Urteil zur Sterbehilfe - Richtige Erwägung, falsche Entscheidung

Das geltende Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe beim Suizid ist verfassungswidrig. Das entschied das Bundesverfassungsgericht. Der Mensch habe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Ist das der erste Schritt zu einer zu laschen Handhabung mit dem „organisierten Tod"?

Das Recht zu Sterben? / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Am heutigen Mittwoch endet der Karneval. Die Narren geben das Zepter ab. Sieben Wochen beginnen, die Christen Fastenzeit nennen oder Passionszeit, Zeit der Umkehr, Zeit der Buße, Vorbereitung auf Ostern. Insofern war es eine effektvolle Dramaturgie, dass das Bundesverfassungsgericht heute eine Entscheidung verkündete, die ebenfalls mit Leben und Tod zu tun hat, mit Umkehr und Erlösung. Die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ darf künftig nicht mehr verboten werden.

Das entsprechende Gesetz von 2015 verstoße gegen das Grundgesetz, weil es das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ unterlaufe. Der Karlsruher Richterspruch ist einerseits konsequent – und andererseits heikel. Zur Befriedung der Gesellschaft trägt er nicht bei. Das Bundesverfassungsgericht denkt so hoch von der individuellen Freiheit wie sonst fast niemand mehr. Dafür gebührt ihm Lob und Respekt.

Wer die Freiheit einschränkt, braucht gute Argumente

Während die Gesellschaft sich in eine Gemeinschaft betreuter Fürsorgeobjekte verwandelt, unter der Aufsicht eines lenkungsgierigen Staates, beharrt das Bundesverfassungsgericht mit leidenschaftlicher Zähigkeit: Der „Freiheitsgedanke“ ist zentral für unser Menschenbild, die „Freiheitsgewährleistung“ der Sinn des Grundgesetzes, die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ sein Kern. So formulierte es heute Andreas Voßkuhle, der Präsident des Verfassungsgerichts.

Daran kann nicht oft genug erinnert werden: Jede Freiheitseinschränkung durch den Staat bedarf der Begründung. Der Normalfall muss der freie Mensch sein, nicht der gegängelte, dressierte, bevormundete. So und nicht anders sieht es das Grundgesetz vor.

Der Staat rahmt ein und sanktioniert

So und nicht anders bleibt Deutschland eine freie Republik. Die Würde des Menschen verwirklicht sich in dessen Freiheit – und sei es in der Freiheit zum Tode. Der Staat darf kein prinzipielles Stoppschild setzen. Er muss, so Karlsruhe heute, die „freie Entscheidung“ eines Menschen ebenso akzeptieren, wie es Weltanschauungsorganisationen, Kirchen, Parteien tun müssen.

In „Akte autonomer Selbstbestimmung“ darf sich der Staat nicht einmischen. Es muss ihm egal sein, wie Menschen ihr Leben gestalten, welche Werte sie ihm zugrunde legen, auf welchen Pfaden sie zu welchen Entscheidungen gelangen. Der weltanschaulich neutrale Staat schafft die Voraussetzungen für das friedliche Nebeneinander verschiedener Weltanschauungen gerade dadurch, dass er keine Weltanschauung vorgibt, keine christliche, keine atheistische, keine sonstige. Er setzt den Rahmen und sanktioniert Verstöße gegen diesen Rahmen. Das ist alles. Das ist sehr viel.

Das Recht auf Suizid hat keine Bedingungen

Insofern ist es bezwingend logisch, das Ende des Lebens und die Ausgestaltung dieses Endes dem zu überlassen, den es unbedingt angeht: dem einzelnen Menschen. Der Staat darf laut Karlsruhe das Recht auf Suizid nicht an Bedingungen knüpfen, etwa an das Vorliegen einer unheilbaren Krankheit oder an ein bestimmtes Alter. Und er darf das Tun von „Suizidassistenten“, Vereinen oder Ärzten, nicht kriminalisieren. Ein Recht, das zwar theoretisch genutzt, aber praktisch kaum verwirklicht werden kann, werde „in weiten Teilen faktisch entleert“.

Deshalb dürften „geschäftsmäßige Angebote“ der Hilfe zur Selbsttötung nicht verboten werden. Damit sind freilich keine profitorientierten Unternehmen gemeint, sondern regelmäßig wiederkehrende, auf Dauer gestellte Angebote. Aktive Sterbehilfe bleibt verboten. Niemand darf einen anderen Menschen zu Tode spritzen.

Suizidhilfe bindet Dritte

Der Lebensmüde muss das fragliche Medikament selbst nehmen, und er muss zuvor in freier Entscheidung geurteilt haben. Das Bundesverfassungsgericht weiß: „In Ländern mit liberalen Regelungen zur Suizid- und Sterbehilfe ist ein stetiger Anstieg assistierter Selbsttötungen und von Tötungen auf Verlangen zu verzeichnen.“

In Belgien dürfen sich selbst Minderjährige töten lassen, auch von psychisch Kranken hörte man. Schützt vor solchen inhumanen Weiterungen die Karlsruher Formel, es müsse sich um „in freier Selbstbestimmung gefasste Selbsttötungsentschlüsse“ handeln? Wie frei ist der sehr junge, der sehr alte, der sehr kranke Mensch? Über die Tat eines einzelnen kann und darf niemand richten. Die Suizidhilfe bindet aber Dritte.

Der Einstieg in das organisierte Sterben?

Diese dürfen, wie Karlsruhe heute bekräftigte, nicht gezwungen werden, eine solche Hilfe zu leisten: Tendiert ein System flächendeckender Suizidhilfe aber nicht wie jedes System zur permanenten Ausdehnung? Wird aus dem heute bekräftigten Recht, sich beim Sterben helfen zu lassen, nicht die Pflicht erwachsen, diese Leistung künftig überall und leicht erreichbar vorzuhalten? Wird dann nicht doch der heute in die Schranken gewiesene Staat in die Bresche springen und garantieren müssen, dass womöglich staatlich zertifizierte Sterbeassistenten in hinreichend großer Zahl bereitstehen? Wird dann nicht doch das individuelle Freiheitsrecht zur staatlichen Leistungspflicht?

Es wäre der Einstieg ins organisierte Sterben und also ein Rückschritt in Ansehung der Freiheit. Hinzu kommt: Der Mensch ist frei, aber nicht autark. Er braucht ein Du. Die zwischenmenschliche Beziehung zwischen dem Lebensmüden und dem, der sein Sterben ermöglicht, steht nun stärker denn je im Fokus vielseitiger rechtlicher Kautelen. Die Gefahr eines verhärteten Anspruchsdenkens ist gewachsen.

Und schließlich: Müssen die Ärzte ihre ebenfalls frei gewählten Standesregeln nun zwingend ändern, wenn diese, wie es in einigen Bundesländern der Fall ist, Beihilfe zur Selbsttötung verbieten? Darf das Verfassungsgericht derart weit in die Selbstorganisation von Verbänden und in das ärztliche Ethos eingreifen? Wird so trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht ein enormer Gewissensdruck aufgebaut? Das Bundesverfassungsgericht hat aus richtigen Erwägungen eine falsche Entscheidung getroffen.

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