Situation in Kiew - Ein dumpfes Wummern in der Ferne

Über die letzten Tage drängen die Ukrainer die Russen an mehreren Stellen der Front bei Kiew zurück. Zu Beschüssen der nördlichen Innenstadt kommt es nur noch vereinzelt. Nach einem Monat Krieg kehrt in der ukrainischen Hauptstadt damit auch langsam wieder Normalität ein. Kriegsnormalität.

Der Unabhängigkeitsplatz in Kiew am Donnerstag, dahinter liegt der Präsidentenpalast / Moritz Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Sehr langsam rollt der Zug aus Richtung Lemberg gegen zehn Uhr am Mittwochabend in den Kiewer Hauptbahnhof ein. Kurz vor der Einfahrt ins Stadtgebiet wurden alle Lichter ausgeschaltet. Angespannt schauen die Menschen im Waggon durch die Zugfenster. Viele von ihnen waren seit Wochen nicht hier: Was hat der Krieg mit ihrer Stadt gemacht?

Darunter ist Emil, ein 32-jähriger Bauer aus dem Gebiet Schytomyr westlich von Kiew. Er hat die letzten Wochen mit seinen Eltern in Lemberg verbracht, jetzt kehrt er vorübergehend zurück. Säen will er in diesem Jahr nichts, denn 30 Kilometer nördlich seiner Felder wird gekämpft. Was, wenn irgendwann Panzer über seine Felder rollen? Arbeitskräfte gäbe es zwar, erzählt er, aber Diesel sei jetzt sehr teuer. Auch Düngemittel, die früher aus Belarus kamen, seien inzwischen unerschwinglich.

Emil hat seine 60 Hektar deshalb dem Nachbarn übergeben. Ein Großbauer, der schon im letzten Herbst Saatgut und Dünger gekauft hat und auf jeden Fall säen will. „Aber was, wenn der Krieg andauert und die Häfen im Herbst blockiert sind? Dann können wir das Getreide gar nicht verkaufen“, sagt er. „Niemand hat Vertrauen in den morgigen Tag.“

In einem ganz normalen Land

Auf der über zehnstündigen Zugfahrt mit Emil, Witalij und Andrej hatten sich die Gespräche immer wieder um den Krieg gedreht: Warum die Nato keine Flugverbotszone einrichten will? Ob Olaf Scholz von den Russen gekauft sei? Wie viele russische Soldaten die Ukrainer schon getötet haben und warum die Ukrainer eigentlich nicht zu besiegen seien? Auch gegenüber Präsident Selenskyj gibt es immer wieder kritische Töne: Warum, lautet eine der zentralen Fragen, wurde zu Beginn des Kriegs die Zufahrt in die Ukraine von der Krim nicht besser verteidigt? 

Irgendwann drehten sich die Gespräche aber. In die Richtung, dass sich all diese Menschen nichts sehnlicher wünschen, als in einem ganz normalen Land zu leben, in dem der Familie keine Gefahr durch Bomben und Granaten drohen, in dem man nicht darüber nachdenken muss, in welchem anderen Land man bald ein neues Leben beginnen wird. Als es schon langsam dunkelt, sagt Witalij, der lautstark über Stunden die Kampfkraft der Ukrainer beschworen hat, sehr nachdenklich: „Wir fahren und fahren, als wäre das alles nur im Schlaf. All diese Männer … hier jetzt ohne ihre Familien.“

Kontrolle am Kiewer Bahnhof / Moritz Gathmann

Nun rollt der Zug ein in den Bahnhof, und er ist genau so dunkel wie die Stadt: In einem großen Wohnhaus an der Bahnlinie mit weit über 100 Fenstern sind weniger als zehn Fenster beleuchtet. Das heißt nicht, dass nur noch so wenige Menschen dort wohnen: Viele löschen abends das Licht, um nicht als Ziel für Raketenangriffe sichtbar zu sein. Es ist keine wirklich sinnvolle Maßnahme, aber Menschen in Angst tun viele irrationale Dinge.

Die einzigen Lichtquellen am Kiewer Bahnhof sind die Taschenlampen der Soldaten, die am Bahnsteig leuchten. Die ankommenden Menschen werfen in den Lichtkegeln überdimensionale Schatten am Zug. Es gibt hier niemanden, der die Ankommenden freudig empfängt, gesprochen wird leise und nur das Nötigste. An den Ausgängen des Bahnsteigs überprüfen Soldaten mit umgehängten Kalaschnikows die Taschen und Pässe der Ankommenden: Die Angst vor Spionen und Saboteuren, die in die Stadt eindringen, ist noch immer groß. Gerade erst am Morgen ist eine zweitägige komplette Ausgangssperre zu Ende gegangen. Die Zeit wird nach Angaben der Militärverwaltung dazu genutzt, um Saboteure festzunehmen. Angeblich sollen allein am 21. März 149 dieser „Diversanten“, wie sie auf Russisch und Ukrainisch genannt werden, gefasst worden sein.

Im Bahnhof selbst ist die Lage ruhig: Die panischen ersten Wochen des Kriegs, als Kiewer und Menschen aus der östlichen Ukraine hier übernachteten, um es in einen der „Evakuierungszüge“ zu schaffen, sind vorbei. Soldaten, Polizisten und Mitglieder der Zivilverteidigung patrouillieren im Bahnhof. Eigentlich darf nach 20 Uhr niemand mehr in die Stadt – bis um 7 Uhr morgens gilt Ausgangssperre.

Aber zwei Soldaten erklären sich bereit, mich und zwei Ukrainer in ihrem Jeep in unsere Quartiere zu bringen. Wenig später brausen wir durch das nächtliche, menschenleere Kiew. Die einzigen Menschen auf den Straßen sind die Soldaten an den Straßenbarrikaden aus Betonblöcken und Panzersperren, die unsere Pässe überprüfen. Aus den Lautsprechern dröhnt Queens „The show must go on“.

Wir steigen aus, um eine Zigarette zu rauchen. Aus der Ferne, aus den Vororten in nordwestlicher und nördlicher Richtung, hört man das Donnern der Kanonen. Und dazwischen aus einem der wenigen erleuchteten Fenster: eine Melodie. Jemand spielt dort Klavier, um nicht verrückt zu werden. Angesichts der Horror-Nachrichten, die über den Fernseher und die Handys minütlich hineingespielt werden: aus der eingeschlossenen Stadt Mariupol, aus den umkämpften Vororten außerhalb von Kiew, aus Charkiw.

Immer wieder die Sirenen des Bombenalarms

Die ukrainische Hauptstadt hat standgehalten, von einer zu Anfang befürchteten Umzingelung durch russische Truppen kann nicht die Rede sein: Über die letzten Tage drängen die Ukrainer die Russen an mehreren Stellen der Front bei Kiew zurück. Zu Beschüssen der nördlichen Innenstadt kommt es nur noch vereinzelt. Und so holen sich die Kiewer langsam ihr Leben zurück.

Teile der Metro fahren wieder, das linke und rechte Dnjepr-Ufer ist jetzt zumindest wieder mit einigen Zügen verbunden. Auch die Staus auf den zwei befahrbaren Brücken sind wieder erträglich, weil die Soldaten an den Zufahrten nur noch vereinzelt kontrollieren. Friseursalons, auch Restaurants öffnen wieder. Das Leben wirkt an manchen Orten fast wieder normal – wäre da nicht die akustische Untermalung: Immer wieder die Sirenen des Bombenalarms, und das dumpfe Wummern der Einschläge in der Ferne.

Auf einem zu Friedenszeiten in der Kiewer Künstlerszene beliebten Innenhof, wenige Minuten vom Präsidentenpalast und dem Unabhängigkeitsplatz entfernt, spielen am Donnerstagnachmittag junge Männer Tischtennis, andere sitzen vor dem Café „Kaschtan“ mit einem Cappuccino in der Sonne. Seit einigen Tagen hat es wieder geöffnet. Lena Grosovska sitzt auch dort, eine 49-Jährige mit hochgesteckten blonden Haaren, die zusammen mit ihrem Mann Ljonja einen Kunstkeller im Nachbarhaus betreibt.

Das „Partkom“ ist ein historischer Ort: Während der ersten (2004) und zweiten (2014) Maidan-Revolution trafen sich hier Tag und Nacht Künstler und Musiker, um sich vor der Polizei zu verstecken und um ihre Aktionen zu planen. Bis zum 24. Februar gab es hier noch Ausstellungen und Konzerte. Jetzt ist der Keller zum Bombenkeller umfunktioniert, Matratzen und Schlafsäcke liegen dort, „Kellerkommandant“ (wie er sich selber nennt) Sascha kocht gerade eine Suppe. Eine Frau, die vor wenigen Tagen mit ihren Kindern und ihrem riesigen schwarzen Hund aus dem umkämpften Vorort Butscha geflohen ist, wärmt sich auf.

"Luftschutzkellerkommandant" Sascha

Lena Grosovska ist Künstlerin und Musikerin, man kann sich auf Youtube fröhliche Videos ihrer Band „GrasovSka“ anschauen. Aber diese Zeiten scheinen Lichtjahre entfernt. Sie hat sich nach den ersten Tagen des Schocks bei der Armee gemeldet, um zu kämpfen. Genommen wurde sie nicht – nur Ukrainer mit Kampferfahrung, oder zumindest militärischer Ausbildung, werden derzeit gebraucht. Ihre Band GrasovSka ist zerfallen – die einen sind geflohen, die anderen in der Zivilverteidigung. Sie organisiert deshalb Hilfe. Für die Armee, für die Flüchtlinge.

„Ich will keine Musik machen. Und ich kann jetzt auch nicht malen“, sagt sie. Organisatoren einer Ausstellung in Prag baten sie um ein Bild, in dem sie die Erlebnisse des letzten Monats verarbeiten sollte. „Aber alles ist noch lebendig. Die Zeit der Reflexion ist noch nicht gekommen“, sagt sie. Lena hat den Kuratoren vorgeschlagen, einfach eine Luftalarmsirene aufzustellen. „Das reicht, um einen Eindruck dessen zu vermitteln, wie wir hier leben.“ „Wir erleben jetzt einen Moment der Wahrheit“, ist Lena überzeugt. „Wir sehen das Böse in Reinform.“

Wieder eine Ausgangssperre

Ihr Mann Ljonja, auch er Künstler, etwas älter als seine Frau, mit ergrautem Vollbart, spricht von einer Weggabelung, an der sich die Menschheit jetzt befinde: „Hier die Demokratie, dort das autoritäre System. Lange Zeit schienen Übergänge von einem in das andere System möglich. Aber das ist jetzt vorbei: Die beiden Systeme sind aufeinandergeprallt. Und der Ausgang dieses Kriegs wird unsere Zukunft auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, bestimmen.“

Auch Ljonja hat sich bei der Armee gemeldet, eine Ausbildung hat er, allerdings macht ihm sein Bein Probleme, deshalb hat er erstmal eine Absage bekommen. Auch er kann derzeit nicht an Kunst denken, auf seinem Handy scrollt er eine Kriegsmeldung nach der anderen durch. „Ich verspüre nur Zorn. Großen Zorn. Ich will nur noch schießen.“

Während ich südlich von Kiew auf einer Terrasse sitze und diesen Text fertigschreibe, höre ich aus der Ferne, östlich von Kiew, immer wieder Detonationen. Und mich erreicht die Meldung, dass die Stadtverwaltung für den gesamten Sonntag wieder eine Ausgangssperre erlassen hat. So sieht sie aus, die Kriegsnormalität in Kiew. 

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