschenwärme und wusste, die würde sie von Picasso niemals bekommen.

„Picassos Vorstellung von Liebe war vor allem körperlich und besitzergreifend, er gab nichts. Gleichzeitig geriet man in seiner Gegenwart, wenn man ihm beim Denken zuhörte oder beim Malen zusah, so sehr ins Staunen, als wäre man Zeuge eines Wunders. Das war es, was er zu geben hatte. Wusste man das zu schätzen, war es das, was man bekam.“

Keine Frau hatte Picasso jemals verlassen, und er schäumte vor Ungläubigkeit, als Gilot den sechsjährigen Claude und die vierjährige Paloma mit nach Paris nahm, in eine Wohnung, die sie vom Erbe ihrer Großmutter gekauft hatte. „Ich hatte Geld und eine eigene Karriere, eine Familie und einen Freundeskreis, der mir half, mein Leben neu aufzubauen“, erinnert sie sich. Als sie ihn 1953 verließ und die Kinder mitnahm, hatte Picasso sie gewarnt: „Niemand verlässt einen Mann wie mich.“ Und in der Tat sollten Gilot und ihre Kinder einen hohen Preis zahlen.

Trauerfeier in der Provence

1964 veröffentlichte Gilot ein so luzides wie indiskretes Erinnerungsbuch über ihren ehemaligen Partner. „Leben mit Picasso“ erregte den Maler dermaßen, dass er als Strafe jeglichen Kontakt zu Gilot, Claude und Paloma abbrach und bis zu seinem Tod im Jahr 1973 nicht mehr mit ihnen redete. Das niedergeschlagene Genie suchte sich bald eine bereitwillige neue Frau, die Töpfereiassistentin Jacqueline Roque, 27, und heiratete sie, nachdem Olga gestorben war.

Claude Picasso, der in der Nähe seiner Mutter wohnt, in einem ultramodernen New Yorker Apartment voller Gemälde seines Vaters und einem Matisse, erzählt die Geschichte am nächsten Tag weiter. Wie sein Vater ist er klein und gedrungen, auch dessen quadratischen Kiefer und seine tiefliegenden schwarzen Augen hat er geerbt.

Als Picasso starb, fand die Trauerfeier hinter den hohen Mauern seines Châteaus statt, in Vauvenargues in der Provence, wo er auch begraben ist. Jacqueline verweigerte ihm und seiner Schwester Paloma, dem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Claude erinnert sich: „Erst schneite, dann regnete es. Paloma und ich standen drei Tage lang draußen vor dem Schloss und warteten darauf, ins Haus gelassen zu werden. Aber Jacqueline hatte Anweisung gegeben, uns nicht hineinzulassen.“ Auch Pablito, Paulo Picassos Sohn, wurde der Zutritt verwehrt. Er ging nach Hause und schluckte eine Flasche Bleichmittel, drei Monate später starb er einen elenden, sich lange hinziehenden Tod. Einige Jahre später nahmen sich Jacqueline und Marie-Thérèse das Leben, beide außerstande, ohne Picasso zu existieren.

„Eine öffentliche Gottheit“

Claude ist heute Leiter der Picasso-Verwaltung in Paris, die sich um Copyrightfragen und andere juristische Belange kümmert. Er ist ein wandelndes Register des Werkes seines Vaters. Er weiß, wie kompliziert das emotionale Szenario ist, wenn ein verschmähter Sohn über die Kunst seines Vaters wacht. Aber: „Das Leben lehrt dich Vergebung und legt dir Verantwortung in die Hände“, sagt er sanft.

Von seiner Mutter wäre ein Satz in solcher Klarheit nicht zu erwarten. Auch wenn sie es ungerne zugibt, Picasso ist immer noch, auch nach so langer Zeit, ein schwieriges Thema für sie. „Er ist eine öffentliche Gottheit“, sagt sie, „und ich will nicht den Anschein erwecken, ich würde ihn kritisieren. Ich bereue keinen einzigen Augenblick der Zeit, die ich mit ihm verbracht habe. Seine Kunst ist brillant, aber der Mann hatte seine Fehler, und ich war nur aufrichtig.“

Zweimal war Françoise Gilot nach ihrer Dekade mit Pablo Picasso verheiratet, mit Männern, die ihrem eigenen Alter näher waren. Die Ehe mit dem französischen Künstler Luc Simon dauerte von 1955 bis 1962; ihre gemeinsame Tochter Aurelia ist Architektin. 1970 heiratete Gilot einen anderen „Löwen“, Jonas Salk, den amerikanischen Pionier der Polio-Impfung. Voller Zuneigung spricht sie von den 25 Jahren, die sie bis zu seinem Tod 1995 zusammen hatten. Mit einem triumphierenden Funkeln in ihren Augen schlussfolgert sie: „Pablo sagte, mein Leben sei am Ende, wenn ich ihn verließe, für mich würde es außer ihm nie einen anderen geben. Aber ich habe zweimal geheiratet. Ein Sakrileg. Hätte ich ihm wie seine anderen Frauen den Rest meines Lebens geopfert, wäre sein Leben zur perfekten Blaubartgeschichte geworden. Aber ich habe sie ruiniert!“

Übersetzung: Beatrice Faßbender

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