Wahlkampf - Das offensichtliche Thema, das keiner sehen will

Vom Bundestagswahlkampf ist derzeit kaum etwas zu spüren in der Republik. Das liegt daran, dass die Schlüssel-Akteure auf dem entscheidenden Terrain einen Nichtangriffspakt geschlossen haben: Wie viele weitere Migranten können Deutschland und Europa aufnehmen?

Wenn es das Wetter zulässt, werden mehr Menschen versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Schon mal in den Kalender geschaut? Am 24. September 2017 ist Bundestagswahl. Noch 66 Tage. Irgendwas zu spüren davon, irgend ein Lüftchen? Nichts, nirgends. Das Land treibt dem Wahlsonntag allmählich entgegen, wie auf dem Antidepressivum Sedariston. Viele Spitzenpolitiker gestehen hinter vorgehaltener Hand, dass sie sich jetzt erstmal noch für ein paar Wochen in den Urlaub verabschieden.

Entgegen anderslautender Prognosen funktioniert die Strategie der Amtsinhaberin bis hierher ein weiteres Mal glänzend. Alles an der Kante abschleifen und abtragen, woran man sich festmachen kann. Die Ehe für alle war das jüngste Beispiel für diese Vorgehensweise. So dümpelt alles auf eine Wahl ohne Kampf zu, auf eine Wahl ohne Wahl, auf eine Wahl ohne Thema.

It's the migration, stupid!

Das kommt dadurch zustande, dass die Schlüssel-Akteure auf dem entscheidenden Terrain einen Nichtangriffspakt geschlossen haben. „It‘s the economy, stupid!“, hatte einst der Wahlkampfberater des Präsidentschaftkandidaten Bill Clinton benannt, um welches Thema sich der Kampf ums Weiße Haus zu drehen habe „It‘s the migration, stupid!“, kann man in Anlehnung daran feststellen. Aktiv behandelt wird diese Frage aber nur von jener Partei, in deren alleinigen Händen das Thema nicht gut aufgehoben ist.

Nun haben Themen die unangenehme Eigenschaft, sich nicht an informelle Schweigegelübde und Wahlkampffahrpläne zu halten. Und da fällt auf: Das Thema vom Spätsommer 2015 kommt zurück. Die Parallelität der Ereignisse in diesem Sommer sind augenfällig, auch wenn die Route diesmal anderswo lang führt und die Menschen diesmal aus Libyen übers Mittelmeer kommen.

Parallele Ereignisse, parallele Antworten

Der Parallelität der Ereignisse steht eine Parallelität der (wenigen wortkargen) Antworten gegenüber: „Zur Obergrenze ist meine Haltung klar: Ich werde sie nicht akzeptieren“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Sonntag in ihrem ARD-Sommerinterview. Jenseits dessen, dass diese Formulierung und die Rollenverteilung bekannt vorkommen – „Mit mir wird es keine Maut geben“ – ist das im Kern eine Variante zu ihrer Wortwahl zum Höhepunkt der Migrationskrise. Damals sprach sie davon, dass es nicht in unserer Macht liege, wie viele noch zu uns kommen und dass Grenzen nicht zu schützen seien. Jüngst hat sie diese Aussichtslosigkeit an historisch, nun ja, missglückten Vergleichen mit der Chinesischen Mauer und dem Alten Rom veranschaulicht.

Die Schwesterpartei CSU wiederum bleibt ihrer Forderung nach einer Obergrenze von 200.000 Migranten pro Jahr treu und hat diese Obergrenze in ihren so genannten Bayernplan geschrieben, mit dem sie zur Bundestagswahl antritt.

Der Eitelkeitstanz zweier Egos

Das ist für sich genommen schon einigermaßen skurril: dass CDU und CSU abermals mit zwei gegensätzlichen, sich wechselseitig ausschließenden Aussagen in den Wahlkampf ziehen. Diesmal aber in einer ungleich entscheidenderen Frage als die vergleichsweise läppische Autobahngebühr.

Einige Zeit konnte man den Streit noch als Folklore betrachten, als Rechthaberei zweier Egos, also einen Eitelkeitstanz zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel. Denn einige Zeit blieb die Zahl der ankommenden Menschen in Europa in erster Linie wegen der geschlossen Route über den Westbalkan unterhalb der 200.000-Marke, die die CSU ausgerufen hat.

Wenn aber Wetter und Wellen es zulassen, werden die Menschen in den kommenden Wochen weiter verschärft versuchen, den Sehnsuchtsort Deutschland zu erreichen. Und schon stellt sich diese Frage dann ganz konkret.

Merkel schafft weitere Anreize

Die Innenminister der Mitgliedsländer der Europäischen Union sitzen darüber schon akut zu Rate. Italien fühlt sich abermals im Stich gelassen, der österreichische Außenminister Sebastian Kurz plädiert für eine rigorose Schließung der Balkanroute. Alles, was weitere Anreize schafft, so seine Argumentation, führt zu mehr Nöten der Mittelmeeranrainer und den nachgelagerten Staaten wie Österreich. Es führe auch zu mehr Toten im Mittelmeer. Darunter kann man ohne Arg auch das Nein der Kanzlerin zu einer Obergrenze verstehen. In Kurz erwächst ihr ohnehin ein neuer Gegner.

Die Frage, wie viele weitere Migranten Deutschland und Europa aufnehmen – und dann auch einigermaßen aussichtsreich integrieren – können, ist also ein hochaktuelles Thema für diesen Wahlkampf. Die Absage von Angela Merkel an die Obergrenze und die sich verschärfende Lage im Mittelmeer geben den Anlass.

Mehr Ude wagen

Statt allgemein von einer europäischen Lösung der Migrationsfrage zu reden, wie zuletzt in seinem 10-Punkte-Plan, müsste Merkels Herausforderer Martin Schulz mit einer eigenen Position antreten, die näher an der CSU/Seehofer (Obergrenze 200.000) als an CDU/Merkel (Kein Limit) liegt. Mit Angeboten und Antworten zu allen Fragen, die daran hängen, bis hin zur der einer einheitlichen europäischen Asylregelung. Dann ist der Wahlkampf mit einem Mal spannend und drückt sich nicht länger vor dem wichtigsten und drängendsten Thema.

Zugegebenermaßen ist es leichter für einen Politpensionär wie Christian Ude, ein Buch darüber zu verfassen, als für einen Parteivorsitzenden, seine Partei für einen solchen Wahlkampf hinter sich zu bringen. Aber Schulz müsste mehr Ude wagen in der SPD. Denn wenn Schulz sich dieses Herz fasste, würde sich dort eine Front auftun. Endlich.

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