Urteil zur Bundesnotbremse - In den Bahnen des Rechts?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Bundesnotbremse wurde von Politikern genauso verstanden, wie es gemeint war: als Einladung zu weiteren Zwangsmaßnahmen. Auch die bisher kategorisch ausgeschlossene Impfpflicht soll nun kommen. Damit könnte der Wesensgehalt des Grundgesetzes dauerhaft aus den Angeln gehoben werden.

Blankoschecks für die Politik: BVerfG-Präsident Stephan Harbarth mit Angela Merkel / dpa
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Gerhard Strate ist seit bald 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert in juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Foto: picture alliance

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Das Bundesverfassungsgericht hat sich entschieden: „In der erforderlichen Abwägung aller hier zu berücksichtigender Belange hat der Gesetzgeber für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen den mit den Ausgangsbeschränkungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den durch die Beschränkungen bewirkten erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden“, heißt es im Beschluss zur sogenannten „Bundesnotbremse“.

Mehrere Verfassungsbeschwerden gegen in der Vergangenheit verhängte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Zuge der Coronabekämpfung bleiben somit erfolglos. Dass der Erste Senat damit ziemlich exakt der beim gemeinsamen Abendessen von Justizministerin Lambrecht erörterten Regierungslinie folgt, konnte nur noch besonders vertrauensselige Zeitgenossen überraschen. Schon zuvor, im April 2021, hatte Stephan Harbarth als Präsident des Bundesverfassungsgerichts konstatiert, der Kampf gegen Corona verlaufe „in den Bahnen des Rechts“. Die vorliegende Entscheidung zeigt: Zumindest die sorgfältig gepflegte Metaebene von Judikative und Exekutive hat ihren ersten großen Stresstest bestanden, während der eigentliche „Stresstest für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ (O-Ton Harbarth) damit gerade erst begonnen hat.

Lustlos und redundant, wie eine Schallplatte mit Sprung, gibt der Entscheidungstext die einmal gefundene Linie wieder. Ja, es wurde in Grundrechte eingegriffen, konstatieren die Verfassungsrichter. Im Einzelnen nannten sie das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit aus Art. 6 sowie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 GG. Diese Eingriffe seien jedoch „formell sowie materiell verfassungsgemäß und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt“. Der allzu breite Handlungsspielraum, den das Verfassungsgericht damit dem Gesetzgeber einräumt, hat das Zeug zu einer unheilvollen Blaupause. Findet sie Eingang in die ständige Rechtsprechung, hat sie das Zeug dazu, den Wesensgehalt des Grundgesetzes dauerhaft aus den Angeln zu heben.

Denn schon die Konstruktion einer angeblichen staatlichen Schutzpflicht gegen Viruserkrankungen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, wie sie insbesondere in der Entscheidungsbegründung mit den Randnummern 174–177 dargelegt wird, öffnet eine Büchse der Pandora, deren juristische Untiefen noch längst nicht ausgelotet sind. Beinhaltet das Recht auf körperliche Unversehrtheit tatsächlich einen Anspruch darauf, von staatlicher Seite vor Erkrankungen geschützt zu werden? Geht diese Schutzpflicht des Staates sogar so weit, dass Menschen auch gegen ihren Willen vor den Unbilden des Lebens zu bewahren sind? Werden Impfunwillige demnächst von der Polizei beim Impfarzt „vorgeführt“, Übergewichtige zur Zwangsdiät verdonnert oder Nikotinkonsumenten durch staatlichen Eingriff zum Entzug genötigt? Mit juristischer Scheinlogik konstruieren jedenfalls ließen sich entsprechende Übergriffigkeiten auf diesem Wege mühelos. Damit hätte das Recht auf körperliche Unversehrtheit seine Unschuld verloren.

Keine roten Linien mehr

Noch ist all das schräge Zukunftsmusik. Doch ihr Klang wird durch den vorliegenden Beschluss bereits von Ferne deutlich vernehmbar. Die auffällige Begeisterung profilierungswütiger Politiker über diesen Blankoscheck ließ denn auch nicht lange auf sich warten: „Nach Karlsruher Corona-Urteil: Söder will neue Bundesnotbremse“, meldete der Bayerische Rundfunk noch am selben Tag. Auch die politische Zustimmung zu einer allgemeinen Impfpflicht nimmt deutlich zu, seit Karlsruhe das unfassbare Ausmaß seiner weitgehenden Kritiklosigkeit gegenüber sämtlichen staatlichen Coronamaßnahmen offenbart hat. Die Chancen, sogar dafür grünes Licht vom Bundesverfassungsgericht zu erhalten, stehen zumindest nicht schlecht.

Und so dürfen wir es als ganz konkrete Drohung verstehen, wenn Olaf Scholz verkündet: „Für meine Regierung gibt es keine roten Linien mehr bei all dem, was zu tun ist.“ Dabei darf er sich des allerhöchsten Segens gewiss sein: Auch Angela Merkel, die soeben in Begriff ist, als ewige Sachwalterin der Alternativlosigkeit in die Geschichte einzugehen, kann es nicht lassen, als eine ihrer letzten Amtshandlungen für eine allgemeine Impfpflicht zu plädieren. „Man habe gehofft, dass die Freiwilligkeit beim Impfen besser angenommen werde“, zitiert sie der Spiegel. Wer schon vorher geahnt hatte, was von ihrem eigenwilligen Verständnis des Prinzips Freiwilligkeit zu halten sein würde, galt bisher als Verschwörungstheoretiker.

Das Bundesverfassungsgericht hat es leider versäumt, juristische Leitplanken gegen derartige absehbare Entwicklungen zu errichten. Stattdessen bescheinigt das Gericht den angegriffenen Maßnahmen mehr oder weniger pauschal die Angemessenheit, Geeignetheit und Erforderlichkeit. Es lässt damit politische Scharfmacher Morgenluft wittern. Das ist ein Argumentationsritus, den der unvergessene Staatsrechtler Helmut Rittstieg dereinst als die „galoppierende Verhältnismäßigkeit“ bespottet hat. Ihre Beliebigkeit erhellt wenig und verdunkelt vieles.

Was bleibt? Das Bundesverfassungsgericht hat sich entschieden. Der Erste Senat unter Präsident Harbarth scheint die ihm zugedachte Rolle als Steigbügelhalter der Politik endgültig akzeptiert zu haben. Angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen ist das ein fataler Befund.

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