Tag der deutschen Einheit - „Wir haben unfassbares Glück gehabt“

28 Jahre nach der Wende wird immer noch viel von einer Spaltung zwischen Ost und West geredet. Horst Teltschik war einer der engsten Berater von Helmut Kohl. Er gilt als Architekt der Einheit. Im Interview erläutert er, warum die Wiedervereinigung ein Geschenk war und ist

Maueröffnung 1989: „Es hätte ein Blutbad oder einen Bürgerkrieg geben können“/ picture alliance
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Horst Teltschik, Jahrgang 1940, leitete die Gruppe Außen- und Deutschlandpolitik“ in der CDU-Bundesgeschäftsstelle, als ihn Helmut Kohl, damals noch Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, als Referenten in die Staatskanzlei holte. Seither gehörte der Politikwissenschaftler zu dessen engstem Beraterkreis. 1982 wurde er Leiter der Abteilung „Auswärtige und innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit“. Teltschik war maßgeblich an den deutsch-deutschen Verhandlungen der Wendezeit und der Wiedervereinigung beteiligt. 

Herr Teltschik, kennen Sie Zonen-Gabi?
Nein, wer ist das?

So nannte die Titanic eine Frau mit Minipli-Frisur und Jeansjacke und Gurke in der Hand, die im November 1989 das Cover des Satiremagazins schmückte. Darüber stand „Meine erste Banane“. 29 Jahre später drückt diese Karikatur ziemlich genau aus, wie sich viele DDR-Bürger fühlen – als Bürger zweiter Klasse. Ist die Wiedervereinigung aus heutiger Sicht Fluch oder Segen?   
Aus heutiger wie aus damaliger Sicht ist die Wiedervereinigung ein Segen für alle. Die Frage ist nur: Haben wir alles getan, was möglich gewesen wäre? Haben wir den Menschen in der DDR das Gefühl und die Sicherheit gegeben, dass sie politisch und materiell auf gleicher Höhe mit dem restlichen Deutschland stehen?  

Es gibt Zahlen, die genau das sehr anschaulich widerlegen. Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen die Menschen im Osten statistisch gesehen weniger als im Westen. Auch in den Führungspositionen von DAX-Unternehmen und Parteien sind sie unterrepräsentiert.  Es ist ja kein Zufall, dass die AfD im Osten den größten Zulauf verzeichnet. 
Die wirtschaftliche Misere, die bis heute nachwirkt, hat nicht die Bundesrepublik Deutschland zu vertreten, sondern die SED und die DDR-Führung. Die DDR war wirtschaftlich bankrott, wie der gesamte Warschauer Pakt, inklusive der Sowjetunion. Das kann man nicht in kürzester Zeit aufholen. Man darf auch nicht vergessen, wie viele DDR-Bürger Mitglieder  der SED und der Staatssicherheit waren. Die haben alle Privilegien verloren. Dass die bis heute jammern, das verstehe ich. 

Am Tag, als die Mauer fiel, waren Sie mit Helmut Kohl auf Staatsbesuch in Warschau. Können Sie sich noch daran erinnern, wie es war, als Sie die Nachricht erreichte?
Natürlich. Das Dilemma war damals, dass man aus den Warschauer-Pakt-Staaten nicht in den Westen telefonieren konnte. 

Unvorstellbar. 
Oder? In der Suite des Bundeskanzlers im Marriott Hotel stand zwar ein Telefon. Aber damit konnte man nur innerhalb Polens telefonieren. Wir hatten deshalb ein so genanntes Standgerät dabei. Das war so ein Holzkasten mit einer Kurbel. Wir haben gekurbelt, um eine Standleitung zum Bundeskanzleramt zu bekommen. Von dort aus konnte sich der Bundeskanzler zu Mitarbeitern verbinden lassen, um zu erfahren, was überhaupt los war in Deutschland.

Horst Teltschik / picture alliance

Aber wie  hat Sie die Nachricht vom Mauerfall erreicht, wenn man Sie dort nicht anrufen konnte?
Nur gerüchteweise. Es waren Journalisten, die erste Hinweise bekamen, dass in Berlin etwas im Gange war. Abends hatten wir ein Abendessen mit Tadeusz Mazowiecki. Es war der erste demokratisch gewählte Regierungschef in Polen, insofern war das bedeutend. Ich wurde zwischendurch immer wieder rausgerufen und gefragt, ob ich mehr wüsste. Wir wussten GAR NICHTS. Erst als Helmut Kohl mit Bundeskanzleramtschef Rudolf Seiters sprechen konnte, haben wir erfahren, dass der Bundestag aufgestanden war und die Nationalhymne sang. 

Wie spät war es, als Sie endgültige Gewissheit hatten?
So gegen 21 Uhr wussten wir, dass sich die Mauer geöffnet hatte  ... 

... weil sich Günther Schabowski vom Politbüro in einer Pressekonferenz verplappert hatte. Die DDR wollte ihren Bürgern Reisefreiheit in Aussicht stellen. Und auf die Frage, ab wann das in Kraft träte, sagte er um 18.53 Uhr den berühmten Satz: „Nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“ Um 19.05 Uhr meldete die westliche Agentur AP: „Die DDR-Grenze ... ist offen.“ Wie haben Sie reagiert?
Wir waren völlig perplex. Wenn wir das geahnt hätten, wären wir nicht nach Warschau gereist. Schabowski ist mit diesem Satz in die Geschichte eingegangen. Die SED hatte nie vor, die Mauer zu öffnen. Sie wollten den Bürgern Reiseerleichterungen zugestehen. 

Die Maueröffnung war ein Versehen?
Natürlich, und es war ein unglaublicher Glücksfall, dass von den Grenzpolizisten der DDR keiner zur Waffe gegriffen hat, als sich die Bürger vor der Mauer stauten, um in den Westen rüberzugehen. Was wäre denn gewesen, wenn einer von denen aus Angst geschossen hätte? Es hätte ein Blutbad oder einen Bürgerkrieg geben können. Wir haben in der Nacht unfassbares Glück gehabt.

Haben Sie in Warschau erstmal angestoßen mit dem Kanzler?
Ja, das haben wir. Alle Mitarbeiter waren vor dem Abendessen mit Tadeusz Mazowiecki in seiner Suite. Da stand irgend so ein Krimsekt auf dem Tisch. Ich habe gesagt: „Den machen wir jetzt auf und trinken ein Glas.“ Richtige  Feierlaune kam aber nicht auf. 

Warum nicht?
Weil der Bundeskanzler sofort darüber nachdenken musste: Was mache ich denn jetzt? Helmut Kohl war in solchen Situationen ruhig und nachdenklich. Euphorisch waren nur wir Mitarbeiter. Ich habe an meine Freunde in der DDR gedacht, die ich schon aus Schulzeiten kannte. 

Ihr erster Gedanke?
Endlich dürfen sie rüber. 

Am nächsten Tag sind Sie zurück nach Berlin gefahren, und der Kanzler hat vor dem Roten Rathaus in Schöneberg gesprochen. Warum wurde er da ausgebuht und ausgepfiffen?
Eine berechtigte Frage. Den ersten Krach gab es schon nach der Landung auf dem Flughafen Tempelhof. Dort empfing uns der damalige CDU-Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus, Eberhard Diepgen. Er erzählte uns, dass es zwei Kundgebungen gebe. Eine SPD-Veranstaltung vor dem Schöneberger Rathaus und eine zweite CDU-Veranstaltung auf dem Kurfürstendamm. Und da ist der Bundeskanzler das erste Mal explodiert. 

Weil sich die Parteien bei so einem Anlass nicht auf eine Veranstaltung einigen konnten?
Genau. Auf der SPD-Veranstaltung mit Willy Brandt waren natürlich auch überwiegend Anhänger der SPD. Und die waren nicht besonders freundlich zu Helmut Kohl. Als wir da ankamen, standen da 200 Leute und haben ihn ausgepfiffen und ausgebuht. Ich habe zum ihm gesagt: „Und wegen solcher Leute fahren wir extra nach Berlin?“ 

Dafür ist der Kanzler aber bemerkenswert ruhig geblieben?
So lautete der Auftrag. Ich bekam während der Veranstaltung einen Anruf vom sowjetischen Botschafter in Bonn. Ich sollte dem Kanzler vor seiner Rede vom sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow ausrichten, dass er beruhigend auf die Menschen einrede, damit alles unter Kontrolle bleibe. 

Woher rührte Gorbatschows Sorge?
Es gab auch in Ost-Berlin eine Kundgebung. Die Sorge war, dass die Menschen danach die Mauer von beiden Seiten stürmten und damit eine Situation eintrat, die man nicht mehr kontrollieren konnte. Kohl hat dann beruhigend auf die Menge eingeredet. Aber in der Situation war das auch nicht hilfreich. 

Warum nicht?
Die Menschen wollten ja nicht hören, dass man jetzt sehr umsichtig vorgehen müsse. Die waren euphorisch. Die wollten feiern. Wir sind dann noch zur Mauer gefahren. Dort haben sich unglaublich bewegende Szenen abgespielt. Menschen, die Kohl umringten, die weinten oder schrien. 

Der US-Präsident und die englischen und französischen Alliierten waren gar nicht alarmiert? 
Doch, natürlich. Die hat Helmut Kohl am nächsten Tag angerufen, als wir zurück in Bonn waren. Ich habe die  Botschafter gefragt, ob es irgendwelche Pläne für den Fall gibt, dass die Lage in der DDR eskaliert. Da gab es NIX. 

Was war denn ihre größte Angst? 
Wir hatten rund 370. 000 sowjetische Soldaten in der DDR. Zusammen mit Angehörigen waren das eine Million Russen. Die Sorge war, dass die aus den Kasernen herauskommen und die Grenze wieder dichtmachen. Das hätte zu bürgerkriegsähnlichen Situationen führen können. Ich bin sicher, dass sich die NVA den sowjetischen Truppen angeschlossen hätte. 

Fragen Sie sich manchmal, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn der damalige US-Präsident nicht Bush gewesen wäre, sondern Trump? Und der russische Präsident nicht Gorbatschow, sondern Putin?
Mit Trump wäre es ein Alptraum gewesen. Aber Putin hätte genauso wie Gorbatschow reagiert. Da bin ich ziemlich sicher. Er kannte ja die DDR. Er lebte ja dort.  

War die Wiedervereinigung von vornherein geplant?
Nein, gar nicht. Wir waren davon ausgegangen, dass sich mit der Maueröffnung die Chance gab für Reformen in der DDR. Und dass Russland diese Entwicklung zulässt. Gorbatschow hatte ja auch nicht interveniert, als in Polen 1989 die ersten demokratischen Wahlen stattfanden. 

Aber als der Kanzler am 28. November seinen 10-Punkte-Plan für Deutschland vorstellte, da war schon von einer Konföderation die Rede – von einem Zusammenschluss von Staaten, die gleichberechtigt bleiben. 
Ich muss sie korrigieren: In dem Plan war nur von konföderativen Strukturen die Rede. Die SPD wollte eine Konföderation. Wir haben das abgelehnt. 

Warum?
Eine Konföderation hätte die Gefahr der Anerkennung eines neuen Status quo beinhaltet. Wir waren für die Förderation, für einen Bundesstaat. Der Kanzler hat die Chance gesehen, Deutschland zu vereinigen.

Kritiker sagen, der Begriff  Wiedervereinigung sei ein Etikettenschwindel gewesen. Faktisch sei die DDR nur dem Geltungsbereich des BRD-Grundgesetzes beigetreten. 
Aber das haben die Abgeordneten der DDR-Volkskammer beschlossen. Es war ihre Entscheidung, Deutschland beizutreten. Wir waren auch dafür. Aber wir hatten nicht damit gerechnet, dass es nicht mal ein Jahr dauern würde. Intern waren wir von fünf bis zehn Jahren ausgegangen. 

Warum ist es dann doch so schnell gegangen?
Der eine Grund war, dass  die DDR völlig bankrott war. Die Zahl der Übersiedlungen stieg seit Anfang 1990 täglich an. Im Februar haben wir gesagt: Wenn das so weitergeht, haben wir Ende des Jahres eine Million DDR-Bürger in Westdeutschland. Das überlebt die DDR nicht. Denn es waren ja die jungen, gut ausgebildeten Leute, die kamen. Die DDR hatte 1989 schon einen Ärztemangel.  

Und was war der andere Grund?
Helmut Kohl hatte Ende 1989 ein Gespräch mit dem damaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow. Danach habe ich ihm gesagt: „Denn Mann können Sie vergessen. Der kann’s nicht.“ 

Wie kamen Sie darauf?
Der hatte keine Idee, in welche Richtung die politischen und wirtschaftlichen Reformen gehen sollte. Er wollte nur Geld. 15 Milliarden D-Mark.  

Von wem hätte man in dieser Situation erwarten können, dass er eine Patentlösung aus dem Hut zaubert? 
Aber die DDR-Bürger wollten nicht warten. Es gab nur einen Grund, warum das mit der Vereinigung so abenteuerlich schnell gegangen ist. Das waren die Menschen in der DDR. Die hatten keine Geduld. Die wollten endlich frei leben. 

Bürgerrechtler und Oppositionelle haben damals die Möglichkeit eines Dritten Weg thematisiert, zwischen Markt- und Planwirtschaft. War das in Ihren Augen Spinnerei?
Wir haben uns in deren Diskussionen nicht eingemischt. Und bei den Auftritten des Kanzlers in den neuen Bundesländern war davon nie die Rede. Die Bürger haben gedrängelt. Warum haben wir denn die Währungsunion so schnell eingeführt? Weil der Slogan hieß: Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zur D-Mark. 

Der Schriftstellter Patrick Süskind hat in einem bemerkenswerten Essay für den Spiegel geschrieben, ihm sei in diesen Monaten mulmig zumute gewesen, „wie einem eben mulmig zumute ist, wenn man in einem rasenden Zug sitzt, der auf unsicheren Gleisen in eine Gegen fährt, die man nicht kennt.“ Kennen Sie dieses Gefühl?
Ja, in der gesamten Gorbatschow-Ära haben wir Veränderungen erlebt, die so abenteuerlich schnell vorangingen, dass wir bis zu 18 Stunden am Tag gearbeitet haben. Unsere große Sorge war ja nicht, ob die DDR einen Dritten Weg geht oder was auch immer, sondern die Frage: Wie wird sich Moskau verhalten? 

Das heißt, Moskau war der größte Stein auf dem Weg zur Wiedervereinigung?
Zumindest  das größte Fragezeichen. Gorbatschow hätte ja auch schon im Jahr 1990 gestürzt werden können. Und dann? Hätten wir die sowjetischen Soldaten an der Mauer gehabt und Panzer auf der Straße. 

Helmut Kohl ging als Vater der Einheit in die Geschichte ein. War das wirklich sein Verdienst? Oder hat er nur die Früchte der Arbeit geerntet, die seine sozialdemokratischen Vorgänger schon mit der Entspannungspolitik im Osten geleistet haben?
Wer so argumentiert, ist einfach nicht bereit, auch einem anderen Politiker mal einen Verdienst anzurechnen. Der einzige, der das gemacht hat, war Helmut Schmidt. Der hat in seinem letzten Interview mit der Zeit Helmut Kohl als Staatsmann bezeichnet.  Er hat gesagt, Kohl habe den Mut gehabt, zu sagen, jetzt ist der Augenblick gekommen, wo ich die Chance habe, Deutschland zu einen. Er hat eine Strategie vorgelegt, wie er das erreichen will. Er ist diesen Weg in engster Abstimmung mit den drei Westalliierten und mit Gorbatschow erfolgreich gegangen. Dass Kohl dabei auch viel Glück gehabt hat, ist eine andere Geschichte. Gorbatschow war sein Glücksfall. Es hat nicht einen Schuss gegeben. 

Sie waren der engste Berater von Herrn Kohl. Welche Scheibe von diesem Verdienst dürfen Sie sich denn abschneiden?
Ach, er hat von uns Ideen bekommen. Das war unser Job. Das war eine reine Dienstleistung. 

Fragen Sie sich umgekehrt auch manchmal, ob Fehlentscheidungen in der Wendezeit dazu beigetragen haben,  dass sich manche Menschen in der DDR heute die Mauer zurückwünschen?
Ja und Nein. Das Problem war, dass die Menschen über Nacht in eine völlig neue Welt entlassen wurden, auf die sie nicht vorbereitet waren. Bis zum Mauerfall war ihr Leben durchgeplant. Ob sie studieren dürfen? Welchen Beruf sie ergreifen dürfen? Über Nacht waren sie plötzlich für sich selber verantwortlich. Ich glaube, viele in Westdeutschland hatten keine Vorstellung davon, was das heißt. 

Das heißt, die Politik hat den Fehler begangen, den Osten an westlichen Maßstäben zu messen?
Ja, das muss man wohl so sagen. Allerdings haben sich die Wertigkeiten auch bei vielen DDR-Bürgern verschoben. Wenn sie vor der Wende gefragt wurden, warum sie aus der DDR ausreisen, hieß es nicht „endlich Bananen“, sondern „endlich frei“. Heute wollen sie genauso viele Bananen wie die Menschen im Westen.    

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