Aufstand gegen Winfried Kretschmann - Gesundheitsämter fordern Ende der Quarantäne-Pflicht

In Baden-Württembergs Landesregierung tobt ein Streit um die Corona-Politik. Während Ministerpräsident Winfried Kretschmann an strengen Regeln festhalten will, spricht sich sein Gesundheitsminister in einem Brief an Karl Lauterbach für ein Ende der Test- und Quarantäne-Pflicht aus. Kretschmann hat seinen Minister zurückgepfiffen, die Opposition fordert dessen Rücktritt. Dabei stehen die kommunalen Gesundheitsämter hinter den Forderungen, sagt Landkreistagspräsident Joachim Walter.

Den eigenen Minister und Parteifreund zurückgepfiffen: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) / dpa
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Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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Joachim Walter (CDU) ist seit 2003 Landrat des Landkreises Tübingen und seit 2013 Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg sowie seit 2014 Vizepräsident des Deutschen Landkreistags. 

Herr Walter, der baden-württembergischen Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) steht massiv in der Kritik. Denn er hatte in einem Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gefordert, nach Ostern die endemische Phase der Corona-Pandemie einzuläuten. Sie unterstützen ihn darin. Weshalb?

Im Wesentlichen geht es um das Ende der Quarantäne- und der anlasslosen Testpflicht, letztere hat der Bundesgesundheitsminister ja gerade wieder verlängert. Zum einen kommt die Quarantäne einfach zu spät, um Ansteckungen zu verhindern, zum anderen gefährdet sie die medizinische Versorgung, die vielzitierte kritische Infrastruktur. Sie betrifft aber auch andere Bereiche: Ich hatte gerade heute Morgen ein Gespräch mit Wirtschaftsvertretern, manche Betriebe haben bis zu 50 Prozent Ausfälle bei ihren Mitarbeitern. Die sind zuhause, mit einem positiven Test, aber völlig gesund. Leute, die nicht vom  Homeoffice aus arbeiten können und deshalb dann verzweifelt versuchen, sich freizutesten. Sinnvoller wäre: Wer sich gesund fühlt, soll zur Arbeit kommen, wer sich krank fühlt, bleibt zu Hause.

„Es ist bemerkenswert, dass es heute Mut
braucht“: Landkreistagspräsident Joachim
Walter / dpa

Lauterbachs Reaktion war ablehnend: „Ich glaube, dass ich diesen Brief ignorieren werde“, sagte er bei der Bundespressekonferenz. Der Brief aus Baden-Württemberg sei mutmaßlich „in einem Moment der Frustration oder des Zorns entstanden“. Stimmt das?

Nein. Die baden-württembergischen Gesundheitsämter haben Minister Lucha am 22. März ein Positionspapier geschickt, in dem sie um einen Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung gebeten haben. Gerade die Gesundheitsämter sind doch der Seismograph für Veränderungen, dort sitzen die Fachleute. Und wenn die ein eindeutiges, dringendes Signal setzen, verdient das schon Gehör. Wir im Landkreistag waren dankbar, dass der Minister sich das Papier zu eigen gemacht hat. Der Brief ist also keineswegs nur aus dem Moment heraus entstanden, sein Inhalt war fundiert und wohlüberlegt. Ich muss staunen über einen Herrn Lauterbach, der sich anscheinend weigert, die Realität anzuerkennen und Veränderungen wahrzunehmen.

31 Gesundheitsämter – von 35 im ganzen Land, also die überwiegende Mehrheit – haben das Papier unterzeichnet. Wie ist dieses Schreiben zustande gekommen?

Nicht nur die Mehrheit, eigentlich waren es sogar alle. Die vier, die fehlen, haben lediglich die Frist verpasst – beziehungsweise wollte eines den kriminellen Missbrauch von Teststationen, der im Papier angesprochen wird, so nicht unterschreiben. Aber im Großen und Ganzen sind wir uns alle einig, das ist bei einer Konferenz mit den Landräten und Landrätinnen mehr als deutlich geworden. Die Initiative für das Schreiben ging vom Gesundheitsamt Karlsruhe aus, es hat aber keiner großen Mühe bedurft, alle ins Boot zu bekommen. Alle fanden es schade, dass die Diskussion über den Eintritt in die endemische Phase so sehr von der Sachebene auf die politische Ebene gezogen wurde.  

Manfred Lucha spricht sich in seinem Brief an Lauterbach auch dafür aus, Omikron wie eine Grippe zu behandeln – eine Forderung, die bis vor kurzem noch absolut tabu war. Lauterbach beteuerte noch Anfang März in Bezug auf die einrichtungsbezogene Impfpflicht, die Injektion sei der „schmutzigen Impfung“ durch Infektion überlegen, wenn es darum gehe, andere zu schützen. 

Die deutliche Mehrheit des Gesundheitspersonals ist ja auch geimpft. Aber hören Sie, unser Gesundheitsamt hat Untersuchungen zum Ausbruchsgeschehen in Alten- und Pflegeheimen gemacht, wir haben also gefragt: „Wer hat das Virus reingebracht?“ Das Ergebnis hat überrascht: Von 52 Untersuchungen wurde das Virus in 41 Fällen von jemandem eingetragen, der vollständig geimpft und geboostert war. Im Hinblick auf die einrichtungsbezogene Impfpflicht heißt das: Sie erfüllt ihren Schutzzweck nicht. Deshalb habe ich auch selbst Herrn Lauterbach angeschrieben, und darum gebeten, diese Erkenntnisse „von der vordersten Front“ an die obersten Stellen zu geben. Offensichtlich reagiert er nicht auf solche Briefe. Ich fürchte, er wird auch nicht dem klugen Beispiel Österreichs, vorerst die Impfpflicht auszusetzen, folgen.

In den Medienberichten über Luchas Brief und die anschließende Aufregung wird das Positionspapier meist gar nicht erwähnt. So entsteht der Eindruck, Lucha habe auf eigene Faust gehandelt.

Es hat uns auch sehr gewundert und gestört, dass das medial als politische Einzelaktion dargestellt wurde, ohne auf die sachlichen Argumente dahinter einzugehen. Lucha hat sich explizit auf das Positionspapier bezogen und das Papier sogar als Anhang beigefügt.

Das heißt, auch Lauterbach wusste, dass das Schreiben nicht nur auf einer Laune beruhte?

Wenn er den Brief gelesen hat, musste er das wissen, ja. Das Positionspapier lag ja bei, im zweiten Absatz wurde darauf hingewiesen. Aber Herr Lauterbach hat ja auch gelegentlich die Auffassung, dass andere generell weniger wissen als er, und er scheut sich auch nicht davor, das zum Ausdruck zu bringen und anderen ihre Qualifikation abzusprechen. Nach dem Motto: „Warum mit anderen beschäftigen, wenn ich selbst doch alles weiß?“ 

Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat seinen Parteifreund und Gesundheitsminister zurückgepfiffen, Lucha ruderte anschließend etwas kleinlaut zurück und ließ erklären, die Pandemie sei „keineswegs beendet“. Warum ist er eingeknickt?

Ich denke, es muss eine Art Kabinettssitzung gegeben haben, bei der das angesprochen wurde. Vielleicht war Kretschmanns Ansage etwas vorschnell, vielleicht hat aber auch der Mediensturm einfach für Verwirrung gesorgt. Das kann ich alles nicht beurteilen und möchte darüber auch nicht spekulieren. Es hat uns auf jeden Fall sehr gewundert.

Die Landtags-Opposition hat sich jedenfalls sofort auf den Vorfall gestürzt: Die SPD sprach von „absurden Forderungen“ und verlangte gemeinsam mit der FDP/DVP-Fraktion umgehend Luchas Rücktritt.

Ja, leider tendieren die Politiker dazu, in solche politische Reaktionsmechanismen zu verfallen, statt die Sachfragen zu klären. Die Unerbittlichkeit der Debatte hat mich aber auch erstaunt. Wenn wegen einer fachlich fundierten Position ein Rücktritt gefordert wird, muss ich sagen: Da kann was nicht stimmen.

Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz distanzierte sich ebenso von dem Brief und beteuerte, auch weiterhin dem „Team Vorsicht“ anzugehören. Sie, Herr Walter, haben Lucha dagegen für seinen Mut gelobt. Warum braucht es für so etwas Mut?

Die Frage ist berechtigt. Es ist bemerkenswert, dass es heute Mut braucht. Eigentlich braucht es in einer Demokratie keinen Mut, Meinungen zu äußern, die nicht dem Mainstream entsprechen. Gerade bei Corona gibt es aber diesen unausgesprochenen Sozialkontrakt, der eine ergebnisoffene Debatte verhindert. Es gibt nur schwarz und weiß, Team Vorsicht und Team Leichtsinn. Lucha dagegen ist aber eher in das Team Umsicht gewechselt. Wissen Sie, ich komme aus der Kommunalpolitik. Dort gibt es keine Regierungslinie in dieser Form. Es werden eher wechselnde Allianzen gebildet, je nach dem, um was es geht. Wir interessieren uns für die Sache. Hier wird dagegen eine Sachfrage mit politischen Fragen vermengt, das sollte man eigentlich vermeiden. Vielleicht sollten wir es uns alle auf den Spiegel schreiben, damit wir uns jeden Morgen daran erinnern: Wir sind dem Gemeinwohl verpflichtet, nicht der Wiederwahl!  

Kretschmann hat die Rücktrittsforderungen zurückgewiesen. Er hat von einem „Fehler“ gesprochen, den man sich unter Team-Mitgliedern verzeihe. Ist es ein Fehler, wenn der oberste Vertreter der Landesgesundheitspolitik die Belange der Basis in die höheren Ebenen der Politik trägt?

Aus Gesprächen mit mehreren Abgeordneten habe ich den Eindruck gewonnen, dass eher die fehlende Abstimmung als Fehler deklariert wurde.

Gut, aber muss etwas unbedingt abgestimmt sein, um richtig zu sein? Kretschmann hätte Lucha ja für den Ablauf rügen und in der Sache trotzdem Recht geben können.

Nein, Ich glaube nicht, dass so etwas zwingend abgestimmt sein muss, aber in politisch so umstrittenen Fragen ist es sicher hilfreich. In der Corona-Debatte herrscht eben die Emotion. Und es sind eben auch nur Menschen, die in so einer Landesregierung sind.

Sie haben auch Mut bewiesen, indem Sie Lucha beigesprungen sind. Und Sie waren ja nicht alleine.

Naja, also nach der Rüge Luchas habe ich gesagt: Das kann doch nicht sein, dass man sich von uns aus dazu nicht positioniert. Also waren wir die Ersten. Aber das Positionspapier hat uns ja auch überzeugt, da kann man nicht einfach sagen, „das greife ich nicht auf“. Die Gesundheitsämter haben es uns bei der Landrätekonferenz zur Kenntnis gegeben. Wir haben im Landkreistag zwar nicht abgestimmt, ich weiß aber, dass die Kollegen den Vorschlag auch mittragen. Und es gab auch Unterstützung von außerhalb, wo man auch gesehen hat: Es ist an der Zeit, ein Stückweit zur Normalität zurückzukehren. Wir werden eben mit diesem Virus leben müssen. 

Unterstützung kam zum Beispiel auch vom Ärzteverband Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) und der Evangelischen Heimstiftung – beide ebenfalls „an der Front“.

Nicht nur die, auch in der Wirtschaft hat man überlegt, ob man sich nicht einmischen soll, weil die Auswirkungen so heftig sind. Das habe ich ja schon beschrieben, diese extrem hohen Ausfallquoten durch die Quarantäne. Auch die Krankenhaus-Gesellschaft Baden-Württemberg steht hinter der Sache. Aus gutem Grund, denn Sie müssen ja auch an die immensen Kosten des Ganzen denken: Ein Bürgertest kostet 13 Euro, und als Landräte verantworten viele von uns auch den Klinikbetrieb, und da fehlt das Geld dann. Wir dürfen jetzt keine Millionen verschwenden und später nicht genug haben, um die Krankenhäuser unterstützen zu können, das wäre ein katastrophaler Fehler.

Baden-Württemberg scheint sich allgemein schwer damit zu tun, Restriktionen aufzuheben, wenn keine akute Gefahr mehr besteht. Die Alarmstufe blieb damals auch weiter in Kraft, mit dem Verweis auf „zu erwartende“ Hospitalisierungen. Warum ist das so?

Darauf habe ich auch vor einigen Wochen hingewiesen. Ich bin ja von Haus aus Jurist. Und deshalb weiß ich, dass Einschränkungen von Grundrechten geeignet, erforderlich und – vor allem – verhältnismäßig sein müssen. Diese konsequente Rechtsanwendung muss uns auch in schwierigen Situationen lenken. Die Quarantäne zum Beispiel ist aber für schwerwiegende Erkrankungen gedacht. Und mittlerweile sehen wir bei Omikron eher das übliche Erscheinungsbild einer viralen Erkältungskrankheit, deshalb ist diese Vorsichtsmaßnahme nicht mehr verhältnismäßig. Manche Länder wollen solche Maßnahmen aber trotzdem nicht aufgeben, das gilt nicht nur für Baden-Württemberg. Ich hätte mir auch gewünscht, dass wir einige Maßnahmen aus verfassungsrechtlichen Bedenken früher beendet hätten.

Das ist in Baden-Württemberg aber eben nicht passiert.

Nein, aber verstehen Sie: Wenn wir als Land auf der unteren Ebene Bundesgesetze ignorieren würden, die wir nicht gutheißen, hätten wir einen Unrechtsstaat. Allerdings haben wir die Pflicht, darauf hinzuweisen, warum wir nicht einverstanden sind. Und deshalb habe ich dem Bundesverfassungsgericht auch einen entsprechenden Hinweis auf die Erkenntnisse unseres Gesundheitsamts gegeben.

Wie geht es weiter? Welche Möglichkeiten haben die Gesundheitsämter jetzt noch, sich Gehör zu verschaffen? Wie kann eine Entkopplung von Entscheidungsträgern und Berufspraktikern verhindert werden?

Es gibt mittlerweile eine Kehrtwende von der Kehrtwende. Der Gesundheitsminister hat uns für diesen Freitag zu einem virtuellen Hearing geladen, bei dem gemeinsam mit medizinischen Experten über das Papier gesprochen werden soll. Ich weiß schon, dass mindestens einer von ihnen die Einschätzung der Gesundheitsämter teilt. Wir hoffen natürlich, dass es mit dem Thema weiter vorangeht. Entscheidend wird sein, ob der Ministerpräsident sich klar dazu positioniert.

Das Gespräch führte Philipp Fess

In einer früheren Version dieses Artikels war von der (Landes-)Ärztekammer die Rede, die sich zusammen mit Joachim Walter für das Positionspapier der Gesundheitsämter ausgesprochen habe. Tatsächlich ist es aber der Ärzteverband Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) Baden-Württemberg gewesen. Wir bitten unsere Leser, diesen Fehler zu entschuldigen.

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