Zukunft von Sigmar Gabriel - Am Scheideweg

Die Kandidatenkür der Sozialdemokraten entwickelt sich von Qual zur Farce. Sigmar Gabriel sollte die Entscheidung über seine politische Zukunft schnell treffen, sonst wird sie ihm aus der Hand gleiten

Wohin führt der Weg Sigmar Gabriels? / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Ob auf den Wiesen rund um Goslar noch das eine oder andere trotzige Gänseblümchen wächst? Dann könnte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel es bei einem ausgedehnten Spaziergang in seinem Heimatort am Wochenende pflücken und die Blütenblätter zupfen. Soll ich, soll ich nicht, soll ich....?

Zweierlei hat sich in den vergangenen zehn Jahren in der deutschen Politik als Muster erwiesen und erweist sich in diesen Wochen wieder: Angela Merkel kann vieles, aber keinen Bundespräsidenten ausgucken. Und die SPD kann manches, aber keinen Kanzlerkandidaten systematisch und erfolgreich auf den Schild heben. Die letzten beiden Male schon war die Kandidatenkür der Sozialdemokraten eine Qual. Dieses Mal wird mehr und mehr eine Farce daraus.  

Ein dritter Verzicht wäre das Ende der Parteikarriere

Im Zentrum steht dabei wieder der potenzielle Spaziergänger aus Goslar. Schon einmal hat Sigmar Gabriel in seiner Amtszeit als SPD-Vorsitzender einen anderen als Kanzlerkandidaten ins Rennen geschickt. Das zeugte von Größe und einem nüchternen Blick auf die eigenen Wahlchancen. Ein zweites Mal aber kann Gabriel nicht jemand anderen antreten lassen, ohne damit auch die Konsequenz zu ziehen, sein Amt als SPD-Vorsitzender aufzugeben.

Über diesen Umstand ist sich Gabriel selbstverständlich völlig im Klaren, ebenso wie über die Tatsache, dass die Deutschen ihn, den Sprunghaften, nicht zum Kanzler wählen würden. Über Jahre haben er und seine Leute versucht, diese Kehrseite seiner außerordentlichen politischen Befähigung zu beheben. Es geht nicht. Es gehört zu ihm. Es ist essenzieller Bestandteil seiner Persönlichkeit. 

Süchtig nach, und leidend an der Politik

Ebenso wie seine Zerrissenheit: Sigmar Gabriel leidet an einem Dasein, nach dem er süchtig ist. Die Abscheu am politischen Betrieb ist ihm immer wieder anfallsweise anzumerken. Wenn er alles unternimmt, um für ein paar Stunden bei seiner Familie in Goslar zu sein. Wenn er Journalisten anpampt, weil die sich wieder in Berliner Windungen und Machtgedöns ergehen, das draußen im Land keinen Menschen interessiert.

Und zugleich weiß er genau, wie es sich anfühlt, wenn das alles auf einmal weg ist. Als er seinerzeit als Ministerpräsident in Niedersachsen abgewählt wurde, in ein tiefes schwarzes Loch schaute, vor dem ihm nur der Ruf des Franz Müntefering ins erste Kabinett Merkel bewahrte.

Familienglück könnte den Ausschlag geben

Eben jenes Loch tut sich sofort wieder auf, wenn Gabriel nun Martin Schulz oder auch Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD machte. Möglicherweise wäre es dieses Mal gefüllt von familiärem Glück. Im März kommt das nächste Baby. Solche zutiefst privaten Motive sollten nie unterschätzt werden. Sie waren auch beim Bundestagspräsidenten Norbert Lammert der Grund, weshalb er sich allen Avancen seiner Parteichefin Angela Merkel entzog, als die ihn zum Bundespräsidenten machen wollte. 

Wenn Gabriel nüchtern abwägt, muss er zu folgendem Schluss kommen. Entweder er lässt jetzt Martin Schulz den Vortritt. Dann ist es gleich vorbei. Oder er macht es selbst und fährt persönlich ein absehbar katastrophales Ergebnis für die SPD ein. Dann ist es in zehn Monaten vorbei. Das ist der einzige Unterschied.

Doch, halt! Es gibt noch einen. Jetzt liegt die Entscheidung noch in seinen Händen. Am Wahltag wird es nicht mehr so sein. Auch bei einer Urwahl des Kanzlerkandidaten durch die SPD-Mitglieder, von Gabriel selbst ins Spiel gebracht, würde Schulz haushoch gegen ihn gewinnen. Auch das wäre eine Schmach für den Parteivorsitzenden.

All das dürfte Gabriel klar sein und kann ihn am Ende nur zu einer Entscheidung führen. Wenn er nicht so trotzig ist wie ein Gänseblümchen, das versucht, gegen den nahenden Winter anzublühen.  

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, Sigmar Gabriel hätte schon zweimal als SPD-Vorsitzender einen anderen als Kanzlerkandidaten ins Rennen geschickt. Dies hat er aber erst einmal getan. Wir danken dem Leser Herbert Anhäuser für den Hinweis und bitten wegen des Fehlers um Entschuldigung.  

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