Weltbild der Medizin - Medizin ohne Menschlichkeit

Die Fehlentwicklungen in der Corona-Pandemie haben tiefere Ursachen. Fortschritt und Menschlichkeit in Medizin und Gesellschaft haben nicht miteinander Schritt gehalten. Das mechanistische Weltbild, das zu Biologismus und Optimierungswahn führte, ist nie völlig aus der modernen Heilkunde verschwunden.

Die Digitalisierung treibt die Geist-Seele-Körper-Entfremdung auf die Spitze. / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dr. med. Erich Freisleben studierte Medizin in Berlin und Kiel und absolvierte seine Facharztausbildung zum Internisten. Seit 35 Jahren praktiziert er als Hausarzt. Er promovierte in der Geschichtsmedizin zum Thema Rassenhygiene und Rassenideologie, war als Delegierter in der kassenärztlichen Vereinigung tätig und publiziert Artikel zu gesundheitspolitischen Themen.

 

So erreichen Sie Erich Freisleben:

Anzeige

Der Psychoanalytiker und Arzt Alexander Mitscherlich, der Autor des Bestsellers „Die Unfähigkeit zu trauern“, führte uns einst das Dilemma der modernen Medizin vor Augen: Es gebe in ihr, schrieb er in seinem Buch „Medizin ohne Menschlichkeit“, zwei verschiedene Humanitätsbegriffe: den des heilenden und den des forschenden und experimentierenden Arztes. Ersterer habe unter allen Umständen die Interessen der Kranken zu wahren, letzterer kalkuliere um der Erkenntnis willen Risiken, im Extremfall sogar den Tod eines Menschen mit ein. Der „Heil-Arzt“ bezieht sich auf den über 2000 Jahre alten Eid des Hippokrates. Sein Verhaltenskodex beinhaltete erstens, den persönlichen Eigennutz auszuschließen, zweitens, vorsichtig zu sein und nicht zu schaden, drittens, die unmittelbare persönliche Verantwortung für Heilung zu übernehmen, und viertens die absolute Verschwiegenheit hinsichtlich der intimen Kenntnisse über die Patienten. Anknüpfend an die Tradition der spirituellen Heilung der Priester forderte Hippokrates seinerzeit von seinen Schülern auch für das erfahrungsbasierte und theoriefundierte Heilen eine demütige Haltung des Dienens.

Der „Arzt als Experimentator“ indes ist weit jüngeren Datums. Sein Denken ist analytisch, und sein Bestreben gilt dem Objektivieren. Sein Erscheinen ließe sich auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren. Noch bis in die Zeit Goethes und der Brüder Humboldt bestand das duale Weltbild von Materialität und Metaphysik, blieben der Kern christlicher Ethik und auch das Erleben von sinnhaften Zyklen des Entstehens und Vergehens unangetastet, obwohl in der vorangegangenen langen Periode der Aufklärung sich die Menschen von klerikalen Dogmen und verkrusteten Herrschaftsstrukturen zu emanzipieren begannen. Der Spruch „Gegen diese Krankheit ist kein Kraut gewachsen“ verdeutlicht im Umkehrschluss, dass die Natur als eigentliche Quelle menschlicher Heilmittel galt. Der Mensch definierte sich also als Subjekt, welches zutiefst aufgehoben sei in vollkommener Weisheit der Natur. Trotz der Endlichkeit allen individuellen Lebens war es das Weltbild einer nie endenden Harmonie in einem unübertrefflichen und unendlichen Gesamtgefüge.

Die Geburt des Sozialdarwinismus

Erst die Erkenntnisse Darwins über die Evolution des Lebens auf der Erde markierten den großen Bruch der Jahrtausende währenden Bewusstseinskultur der Einbettung in eine höhere Sinnhaftigkeit. Die Vorstellung einer naturgesetzlichen Mechanik von Variation und Selektion, die einen Automatismus der Höherentwicklung in Gang hielt, schien eine übernatürliche Weisheit überflüssig zu machen. Der Ursprung allen Seins wurde nun allein aus bekannten Naturgesetzen heraus verstanden. An die Stelle des zyklischen Erlebens in Dualität trat nun die Dominanz linearer und rein materieller Orientierung. Erst jetzt war die Bühne frei für den Arzt als Wissenschaftler und Experimentator. Und der fest mit der Industrialisierung verbundene Kapitalismus beflügelte diesen Wandel noch.

Doch dieser Aufbruch in die experimentelle Wissenschaft bescherten eine Explosion des medizinischen Wissen – darunter die Zellularpathologie Virchows, die Genetik, die Mikrobiologie, die Fortschritte der Chirurgie, der Beginn der Antibiotika-Ära und vieles mehr. Das neue, allein am Materiellen orientierte Weltbild zündete aber auch eine sich immer schneller drehende Kaskade von wissenschaftlicher Erkenntnis sowie technologischen Erfindungen, und die sichtbaren Früchte des Erfolgs schienen die philosophisch-mentale Neuausrichtung grandios zu bestätigen.

Aber der einseitige Fokus auf Zweckorientierung und lineare Kausalitäten führt letztlich in eine ethische Katastrophe von unermesslichem Ausmaß. Die Faszination über die Mechanik der Evolutionstheorie nämlich war derart gewaltig, dass es irgendwann unumgänglich schien, sie auch auf das Sozialleben anzuwenden. Das war die Geburt des Sozialdarwinismus, der einen gleichartigen Mechanismus für die soziale Entwicklung der Menschheit zu einem höheren Niveau postulierte. Und die „Rassenhygiene“, wie sie schließlich bei den Nazis Anwendung finden sollte, machte die Optimierung des eigenen genetischen Bestands zur Pflicht, während die „Rassenkunde“ eine Wertigkeitsskala verschiedener Populationen aufstellte. Bereits Ende der dreißiger Jahre waren diese beiden Wertesysteme fest im Fächerkanon der deutschen Universitäten etabliert. Die kühle Distanz analytischer und zweckorientierter Methodik führte, wenn man sie erst auf die Gesellschaft übertragen hatte, dazu, dem Menschen seine Individualität und seine Würde zu rauben. Kurz: Sie mündete in die Barbarei.

Die Wurzel des Übels blieb unangetastet

Das Erschrecken über das Ausmaß dieser Entwicklung machte nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Schlag deutlich, wozu die Missachtung der menschlichen Kulturentwicklung führen kann. Mit dem Verlust von Metaphysik und Spiritualität war das regulative Gegengewicht zur intellektuellen zweckrationalen Logik verloren gegangen. Im Erschrecken über die Vernichtungslager der Nazis wurde nach 1945 versucht, die fehlende moralische Balance durch zahlreiche Sicherungsmaßnahmen in der Welt auszugleichen: die Verkündung der allgemeinen Menschenrechte, der Nürnberger Kodex, die internationalen Foren des Austausches wie das der UNO oder der WHO.

Doch die tiefste Wurzel des Übels blieb unangetastet: Die nämlich bestand im Tausch des Prinzips der naturgegebenen Harmonie gegen ein Prinzip der nachbesserungswürdigen Optimierung. Und so waren Biologismus, Sozialdarwinismus und Optimierungswahn nie wirklich mit Stumpf und Stiel aus der Medizin ausgerottet worden – was letztlich auch erklären kann, warum die geistigen Väter der Rassenlehre und der Rassenhygiene wie Eugen Fischer und Fritz Lenz in der jungen Bundesrepublik unangefochten weiterlehren konnten.

Und dennoch kam es zu einer geistigen Erneuerung. Spätestens in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich eine starke Bereicherung der Medizin durch außernaturwissenschaftliche Impulse. Psychotherapie, Naturheilverfahren, Meditation und östliche Methoden wie die Akupunktur gewannen mit einem Mal an Bedeutung. Das neue Gebiet der Psychoimmunologie wurde entdeckt. Die Medizin emanzipierte sich von der totalen Abhängigkeit wissenschaftlicher Laboratorien und erlebte einen kreativen Demokratisierungsprozess, der sich aufmachte, die Vielgestaltigkeit des Menschseins zu erkunden.

Die sakrale Überhöhung des alten biologistischen Prinzips

Im erneuerten Bewusstsein einer ganzheitlichen Verflechtung von unsichtbarem inneren und messbarem äußeren Sein keimte sogar eine Neubestimmung von Spiritualität auf. Bücher wie „Das Tao der Physik“ und „Krankheit als Weg“ markierten die Suche nach einer zeitgemäßen Verbindung zwischen den Naturwissenschaften und einer erneuerten höheren Sinnhaftigkeit. Durch die Erforschung der subatomaren Ebene waren Objektivität und Subjektivität sogar aus vermeintlicher Gegensätzlichkeit befreit und als untrennbare Einheit erkannt worden.

Doch diese erfrischende mentale Erneuerungsbewegung erfuhr irgendwann um die Jahrtausendwende einen Dämpfer: Mit der sogenannten evidenzbasierten Medizin kehrte die sakrale Überhöhung des alten biologistischen Prinzips mit einem Mal in die Arztpraxen und Kliniken zurück. Dabei blieb diese Renaissance der mechanistischen Weltsicht nicht nur auf die Heilberufe beschränkt, sie erfasste die gesamte Gesellschaft. Qualitätsobjektivierung und komplexe Formalisierungen traten immer öfter an die Stelle eigenverantwortlichen Handelns; Schematisierungen ersetzten freie und verantwortungsbewusste Entscheidungen. Und dieser Wandel war nicht nur Zufall, er fußte im Kern auf einer durchdachten Marketingoffensive. So brachte etwa die Skeptiker-Bewegung ihre einseitig-biologischen Narrative geschickt unters Volk. Ihre wirkmächtigste Erzählung lautet bis heute, dass Wissenschaft und Objektivität durch wissenschaftsfeindliche, „esoterische“ Strömungen gefährdet seien. Mit dieser Mär konnte man zahlreiche Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens wurde Wissenschaft auf diese Weise zu einem ehernen Monolithen umdefiniert, was es letztlich leicht machte, sie als „Label für Unantastbarkeit“ zu missbrauchen, zweitens wurde die Komplexität des Menschen erneut auf das rein Materielle reduziert; und drittens wurden Täter und Opfer schlicht vertauscht, indem man so tat, als müsse man das „gesicherte Objektive“ vor „schwülstiger Subjektivität“ oder gar vor „Geschwurbel“ schützen. In der Summe also ging es hier erneut um die Dominanz des Biologischen und um die Diskreditierung alles Subjektiven und Kulturellen.

Digitalisierung macht die Realität zur Kopfgeburt

Mit der Digitalisierung erfährt diese Trendumkehr dieser Tage eine neue Dynamik. Mit ihr nämlich sind dem technologischen Innovationsfeuerwerk keine Grenzen mehr gesetzt. Zudem lenkt das Digitale mit seiner Schematisierungsstruktur sukzessive die Wahrnehmung der Menschen weg von ihrem assoziativen Kontakt mit ihren Innenwelten hin zu formalisierten Denkabläufen. Die erlebte und erfühlte Realität weicht unmerklich einer virtuellen. Wenn die Wirklichkeit vor Beginn der Digitalisierung mit allen Sinnen erfasst werden konnte – mit Denken, Wahrnehmung, Intuition –, so flüchtete sie sich mit dem Ende des Analogen in eine virtuelle Sphäre der Zahlen und Diagramme. Die Realität wird zur Kopfgeburt. Gerade weil die virtuelle Welt der eigenen subjektiven Realitätskontrolle entzogen ist, lässt sie sich leicht mittels Effekthascherei manipulieren.

In diesem anhaltenden Prozess der Geist-Seele-Körper-Entfremdung markiert die gegenwärtige Corona-Krise einen letzten Schritt auf dem Weg zur neuen Irrationalität: Angsthandlungen ersetzen plötzlich die wissenschaftlich-rationale Debattenkultur, und die Meinungsvielfalt wird als bedrohlich und verschwörerisch empfunden. Die Mitglieder der Gesellschaft können unterschiedliche Lebenskonzepte nicht mehr als Bereicherung erkennen, sondern pochen in fast schon totalitärer Weise auf Uniformität. Hinter der Kulisse einer vordergründig proklamierten Liberalität waltet eine neue Ausgrenzung des Nonkonformen.

Sieg der Manipulatoren

Dabei sind die gegenwärtigen Debatten um Impfung und Impfpflicht nicht mehr als ein Vehikel, an dem der schon länger währende Kulturkampf endgültig sichtbar wird. Denn dass die „Nichtgeimpften“ nicht Gesellschaft oder Gesundheit bedrohen und dass die neue Impftechnik ohne Standardzulassung weder einen Schutz vor Infektionen noch vor Erkrankung bietet, müsste längst auch dem Einfältigsten offensichtlich geworden sein. Dass es im Angesicht der Faktenlage dennoch einen Druck oder gar Zwang zum Impfen gibt, ist nur einer kampagnengestützten Meinungsmache geschuldet, die in der Lage ist, selbst die offensichtlichste Vernunft noch unsichtbar werden zu lassen.

Die erste Runde des großen Kulturkampfs endet somit in einem grandiosen Sieg der Manipulatoren. Schließlich hatte die Gesellschaft ihnen schon zuvor zunehmend Raum gelassen und sich sukzessive vom demokratischen Ringen verabschiedet. Am augenfälligsten war dies seit langem schon im Gesundheitswesen zu erkennen, wo der politisch gewollte Ökonomisierungsdruck die Pflegekräfte dezimiert und die menschliche Zuwendung einer unerträglichen Hetze überlassen hatte. Für die unterbezahlten Empathiespender ist die Selbstausbeutung längst zum Regelfall geworden. Der Impfzwang im Gesundheitswesen ist da nur der letzte Tritt gegen die Würde und die Größe des menschlichen Faktors.

Das Fenster für eine zeitgemäße Reintegration von Geist, Seele und Körper ist also schmal geworden. Wieviel Schmerzen werden in Zukunft wohl nötig werden, bis wir zur unausweichlichen Einsicht zurückgelangen, dass sich unsere technische Potenz bei aller Bereicherung in eine, wie Einstein es nannte, kosmische Weisheit einzufügen hat? Erst in solch einer ausgewogenen Balance kann der Fortschritt menschengerecht bleiben.

Anzeige