Dating-App Tinder wird 10 Jahre alt - „Eine profitorientierte Geldmaschine“

Mit einem Wisch die große Liebe oder zumindest den schnellen Spaß finden – genau das verspricht die weltweit erfolgreiche Dating-Plattform Tinder. Für das Liebesleben junger Menschen ist die App seit mittlerweile zehn Jahren kaum mehr aus dem Alltag wegzudenken. Mit der Soziologin Kornelia Hahn haben wir daher über das Geheimnis ihres schnellen Erfolgs und die Zukunft des Liebesleben junger Menschen gesprochen.

Mittlerweile ein fester Bestandteil auf den Smartphones junger Menschen / picture alliance
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Prof. Dr. Kornelia Hahn ist Leiterin der Abteilung Soziologie an der Paris-Lodron-Universität in Salzburg. In ihrer Forschung hat sie sich intensiv mit dem sozialen Phänomen der intimen Beziehungen und der Liebe auseinandergesetzt.

Frau Hahn, wie würden Sie älteren Menschen Tinder erklären, die aus einer ganz anderen Generation stammen?

Tinder ist ein technologischer und einfacher Weg, um mittels einer App Kontakte aufzunehmen. Ich erkläre es bewusst auf diese simple Weise, weil es in der Geschichte der Menschheit immer schon unterschiedlichste Wege gab, neue Menschen kennenzulernen.

Kann Tinder als Revolution für das Liebes- und Sexleben junger Menschen in unserer Gesellschaft betrachtet werden?

Tinder verspricht, dass sich fremde Menschen auf eine überraschende Art kennen und lieben lernen. Und diese Vorstellung geht historisch auf das Konzept der Romantik zurück, insofern greift Tinder das Konzept der Romantik mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts auf. Damit steht Tinder zwar in einer langen Tradition, aber zeigt sich gegenüber traditionellen Vermittlungsmöglichkeiten  überlegen. Daher ist es eindeutig eine Evolution, aber keine Revolution.

Warum konnte denn Tinder überhaupt so schnell zu einem global erfolgreichen Produkt werden?

Aus demselben Grund. Ohne die Anziehung des kulturellen Konzepts der Romantik hätte Tinder mit dieser Idee niemals so einen gigantischen Erfolg gehabt. Das Glücksversprechen der App lautet: Finde die eine Liebe, die dein Leben restlos glücklich macht. Gerade das Geheimnisvolle des digitalen Kennenlernens macht den eigentlichen Reiz der App aus. Ein Leitmotiv, das unsere kulturelle Vorstellung der Romantik stark prägt.

Sie selbst sind in den 1980er Jahren als junger Mensch sozialisiert worden. Wie haben sich damals Menschen im Unterschied zu heute Menschen kennengelernt?

Prof. Dr. Kornelia Hahn / Hahn

Was heute Tinder ist, waren zu meiner Zeit Annoncen. Der Kreis der Personen war jedoch erheblich kleiner. Im Gegensatz zu heute haben wir darauf gewartet, dass wir zufällig einen interessanten Menschen kennengelernt haben. Ja, und ich sage jetzt ganz bewusst zufällig, da die Zusammentreffen über Tinder natürlich alles andere als Zufälle sind. Der Algorithmus raubt dem Kennenlernen das Moment der Zufälligkeit, das geschieht jedoch unmerklich. Auch ein wichtiger Unterschied: In Zeiten von Tinder müssen sich die jungen Menschen gar nicht mehr im physischen Raum begegnen. Oftmals nutzen Sie die Distanz sogar als willkommenen Schutzraum, um erste Informationen über das Gegenüber zu erfahren.

Also kann man sagen, dass Tinder eigentlich eine intelligentere und technologisch weiterentwickelte Version der Annonce ist.

Die Künstliche Intelligenz, die den Mechanismus der App bestimmt, ist auf jeden Fall ausgereifter. Bei den damaligen Annoncen gab es keinen Algorithmus, sondern eine einfache Nummer. Doch schon seit Jahrhunderten gibt es ähnliche soziale Plattformen wie Tinder, die auf die Vermittlung von Kontakten spezialisiert sind. Bereits im 19. Jahrhundert gab es für den Hochzeitsmarkt ganze Zeitschriften, die das große Glück versprachen.

Auf Tinder treffen die Nutzer vor allem aufgrund der Attraktivität der hochgeladenen Bilder ihre Entscheidung. Fördert die App damit nicht einen oberflächlichen Schönheitskult?

Nicht erst seitdem es Tinder gibt, werden jungen Menschen Schönheitsnormen aufgezwungen. Mit dieser gesellschaftlichen Erfahrung werden Menschen schon seit Jahrhunderten konfrontiert. Schauen sie auf die jungen Frauen im 19. Jahrhundert, die sich in der Ballsaison unter großen Schmerzen in enge Korsetts zwängen mussten. Die Frauen mussten sich unterwerfen, weil dies damals der gängigen Erwartungshaltung entsprach. Auch auf Tinder lassen sich soziale Normen feststellen, die unter jungen Menschen gleichzeitig Möglichkeiten und Sackgassen erzeugen.

Die weltbekannte Soziologin Eva Illouz analysiert in ihren Werken, dass der Marktmechanismus des Kapitalismus längst auch vor den Dating-Plattformen keinen Halt macht. Menschen bieten sich als Produkt an. Ist Tinder daher nicht auch ein typisches Kind unserer Zeit?

Meine Kapitalismuskritik setzt woanders an: Tinder ist eine profitorientierte Geldmaschine mit einer zahlenden Kundschaft. Dabei funktioniert das Modell der Dating-Plattform wie ein großer Supermarkt: Es gibt einen Self-Service. Die Kunden bezahlen die App, obwohl sie ihre Produkte selbst aus den Regalen holen müssen. Ihnen wird die technologische Plattform zwar bereitgestellt, doch bedienen müssen die jungen Menschen sich selbst. Die App reizt zu Beginn mit einem großen Heilsversprechen, doch dann werden die Jugendlichen allein gelassen.

Gibt es nicht auch junge Menschen, die damit überfordert sind und verzweifeln?

Ja, klar gibt es das. Doch das psychologische Glücksversprechen von Tinder ist so verlockend, dass sich Jugendliche ihm kaum entziehen können. Ähnlich einem Waschmittel, das in Werbungen durch großartige Bilder und Versprechen angepriesen wird. Allerdings müssen junge Menschen gar nicht erst verführt werden, da sie die App bereitwillig herunterladen. Sie machen mit, weil sie im Prinzip gar keine andere Chance haben als teilzunehmen. Welche andere Möglichkeit haben sie in dieser Generation denn auch? An Tinder führt kein Weg vorbei.

Eva Illouz ist auch der Ansicht, dass unser Beziehungs- und Liebesleben immer stärker von der Ökonomisierung der Gesellschaft durchdrungen wird. Anders ausgedrückt: Die Menschen versuchen einen immer besseren Fang auf der Partnerbörse zu landen. Stimmen sie dem zu?

In Illouz´ Kritik schwingt häufig die diffuse Vorstellung einer ursprünglichen, reinen Liebe mit, die schließlich mit dem Kapitalismus begraben wurde. Doch das entspricht meiner Einschätzung nach nicht den historischen Tatsachen und ist Schwarzweißmalerei. Ökonomische und soziale Zwänge einer sich anbahnenden Partnerschaft gab es auch bereits vor dem modernen Kapitalismus. Denken sie an den Hochzeitsmarkt im 18. Jahrhundert: Männer und Frauen versuchten sich in standesgerechte Familien einzuheiraten. Beide Geschlechter mussten auch das Zeitfenster beachten, sonst drohte die gesellschaftliche Abwertung.

Glauben Sie, dass Jugendliche eines Tages verlernen werden, neue Menschen über den traditionellen Weg im einem Café oder Sportverein kennen zu lernen?

Die jungen Generationen gewöhnen sich an Tinder, da es zu einem selbstverständlichen Werkzeug ihres Liebeslebens wird. Digitale Informationen über ihr mögliches Date suggerieren den jungen Nutzern der App eine Kontrollierbarkeit der sozialen Situation. Umgekehrt werden junge Menschen beim persönlichen Kennenlernen immer unsicherer, da sie die digitale Distanz gewohnt sind. Ja, daher es ist nicht unwahrscheinlich, dass das traditionelle Kennenlernen auf einem Konzert oder in der U-Bahn schon bald die große Ausnahme sein wird.

Das Gespräch führte Clemens Traub. 

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