Nach der Bundestagswahl - Der Höllenritt

Die Union ist bei der Bundestagswahl abgestürzt – die CDU ist tief gespalten, die CSU steht unter Schock. Kanzlerin Angela Merkel ist angeschlagen. Ausgerechnet jetzt muss sie ihre Partei auf extrem schwieriges politisches Terrain führen. Schon in ruhigeren Zeiten wäre das eine Herausforderung, die kaum zu bewältigen ist

Hat sie die CDU zu Tode gesiegt? Angela Merkel jubelt nach den Wahlergebnissen im Jahr 2009 / picture alliance
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Noch ein Tiefschlag, noch ein Absturz, der zweite innerhalb von nur drei Wochen. Erst im Bund, nun auch in Niedersachsen. Der sicher geglaubte Wahlsieg bei der Landtagswahl ist perdu. Und wieder stehen Christdemokraten vor den Mikrofonen und ringen nach Worten. Man habe sich ein besseres Ergebnis gewünscht, stammelt Spitzenkandidat Bernd Althusmann in Hannover – was man halt so sagt im Angesicht der Niederlage. Und dann klagt er auch noch über die fehlende Wechselstimmung und den fehlenden Rückenwind aus Berlin.

Die Bundeskanzlerin schickt am Wahlabend im Konrad-Adenauer-Haus ihren Generalsekretär Peter Tauber vor, auch dem fallen nur Floskeln und Durchhalteparolen ein: Landtagswahlen seien Landtagswahlen. Also abhaken und Richtung Jamaika blicken. Es schien ja schon bisher schwer genug zu werden, in Berlin zwischen CDU und CSU, FDP und Grünen einen Koalitionsvertrag auszuhandeln. Leichter ist es nach der Niedersachsenwahl nicht geworden.

Drei Wochen lang hatten die Christdemokraten gehofft, dem verheerenden Absturz bei der Bundestagswahl einen Achtungserfolg in Niedersachsen folgen zu lassen. Nach außen demonstrierte die Partei Geschlossenheit, auch wenn das Grummeln an vielen Stellen nicht zu überhören war. Mit der CSU wurde in großer Hektik ein Obergrenzenfriede vereinbart – vergeblich. Stattdessen offenbart die Niederlage in dem nördlichen Bundesland, wie tief die CDU bei den Wahlen dieses Herbstes tatsächlich gestürzt ist: ziemlich tief. Da nützt es wenig, wenn vor allem im Merkel-Lager unentwegt darauf verwiesen wird, die Union habe bei der Bundestagswahl ihre drei zentralen Wahlziele erreicht: Sie sei stärkste Partei geworden, ohne CDU und CSU könne keine Regierung gebildet werden, und Angela Merkel bleibe Bundeskanzlerin.

Klartext nur hinter verschlossenen Türen

Es ist ein teuer erkaufter Wahlerfolg. Die CDU ist über ihren zukünftigen Kurs tief gespalten. Die CSU steht unter Schock, der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer kämpft um sein politisches Überleben. Auch Angela Merkel ist angeschlagen, und ausgerechnet jetzt muss sie die Union auf extrem schwieriges politisches Terrain führen. Schon in ruhigeren politischen Zeiten wäre das eine Herausforderung, an der man leicht scheitern kann. Doch jetzt ist Jamaika Merkels letztes machtpolitisches Angebot. Für die Union könnte es zu einem Höllenritt werden. Einerseits muss die CDU in einem solchen Bündnis Zugeständnisse gegenüber Grünen und FDP machen, andererseits muss sie verhindern, dass die AfD noch stärker wird. Gleichzeitig bangt die CSU um ihre Sonderstellung im bundesdeutschen Parteiensystem. So zerrt jeder in eine andere Richtung. Die CDU könnte es dabei zerreißen.
 

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Doch so aussichtslos es einerseits scheint, mit vier derart unterschiedlichen Parteien ein Jamaika-Bündnis zu schmieden, so stark ist mittlerweile die Eigendynamik, die diese Konstellation entwickelt. Vor allem in der CDU werden die Möglichkeiten des Bündnisses allein deshalb überhöht, um von der eigenen desolaten Lage abzulenken. So groß die Skepsis gegenüber Jamaika ist, so groß ist deshalb mittlerweile auch der Druck, die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Zudem wird gerade von einer staatstragenden Machtpartei wie der CDU erwartet, dass sie es schafft, ein Regierungsbündnis zu schmieden. Scheitert Jamaika (und sind vor allem interne Auseinandersetzungen in der Union der Grund dafür), würden die Wähler CDU und CSU abstrafen. Selbst die CSU hat dies verstanden: „Das Land muss regiert werden“, sagt Thomas Kreuzer, der Vorsitzende der CSU-Fraktion im bayerischen Landtag, „allen ist die Verantwortung bewusst.“

Doch während in der CSU immerhin diskutiert wird, herrscht in der CDU seit dem 24. September eine gespenstische Sprachlosigkeit. Tacheles wird, wenn überhaupt, hinter verschlossenen Türen geredet. Freigeister in der CDU (von denen es nicht mehr viele gibt und von denen die wenigsten offen sprechen) erinnern sich mit Schrecken an den Wahlabend im Konrad-Adenauer-Haus. Draußen im Partyzelt herrschte fassungslose Stille, auf der Bühne im Atrium der Parteizentrale wurde eine surreale Show um Angela Merkel geboten, und alle klatschten, feierten und redeten, als sei der Absturz von 41,5 auf 32,9 Prozent reine Fiktion. Als sei die CDU in einstigen schwarzen Bundesländern wie Baden-Württemberg oder Sachsen nicht auf ihren absoluten Kern zusammengeschmolzen: auf jene Stammwähler, die unter allen Umständen Schwarz wählen. Trotzdem erklärte die Kanzlerin noch am Tag nach der Wahl, sie habe den Wahlkampf „gut durchdacht“ und „ich kann nicht erkennen, was wir hätten anders machen können“. Da passe nichts zusammen, Merkel und ihre Leute hätten „bis heute nicht begriffen, was da passiert ist“, stöhnt einer aus der Partei.

Unzufriedenheit und Zerrisenheit bei der Jungen Union

Die tatsächliche Stimmung ließ sich Anfang Oktober wie durch ein Brennglas auf dem Deutschlandtag der Jungen Union (JU) in Dresden beobachten. Eine schonungslose Aufarbeitung des desaströsen Wahlergebnisses hatte die Jugendorganisation von CDU und CSU angekündigt und radikale Konsequenzen gefordert sowie einen inhaltlichen und personellen Neuanfang mit frischen Gesichtern. Es gehe darum, das konservative Profil zu schärfen, und um eine klare Begrenzung der Zuwanderung. So steht es in der „Dresdner Erklärung“, die die Junge Union zu Beginn ihres Deutschlandtags verabschiedet hatte. Das Dokument ist eine Abrechnung mit der Parteichefin. Dazu bejubeln die Delegierten den Merkel-Kritiker Jens Spahn. Für den Satz „wir müssen alles dafür tun, dass es rechts von uns auf Dauer keine Partei geben darf und die AfD in vier Jahren weg ist“, wird er frenetisch gefeiert. „Make conservatism sexy again“ ist das unausgesprochene Motto an diesem Wochenende.

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Merkel ist für Samstagvormittag angekündigt. Eine fünfköpfige Gruppe aus Bayern verteilt Plakate im Saal. „Wir haben verstanden. Ihr auch?“, heißt es darauf, „Alle Ziele erreicht?“ oder „Zuwanderung begrenzen“. Der Deutschlandtag der Jungen Union ist für die Kanzlerin immer ein schwieriges Pflaster, doch so viel Gegenwind blies ihr noch nie ins Gesicht. „Das Vertrauen zu Merkel ist gebrochen“, sagt Johannes Alfery aus Landshut, einer der Plakatverteiler. Der 19-Jährige ist vor allem mit der Flüchtlingspolitik der vergangenen zwei Jahre unzufrieden – wie so viele. „Sie spielt sich als die Mutter Teresa Europas auf, ohne einen Plan zu haben“, sagt er.

Die Bundeskanzlerin betritt mit 20 Minuten Verspätung den Saal des Dresdner Kongresszentrums. Sie trägt einen grünen Blazer und steuert gut gelaunt die Bühne an. Dazu läuft das Lied „Troy“ von den Fantastischen Vier, die Menge klatscht brav im Takt. „Du hattest schlechte Zeiten, und wir war’n auch dabei. Wir werden dich begleiten. Wir bleiben troy“. Wenn das mal kein Wunschdenken ist angesichts der offensichtlichen Zerrissenheit ihrer Partei.

Merkels treue Anhänger

Die Parteichefin weiß den Unmut zu kontern. Gleich zu Beginn ihrer Rede verspricht sie einen Sonderparteitag zur Bestätigung des Koalitionsvertrags beim Jamaika-Bündnis. Schon jubelt der Parteinachwuchs. Ja, sagt sie, das Wahlergebnis ist schlecht, darum wolle sie gar nicht herumreden, doch man solle nicht außen vor lassen, dass die strategischen Ziele erreicht worden seien. Und schon spricht sie von den „riesigen Herausforderungen“, vor denen die Partei und das Land stehen. „Sprechverbote“ beim Thema mangelnde Integration, wie Jens Spahn sie am Abend zuvor beklagt hatte, kann Merkel nicht erkennen: Man müsse immer Probleme beschreiben dürfen und anschließend aber auch lösen, sagt sie.

Viel Allgemeines, wenig Konkretes. Daran ändert auch die anschließende Fragerunde nichts. Es werden brave, wie bestellt klingende Lobreden auf die Kanzlerin vorgetragen sowie mal energische, mal wütende, mal fast verzweifelt klingende Appelle. Von einer „krachenden Wahlniederlage“ spricht der bayerische JU-Landesvorsitzende Hans Reichhart. Doch das kommt nicht gut an. Auch viele treue Merkel-Anhänger sitzen im Saal. Dies zeigt sich vor allem, als Diego Faßnacht, JU-Kreisvorsitzender im Rheinisch-Bergischen Kreis in Nordrhein-Westfalen, vortritt und die Kanzlerin hart attackiert. Manch einer stöhnt schon vorher genervt auf und unterbricht dessen Wutrede, man kennt ihn hier.

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Als Faßnacht die Kanzlerin unverhohlen zum Rücktritt auffordert, buht ihn das Publikum aus. Ein Teil des Parteinachwuchses hat überzogen. Merkel hat nun ein leichtes Spiel. „Ich wurde gewählt, also fühle ich mich demokratisch legitimiert“, sagt sie lächelnd – Merkel hat gesiegt, mal wieder. Als sie nach gut anderthalb Stunden den Saal verlässt, wird sie mit verhaltenem, aber freundlichem Applaus verabschiedet, nur die bayerischen Delegierten erheben sich demonstrativ nicht von ihren Sitzen. Unzufriedenheit und Zerrissenheit bleiben, und damit die Frage, ob die aufgestaute Wut irgendwann zu einem Aufbegehren führt, oder ob die Kritiker irgendwann resignieren und die Partei implodiert.

Merkels Schachzug Volker Kauder

Erst einmal bleibt in der CDU alles beim Alten. Im Kanzleramt, im Konrad-Adenauer-Haus und auch in der Bundestagsfraktion. Es war schon eine machtpolitische Meisterleistung der Kanzlerin, ihren treuen Diener Volker Kauder gleich bei der ersten Fraktionssitzung nach der Wahl in der von 311 auf 246 Sitze geschrumpften CDU/CSU-Bundestagsfraktion als Fraktionsvorsitzenden bestätigen zu lassen. Die 53 Gegenstimmen und sechs Enthaltungen lassen sich verkraften. Erst einmal sind damit die Machtverhältnisse in der Fraktion und damit auch in der CDU geklärt.

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Denn natürlich weiß jeder, dass in der CDU nicht der Parteivorstand oder der Parteitag, sondern die Fraktion das einzige Gremium ist, das zum Aufstand und zum Kanzlersturz in der Lage wäre. Zwei Mal in ihrer Geschichte hat die Union einen Kanzler gestürzt: 1963 Konrad Adenauer und 1966 Ludwig Erhard. Beide Male hatte sich die Fraktion vom CDU-Kanzler abgewandt. Der Parteivorstand hingegen ist in der CDU immer nur das handzahme Abnickgremium des oder der Vorsitzenden.

Mit der Wahl Kauders hat Merkel erst einmal die Kontrolle über die Fraktion gewonnen. Ihr Schachzug erinnert an 2005, als sie nach der beinahe verloren gegangenen Bundestagswahl sofort nach dem Fraktionsvorsitz griff und so gegen den damaligen Amts­inhaber Friedrich Merz die entscheidende Schlacht gewann. Der hatte den Machtkampf in der Fraktion schon verloren, bevor er überhaupt Zeit gehabt hätte, seine Truppen für einen Sturz Merkels zu formieren.

Die Machtspielchen um die Merkel-Nachfolge

Die Kanzlerin sitzt also wieder fest im Sattel. Zumal keiner ihrer Kritiker in der Fraktion sich traute, Volker Kauder offen herauszufordern. Solange die Sondierungen und die Koalitionsgespräche mit FDP und Grünen anhalten, werden ihre Gegner sich nicht rühren können. Denn jeder innerparteiliche Streit könnte die Union während der Verhandlungen schaden.
Doch das gegenseitige Misstrauen in der CDU ist groß, die Auseinandersetzungen um den zukünftigen Kurs der Partei und auch die Machtspielchen um die Merkel-Nachfolge haben hinter den Kulissen längst begonnen. Die Lager belauern einander. So wurde etwa Jens Spahn in der Sitzung des CDU-Präsidiums verdächtigt, in der Fraktion Stimmung gegen Volker Kauder gemacht zu haben.

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Doch der entgegnete kühl, wenn er dies getan hätte, wäre Kauder nicht gewählt worden. Der Riss, der quer durch die CDU geht, ist nicht zu übersehen. Merkel hat sich zu Tode gesiegt, in zwölf Regierungsjahren hat sie viele Fehler gemacht. Niemand kann mehr sagen, wofür die CDU steht, niemand weiß mehr, warum sie regieren will. Bezeichnend, dass die Union glaubte, darauf verzichten zu können, den Wählern ein Rentenkonzept zu präsentieren, und stattdessen auf eine Rentenkommission verwies, die nach der Wahl Vorschläge für eine Reform erarbeiten soll. Bezeichnend, dass die CDU und die CSU viel zu spät spürten, wie sehr soziale Themen die Wähler im Wahlkampf bewegten.


Selbst im Kanzleramt war man erschrocken, wie aggressiv der zurückliegende Wahlkampf war: so hart wie nie zuvor, beherrscht von politischen Anfeindungen durch die Wähler. Obwohl es dem Land wirtschaftlich gut gehe, sei „im Gesamtgefüge etwas durcheinandergeraten“, heißt es dort.

Kritik an der Flüchtlingspolitik

Und wieder zeigen Kritiker bei diesem Thema auf die Kanzlerin. Erst durch die Flüchtlingspolitik habe sich für die Große Koalition in der Sozialpolitik ein gewaltiges Glaubwürdigkeitsproblem aufgetan. Ohne große Probleme sei es möglich gewesen, für die Integration von Flüchtlingen einen zweistelligen Milliardenbetrag aufzubringen, während zuvor viele sozialpolitische Forderungen mit Verweis auf die knappen Haushaltsmittel zurückgewiesen wurden. „Gerade die Bürger, die in den letzten Jahren mit ihren berechtigten Anliegen wegen knapper Kassen vertröstet wurden, haben die Frage gestellt, warum für Flüchtlinge viel Geld bereitgestellt werden konnte“, so schildert es etwa der CSU-Fraktionsvorsitzende Thomas Kreuzer.
Im Umfeld der Kanzlerin hingegen heißt es, das Flüchtlingsthema habe im Bundestagswahlkampf gar keine große Rolle gespielt. Die drei gewonnenen Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im Frühjahr seien zudem ein klares Zeichen dafür, dass das Gerede von der rechts offenen Flanke unzutreffend sei.
 

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Und wo im Wahlkampf rechts geblinkt wurde, in Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz, seien die Wahlen für die Union verloren gegangen. Entscheidend für die dramatischen Verluste bei der Bundestagswahl seien vielmehr vor allem soziale Fragen gewesen, insbesondere das Thema Renten und Mieten. „Wir haben keine offene rechte Flanke, sondern wir haben eine offene sozialpolitische Flanke“, wird in Merkels Umfeld gesagt. Bezahlbare Mieten seien vor allem in den Großstädten das absolute Top-Thema. Dazu: Rente, Pflege und Altersarmut, der Wegzug der Jüngeren aus dem ländlichen Raum oder die ärztliche Versorgung in strukturschwachen Gebieten. Kaum ein Wähler sei bei solchen Fragen nicht betroffen, und gerade weil es Deutschland insgesamt wirtschaftlich so gut gehe, zudem der Wahlsieg der Kanzlerin lange festzustehen schien, hätten manche Wähler den Eindruck gehabt, sie könnten sich eine Proteststimme zugunsten der AfD leisten.

Das ganze Land ist gespalten

Den einander widersprechenden Analysen folgen die unterschiedlichen Strategien für die Zukunft der CDU. Dabei verbirgt sich hinter der Forderung, die Partei brauche einen Kurswechsel und müsse auf ihren angestammten Platz rechts der Mitte zurückkehren, eine genauso große inhaltliche Leere wie hinter der Warnung vor falschen Signalen oder einem Rechtsruck. Konzepte oder Reformideen gibt es hier wie dort keine. Der Machterhalt ist für die Union stattdessen zum Selbstzweck geworden. Noch vor vier Jahren hat das gereicht, um mit einer präsidial über dem Parteienstreit stehenden Kanzlerin beinahe die absolute Mehrheit zu gewinnen. 41,5 Prozent erzielte die Union bei der Bundestagswahl 2013, nur fünf Mandate fehlten für den alleinigen Durchmarsch, weil es der Partei damals gelang, die FDP aus dem Bundestag zu drängen, und weil auch die AfD an der Fünf-­Prozent-Hürde scheiterte.
 

Doch nach ihrer Entscheidung vom September 2015, die Grenzen zu öffnen und eine Million Flüchtlinge ins Land zu lassen, nach dem Kontrollverlust, den der Staat in den Monaten danach offenbart hat, und nach dem Lavieren in der Integrationspolitik steht die Kanzlerin nicht mehr über dem Parteienstreit, sondern im Fokus der gesellschaftlichen Polarisierung. Merkel hat mit ihrer Flüchtlingspolitik nicht nur ihre Partei gespalten, sondern auch das Land. Die internationale Reputation, die Merkel weiterhin genießt, nützt ihr im Inland wenig. Unmittelbar vor der Bundestagswahl sprach sich nur jeder zweite Deutsche für eine weitere Amtszeit der Kanzlerin aus.

Der Obergrenzenkompromiss in der Union

Vor allem der unionsinterne Streit um die Obergrenze für Flüchtlinge entpuppte sich im Wahlkampf als Mobilisierungsbremse. Für die einen war es Beleg dafür, dass die CSU ein Papiertiger ist. „Wir halten, was die CSU verspricht“, hieß es dazu etwa auf einem AfD-Plakat in Bayern. Die anderen sahen, wie sehr Merkel durch den Streit beschädigt wurde. Ein Glaubwürdigkeitsproblem hatten letztendlich beide Partei­flügel, allen voran aber der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, der Merkel in den vergangenen zwei Jahren hart angegangen und im Wahlkampf wieder auf Schmusekurs gewechselt war.

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Da stellt sich die Frage, warum es CDU und CSU nicht gelungen ist, ihren Streit um die Flüchtlingspolitik schon vor der Wahl beizulegen. Warum kein Partei­stratege vorhersah, wie sehr die Nichteinigung beiden Parteien im Wahlkampf schaden würde. Vermutlich mussten CDU und CSU, mussten Merkel und Seehofer erst in den Abgrund blicken, der sich am Tag der Bundestagswahl aufgetan hat, um genügend Druck für eine erfolgreiche Kompromisssuche zu spüren. Ohne Einigung in der Union wären jedenfalls alle Jamaika-Träume geplatzt, bevor die Gespräche mit FDP und Grünen überhaupt begonnen hätten.

Und dennoch brauchte es einen politischen Kraftakt, um einen tragfähigen Kompromiss zu formulieren, in dem einerseits das Wort Obergrenze nicht vorkam, weil sonst Angela Merkel das Gesicht verloren hätte, und andererseits irgendwie die Zahl 200 000 festgeschrieben wurde, die Horst Seehofer für unverzichtbar hielt. Acht Stunden saßen die Delegationen beider Parteien am 8. Oktober im Konrad-Adenauer-Haus zusammen, inszeniert wurde das Treffen mit fünf Unterhändlern auf jeder Seite wie Sondierungsgespräche zwischen zwei konkurrierenden Parteien. Hart wurde gerungen. Zwei Mal standen die Gespräche vor dem Scheitern. Am Ende saß eine kleine Gruppe im Zimmer des Generalsekretärs und feilte an jedem Wort, bis eine Stunde vor Mitternacht weißer Rauch aufstieg.

Merkels Ansehen in der Welt

Welch ein Kontrast bot sich der Kanzlerin da ein paar Tage zuvor bei der Reise zum EU-Gipfel nach Tallinn. Außenpolitisch sieht das Leben der Angela Merkel nämlich ganz anders aus. Da ist sie immer noch die Anführerin der freien Welt, die dienstälteste europäische Regierungschefin, deren Erfahrung gebraucht wird, um etwa dem russischen Autokraten Putin oder dem irrlichternden amerikanischen Präsidenten Trump die Stirn zu bieten. Tallinn nimmt sich für die Kanzlerin wie eine verspätete Sommerfrische an der baltischen Ostsee aus. Hier scharen sich im trauten Kreis der Staats- und Regierungschefs ihre europäischen Kollegen um sie. Wenn abends noch ein Absacker an der Bar genommen wird, dann redet sie, die anderen hören zu. Dann ist sie im Zentrum, und die anderen stehen herum. Und wenn sie möchte, dass das Abendessen eine halbe Stunde früher serviert wird, dann lässt der Gastgeber, das kleine und ehrgeizige Estland, eben eine halbe Stunde früher auftragen.

Alle ihre europäischen Kollegen gratulieren Merkel artig zum Wahlsieg – eine vierte Amtszeit, das ist für die meisten außerhalb jeder Vorstellung –, die Schmach der Union und das starke Abschneiden der AfD, beides verschwindet zur marginalen Größe. Die Volksparteien zerbröseln überall in Europa, und mit Rechtspopulisten haben die meisten Staatschefs in ihren eigenen Ländern deutlich mehr zu schaffen. Oder sie sind selbst welche. Ein erquickendes Bad in Ehrfurcht und Respekt kann Merkel da übers Wochenende am Finnischen Meerbusen nehmen. Das Berliner Hickhack ist weit weg.

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Natürlich, ein Eintrag in den Geschichtsbüchern ist Merkel auch innenpolitisch sicher. Durch ihren vierten Wahlsieg hat sie mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl gleichgezogen. Am Ende dieser Legislaturperiode wäre sie länger im Amt als Adenauer – und Kohl ganz dicht auf den Fersen. Doch wenn eines Tages Bilanz gezogen wird, erst dann wird auch erkennbar sein, wie hoch der Preis ist, den die CDU dafür gezahlt hat.

Die CDU ist keine Volkspartei mehr

Denn rechts von CDU und CSU sitzt im Bundestag neben der FDP künftig noch eine durch den Wähler legitimierte Partei. Lange wurde der Zulauf für die AfD vom Merkel-Flügel der CDU mit dem Hinweis kommentiert, die eigene Partei könne in der Mitte mehr hinzugewinnen, als am rechten Rand zu verlieren sei. Ein Erfolg der AfD könne dem Modernisierungsprozess der Union sogar mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Union hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, und es spricht wenig dafür, dass die AfD schnell wieder verschwinden wird.
 

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Die AfD könnte für die CDU sogar zu einem ähnlichen Problem werden wie die Linkspartei für die SPD. Tatsächlich hat die Bundestagswahl gezeigt, dass es eine bürgerlich-konservative Mehrheit in Deutschland gibt: CDU, CSU, FDP und AfD erzielten zusammen 56,2 Prozent. Aber eine Regierungsbildung unter Einschluss der AfD ist undenkbar. Zum einen kann die Union um des eigenen politischen Überlebens Willen keinen Schritt auf die AfD zugehen. Gleichzeitig würde bei der AfD eine Abkehr vom harten Rechtskurs zur Explosion der innerparteilichen Konflikte führen.

Auch ist die CDU keine Volkspartei mehr. Ihre Vorrangstellung im bundesdeutschen Parteiensystem verdankte die CDU ihrer festen Verankerung in den unterschiedlichen Milieus, sie band katholische wie protestantische Wähler an sich, sie hatte einen sozialpolitischen und einen wirtschaftsliberalen Flügel, war sowohl in den Städten wie auch auf dem Land fest verankert, hatte starke Landesverbände. Ganz überwiegend wurde sie von Stammwählern getragen, die sie im Wahlkampf nur an die Wahlurnen mobilisieren musste. Ihren Status als Volkspartei leitet die CDU zudem daraus her, dass sie schon in den eigenen Reihen Kompromisse für die großen gesellschaftlichen Konflikte im Nachkriegsdeutschland austariert hat und diese über zahllose Vorfeldorganisationen in die Gesellschaft kommunizieren konnte. Nicht nur die Flüchtlingspolitik hat offenbart, dass die CDU dazu programmatisch nicht mehr fähig ist. Hinzu kommt: Die Union war jederzeit in der Lage, mit einem kleinen Koalitionspartner als Mehrheitsbeschaffer die Regierung zu stellen. Auch der ist ihr abhandengekommen.

Die kleinen Parteien profitieren

Das Konzept der Volksparteiendemokratie setzt zudem voraus, dass es eine andere Volkspartei gibt, die in einer polarisierten Gesellschaft als Regierung im Wartestand jederzeit bereit und in der Lage ist, die Regierung zu übernehmen: zwei Blöcke, die sich in der Gunst der Wähler wie kommunizierende Röhren verhielten. Die Schwäche der einen Volkspartei war immer die Stärke der anderen. Spätestens in diesem Wahlkampf zeigte sich, dass die Schwäche der SPD auch die Schwäche der Union ist. Als mit dem TV-Duell zwischen Merkel und Schulz offenbar geworden war, dass die SPD die Union nicht herausfordern kann, sondern allenfalls wieder Juniorpartner in der Großen Koalition wird, wandten sich nicht nur manche Wähler von der SPD, sondern auch viele Wähler von CDU und CSU ab.

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Die kleinen Parteien profitierten; das System kommunizierender Röhren kollabierte. Die Union fiel auf das schlechteste Ergebnis seit 1949. Die SPD konnte nicht einmal mehr mit sozialen Themen punkten und wurde vom Wähler so gedemütigt, dass der Parteiführung nichts anderes übrig blieb, als in die Opposition zu flüchten. Und der Union ging damit nach der bürgerlichen Mehrheit auch die zweite Machtoption verloren.
Für die Union bedeutet das eine weitere macht­strategische Verengung. Alle anderen drei Regierungsoptionen, die sie noch vor ein paar Monaten zu haben schien, sind verloren gegangen: Schwarz-Gelb, Schwarz-Grün und Schwarz-Rot. Bleibt Jamaika als letztes Aufgebot einer einst so stolzen Machtpartei.

„Natürlich wird es schwierig, jetzt eine Jamaika-­Koalition zu bilden“, heißt es in der unmittelbaren Umgebung der Kanzlerin, „aber wenn es jemand kann, dann Merkel aufgrund ihrer Erfahrung.“ Und die Koalitionspartner FDP und Grüne hätten vor Merkel einen Riesenrespekt, „das sehen selbst ihre Kritiker so“.

Eine Jamaika-Koalition wird schwer

Schwer wird es in der Tat. In der Flüchtlings- und Asylpolitik sperren sich die Grünen, der Parteiführung sitzt dabei vor allem der starke linke Funktionärsmittelbau im Nacken. In der Sozialpolitik, wo sowohl CDU als auch CSU nach den Erfahrungen im Wahlkampf starke Akzente setzen wollen, wird es nicht einfach mit der FDP, die sich im Wahlkampf wirtschaftspolitisch profiliert hat und seit dem Wahltag vor Selbstbewusstsein nur so strotzt. In der Finanzpolitik, in der Außenpolitik, in der Energiepolitik, der Industriepolitik liegen Welten zwischen den vier Parteien. Einzig die Digitalisierung könnte zu einem Thema werden, bei dem Union, FDP und Grüne gemeinsam ihre Zukunftsfähigkeit demonstrieren.

An der Spitze der Partien, so scheint es, ist die Bereitschaft, sich zusammenzuraufen, vorhanden. Unkalkulierbar aber sind die vielen Partikularinteressen in den Fraktionen, und schwer wird es auch, die Basis der Parteien mitzunehmen. Manch einem führenden Christdemokraten schwant da schon Böses: Nicht die Koalitionsverhandlungen seien die eigentliche Herausforderung, sondern die Zeit danach. Kaum vorstellen könne man sich, dass das Bündnis vier Jahre halte, „Jamaika wird die Hölle“.

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Immerhin: Angela Merkel will eine Jamaika-Koalition, Mitarbeiter erleben sie derzeit als „regelrecht befreit“. Sie möchte es noch einmal wissen, und offenbar will sie auch ihre Kritiker einbinden, etwa Jens Spahn, den bisherigen Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Er soll, so ist zu vernehmen, nach dem Abschied von Wolfgang Schäuble in den Koalitionsverhandlungen für die Union das wichtige Thema Finanzen verantworten. Anschließend könnte er Gesundheitsminister werden – angesichts der Herausforderungen in diesem Ressort wäre das allerdings eine vergiftete Beförderung.

Scheitert Jamaika, scheitert Merkel

Scheitern die Jamaika-Gespräche, wäre wohl auch Merkel gescheitert. Käme es zu Neuwahlen, würden die CSU und auch die Merkel-Kritiker in der CDU nach einem personellen Neuanfang rufen. Auch wenn weit und breit niemand in Sicht ist, den man rufen könnte. Das ist ein weiterer Preis, den die CDU für Merkels Eintrag in die Geschichtsbücher zahlt: Die Partei ist nicht nur programmatisch entkernt, sondern auch personell ausgehöhlt.

Ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin ist nicht in Sicht. Bezeichnend war, dass Merkel bei den Obergrenzen-Sondierungen zwischen CDU und CSU von vier Parteifreunden begleitet wurde, die alle nicht für die Nachfolge infrage kommen: Wolfgang Schäuble bereitet sich auf seinen politischen Ruhestand vor, Peter Altmaier und Volker Kauder wären dem konservativen und wirtschaftsliberalen Parteiflügel als treue Merkelianer nicht vermittelbar, Peter Tauber gilt als politisches Leichtgewicht.

Merkel und ihre Kritiker sind fester aneinandergefesselt, als ihnen lieb ist. Weder strategisch noch programmatisch oder personell kann sich die Union ein Scheitern der Jamaika-Verhandlungen leisten. Und vorgezogene Neuwahlen als Alternative zu Merkels Höllenritt? Da würden CDU und CSU wohl noch tiefer stürzen. Am Ende könnte die Dialektik der Herausforderung, vor der CDU und CSU stehen, zu der Erkenntnis führen, dass auch die Parole „Merkel muss weg“ für niemanden in der Union eine Lösung ist. Nicht einmal für Merkels ärgste Kritiker.

Dies ist die Titelgeschichte aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

 

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