Thüringen will aus den Corona-Maßnahmen aussteigen - „Wenn wir alles lockern, stehen wir wieder am Anfang“

Als erste deutsche Stadt hatte Jena die Maskenpflicht eingeführt. Umso irritierter reagierte Jenas Bürgermeister Thomas Nitzsche (FDP), als Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) in einem Zeitungsinterview radikale Lockerungen ankündigte. Jetzt ist Ramelow zurückgerudert. Doch die Sorge bleibt.

Geht es ihm um die Gesundheit der Bürger oder sein politisches Renommé? / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Thomas Nitzsche (FDP) ist promovierter Politikwissenschaftler und seit 2018 Bürgermeister der Stadt Jena. 

Herr Nitzsche, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hatte angekündigt, ab dem 6. Juni sollten die Landkreise und Städte selbst entscheiden, welche Regeln sie in der Coronakrise erlassen. Sie haben in einer ersten Stellungnahme auf Facebook vor diesem „Gang aufs Minenfeld gewarnt“. Sollten Sie sich als Bürgermeister von Jena über die neugewonnene Freiheit nicht eher freuen?
Herr Ramelow hat es am Dienstag bei einer Pressekonferenz schon etwas anders formuliert, als es nach seiner ersten Ansage zu verstehen war. Danach wollte er die bisher bestehenden Vorschriften sämtlich durch Empfehlungen ersetzen. Das hielte ich für gefährlich, weil ich nach wie vor der Auffassung bin, dass einige wenige zentrale Grundregeln bestehen bleiben müssen, solange wir noch keinen Impfstoff haben. Und diese Regeln müssen auch vom Land definiert werden. Sonst würde es zu einem kommunalen Flickenteppich führen. 

Am Dienstag hat Ramelow nach massiven Protesten aus der eigenen Koalition gesagt, er wolle weg von Verordnungen – hin zu Spezialregeln für einzelne Branchen. Ist er jetzt also wieder zurückgerudert? 
Zumindest habe ich ihn heute schon anders verstanden als Ende letzter Woche. Er hat jetzt gesagt, die Pflicht zur Mund-Nase-Bedeckung solle bestehen bleiben. Das beruhigt mich ein wenig.

Aber wenn der Ministerpräsident generell fordert, die Bürger müssten sich selbst schützen, spricht er Ihnen als Liberalem da nicht aus dem Herzen?
Könnte man denken. Aber ich glaube, mit reinen Empfehlungen und Geboten allein wird es nicht funktionieren. Wir sehen ja jetzt schon, was neben der breiten Akzeptanz in den sozialen Medien auch an Kritik kommt an solchen Regeln wie der Maskenpflicht. Ich schätze, ganz ohne Pflicht würden sich nicht genug Leute daran halten, um noch den Effekt des Herdenschutzes zu erreichen.    

Die Stadt Jena war die erste Stadt in Deutschland, die eine Maskenpflicht erlassen hatte – sogar für die Schulen. Auch in Ihrer Stadt stieß das nicht überall auf Verständnis.  
Das ist richtig. Wir hatten anfangs eine extrem hohe Akzeptanz. Wir haben aber auch gelernt, dass diese stark nachlässt, wenn die Bürger die Maske über einen längeren Zeitraum tragen müssen. So mal kurz beim Einkaufen oder im Naheverkehr, das ist kein Problem. Aber als wir versucht haben, die Maskenpflicht in den Schulen auch im Unterricht anzuordnen, ist es uns um die Ohren geflogen. Die 45 Minuten für die Kinder waren offensichtlich zu viel für die Akzeptanz der Eltern. Auch ein Verwaltungsgericht hat uns das untersagt. Deshalb mussten wir an der Stelle anders nachsteuern. Das geht aber mit einem Lüftungskonzept. 

Hat sich die Aufregung, die der Ministerpräsident mit einem Interview in der Thüringer Zeitung verursacht hatte, nach der Pressekonferenz am Dienstag  in Luft aufgelöst?
Das wird man sehen. Damals hat er genau genommen gesagt, dass er seinem Kabinett Vorschläge machen will. Das hat er am Dienstag getan. Das Kabinett hat noch nicht darüber entschieden, nur beraten. Insofern wissen wir noch nicht, wo das am Ende hinführen wird.

Aber er hat nochmal bekräftigt, dass Thüringen aus den allgemeinen Corona-Beschränkungen ausstiegen will. Was bedeutet das für Sie als Bürgermeister?
Es ist eine unklare Lage. Das ist schwierig. In dieser Situation waren wir aber öfter schon. Es ist häufig so gelaufen, dass der Ministerpräsident oder ein Minister etwas angekündigt hatten. Und dann ist die Dynamik in der Bevölkerung vielfach so, dass man davon ausgeht, als wäre das schon Gesetz. Bis dann die Rechtsverordnung kam, dauerte es aber immer noch ein paar Tage. Dieser Spagat ist schwer auszuhalten.  

Weil Sie als Bürgermeister zwischen Baum und Borke sitzen?
Ein wenig schon. Ich bin im ständigen Austausch mit anderen Bürgermeistern und Landräten, die haben das gleiche Problem. Das ist nicht schön. Aber wahrscheinlich gibt es auch keinen Weg, wie man das kommunikativ perfekt machen kann. 

Thomas Nitzsche / dpa 

Tatsächlich nicht? Selbst Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) will von Ramelows Kurswechsel aus der Thüringer Allgemeinen Zeitung erfahren haben. Wie vertrauenswürdig ist ein Kabinett, das sich nur auf den Willen des Regierungschefs stützt?
Kommunikativ ist das sicherlich nicht glücklich gelaufen. Auch wir haben davon erst aus der Zeitung erfahren, und dann auch noch an einem Freitag. Aber ich will das nicht bewerten. In der Folge haben ja mehrere Minister erklärt, dass sie diesen neuen Kurs nicht zu 100 Prozent mittragen würden, wenn man es vorsichtig formuliert. 

War das Interview in der Zeitung nur ein Bluff von Ramelow, um sein Revier zu markieren? 
Darüber will ich lieber nicht spekulieren. Ich weiß nicht, was seine Motive waren. 

Andere Ministerpräsidenten haben Ramelow für sein Vorpreschen kritisiert. Ist Ramelow  verantwortungsvoll, weil er sich um Schadensbegrenzung bemüht – oder verantwortungslos, weil er die Erfolge in der gesundheitlichen Prävention aufs Spiel setzt?
Im Kern finde ich den Impuls gar nicht so verkehrt, den er gesetzt hat – dass man versuchen sollte, sich langsam wieder in Richtung einer neuen Normalität zu bewegen. Man darf nur nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.  

Thüringen ist verhältnismäßig dünn besiedelt. Von zwei Millionen Einwohnern sind derzeit nur 250 infiziert, und das auch nur in einigen Landkreisen. Gerechnet hatte man mit 60.000 Patienten. Erscheinen Schließungen von Kitas, Schulen oder Restaurants vor diesem Hintergrundnicht tatsächlich als unverhältnismäßig?
Das wird ja im Moment gerade schrittweise aufgehoben. Kitas und Schulen hatten schon länger eine Notbetreuung für Kinder, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten. Das ist sukzessive geöffnet wurden. In unsere Kitas gehen schon wieder zusätzlich die Vorschulkinder und ihre Geschwister. Ab Anfang Juni müssen die Kitas wieder alle Kinder aufnehmen. Die Gastronomie ist auch schon wieder geöffnet, drinnen wie draußen. 

Aber wenn Thüringen anderen Ländern wie Berlin schon voraus ist, warum will  der Ministerpräsident dann noch die Verantwortung in die Kommunen verlagern?
Gute Frage. Zu großen Teilen liegt die Verantwortung ja schon jetzt bei den Kommunen, nämlich für die Umsetzung der vom Land angeordneten Maßnahmen. Das Land sollte nicht den Weg gehen, dass es komplett alles in die Verantwortung der Kommunen legt. Ein paar zentrale Regeln sollten schon bestehen bleiben. Da ist zum einen die Trias aus Hygiene, Abstand und Mund-Nase-Bedeckung. Mit Hygiene meine ich nicht nur das Händewaschen, sondern Hygienekonzepte für Einrichtungen. Die einzuführen, dafür braucht es Zeit, denn die Gesundheitsämter müssen die auch abnehmen können. Dazu kommen noch die Nachverfolgung der Infektionskette und ausreichend Testkapazitäten. Diese fünf Maßnahmen als Bündel, das ist das Minimum. 

Bundesweit mehren sich Beschwerden über die Grundrechtsbeschränkungen. Wie sieht es in Jena aus: Werden die Regeln noch von allen Bürgern akzeptiert?
Das Gros der Menschen in Jena wünscht sich sogar, dass die Maskenpflicht bestehen bleibt. Aber es wächst der Anteil derer, die davon genervt sind. Es ist ja auch nicht bequem, da müssen wir uns nichts vormachen. Und wenn jetzt noch in Aussicht gestellt wird, dass das als Pflicht aufgehoben wird, dann würden sich wahrscheinlich immer noch über die Hälfte daran halten. Aber das genügt nicht, um den Herdenschutz herzustellen. 

Aber kann man deshalb von einem „Minenfeld“ sprechen?
Ich hielte es für den falschen Ansatz, alle Regeln wegzulassen und nur noch zu reagieren, nachdem ein Hot Spot entstanden ist. Daher das drastische Bild. Wir hatten schon zwei solcher Fälle in Thüringen. Einmal musste der Ort Neuhaus  nach einer Karnevalsfeier abgesperrt werden, im Kreis Greiz hat sich das Virus nach zwei Familienfeiern verbreitet. Es reicht nicht, nur auf solche Ernstfälle zu reagieren. Wir müssen auch präventiv aktiv bleiben. Wenn gar keine Vorsichtsmaßnahmen mehr ergriffen würden, stünden wir wieder an dem Punkt, wo wir zu Beginn der Pandemie gestanden haben. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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