Terrorbekämpfung - „Eine große Hürde sind Eitelkeiten der Bundesländer“

Der Terroranschlag durch Anis Amri hätte verhindert werden können, wenn nicht unzählige Ermittlungspannen geschehen wären, sagt der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser. Er spricht von systemischen Problemen. Polizei und Nachrichtendienste gehörten reformiert.

Zwölf Menschen sterben beim Terroranschlag 2016 am Berliner Breitscheidplatz / dpa
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Autoreninfo

Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Der Rechtsanwalt und FDP-Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser hat seine Partei als Obmann im Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf den Berliner Breitscheidplatz vertreten. In seinem Buch „Sicherheitsrisiko Staat“ zeichnet er anhand der Fälle des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und des Terroranschlags in Berlin nach, wie eine Reform von Polizei und Nachrichtendiensten in Deutschland aussehen könnte.

2016, kurz vor Heiligabend, der Islamist Anis Amri steuert einen Lkw in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Zwölf Menschen sterben, 67 werden teilweise schwer verletzt. 200 Menschen kämpfen noch heute mit den körperlichen und psychischen Folgen. Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses aus diesem Monat ergab: Der Täter war der bekannteste islamistische Gefährder in Deutschland in 2016, die Behörden haben schlampig aneinander vorbei ermittelt. Wo bleibt die Empörung?

Die Empörung ist zumindest bei den Parlamentariern schon vorhanden. Die haben ja dreieinhalb Jahre versucht, die Vorgänge aufzuklären. Aber ja, Sie haben recht, mit der Zeit ist es nicht mehr im medialen Bewusstsein der Menschen, weil andere Dinge passieren. Und zum anderen hat die Bundesregierung uns gerade dort in der Aufklärung behindert, wo Versagen ganz deutlich wurde. Die Regierung wollte nicht, dass wir alle Steine umdrehen.

Inwiefern hat die Bundesregierung Ihre Aufklärung behindert? 

Wir haben beispielsweise als Opposition zweimal gerichtlich klagen müssen, einmal auf Aktenherausgabe, die man uns nicht geben wollte. Da haben wir vor dem Bundesgerichtshof gewonnen. Und ein zweites Mal vor dem Bundesverfassungsgericht, wo es darum ging, einen Zeugen zu laden: den Beamten, der eine Quelle des Verfassungsschutzes in der Fussilet-Moschee geführt hat. Dort hatte sich Anis Amri unter anderem in Berlin bewegt. Diesen Beamten hat uns die Bundesregierung als Zeugen verweigert. Das Gericht hat uns mit sieben zu einer Stimmen leider nicht recht gegeben.

Die eine Stimme im Sinne der Klage war der Verfassungsrichter Peter Müller.

Ja, er hat in seinem Sondervotum explizit geschrieben, dass durch das Urteil die parlamentarische Kontrolle bei Vertrauenspersonen de facto ausgeschaltet worden sei. Die Bundesregierung hat mit ihrer Verweigerung der Vernehmung gezeigt, dass sie dort, wo es um ganz grundsätzliche Strukturen und Arbeitsweisen geht, doch nicht so genau hinschauen wollte.

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Weil man von den fehlerhaften Strukturen ablenken wollte? 

Ja. Das Vertrauenspersonen-Wesen ist ja schon seit längerem in der Kritik. Wir haben es bei dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erlebt: 40 Spitzel von sieben Sicherheitsbehörden im Umfeld des Kern-Trios aus Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos. Die Vertrauensleute wollen über zehn Jahre nichts von den Taten mitbekommen haben, verhindert haben sie sie schon gar nicht. Bei Anis Amri haben wir in eineinhalb Jahren mindestens acht Spitzel in seinem Umfeld, die bis auf eine Quelle auch nicht gewarnt haben. Und da stellt sich natürlich die Frage: Werden diese Spitzel so richtig geführt, damit sachdienliche Hinweise geliefert werden, bevor etwas passiert? Ich finde nicht.

Dass wir in Deutschland so viele Sicherheitsbehörden im Bund und in den Ländern haben – mehr als 40, beruht ja auf einer Lehre aus der Nazi-Zeit: Polizei  und Nachrichtendienste sollen nicht gleichgeschaltet werden können. Das ist ja erstmal nicht verkehrt. 

So ist es. Ich will auch nicht am föderalen System rütteln, keinesfalls sollte alles von einem Zentralstaat aus Berlin geregelt werden. Aber wir müssen doch anerkennen, dass sich seit den 1950er Jahren, woher dieses System aus über 40 Behörden stammt, die Welt um uns herum fundamental verändert hat. Und damit auch der Terrorismus, der ist internationaler, vernetzter. Er bedient sich auch des Internets, um Menschen zu radikalisieren. Der ist professionell aufgestellt. Und da muss sich der Staat fragen, ob die Strukturen aus dem letzten Jahrhundert noch den Anforderungen der heutigen Zeit gerecht werden.

Benjamin Strasser / Foto: Anja Ruetz

Was brauchen wir, um der neuen Anforderungen Herr zu werden?

Wir haben es an mehreren Stellen erlebt, jetzt auch wieder im Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz, dass wir in Deutschland gerade in den Ländern zu kleine Behördenstrukturen haben. Verfassungsschutzämter, die zwischen 50 und 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschäftigen. Die können gar nicht die erforderliche Analysefähigkeit haben, um diese komplexer werdenden terroristischen Strukturen so aufzuklären, dass eben Gefährder aus dem Verkehr gezogen werden, bevor sie Anschläge begehen können. Deswegen muss man meiner Ansicht nach die Anzahl von Sicherheitsbehörden deutlich verringern, um so eine größere Schlagkraft und eine professionellere Aufstellung in den Behörden zu gewährleisten.

Welche Landesbehörde fällt Ihnen da ein, die nicht die erforderliche Analysefähigkeit besitzt? 

Der Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern mit fast 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat beispielsweise über die letzten Jahre ein Eigenleben entwickelt, so dass weder das Parlament in Schwerin noch das Innenministerium wusste, was in dieser Behörde alles vorgefallen ist. Dort gab es Hinweise einer Quelle auf Unterstützer von Anis Amri beim Anschlag und der Flucht – konkrete Namen. Trotz einer gesetzlichen Verpflichtung zur Weitergabe an die Polizei wurden diese Informationen nicht weitergeleitet. Man hat dadurch Ermittlungen nach dem Anschlag rechtswidrig hintertrieben. Das zeigt, dass gerade in diesen kleinen Strukturen nicht immer professionell gearbeitet wird. Genau diese Probleme haben wir beim NSU-Skandal in ähnlicher Weise so erlebt.

Wie könnte man die Kompetenzen bündeln?

Man könnte beispielsweise die Verfassungsschutzämter von Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Niedersachsen zu einem LfV Nord fusionieren. So gelänge es unter anderem besser entsprechende Fachkräfte von außen anzuwerben. Wie wollen Sie beispielsweise bei dem Thema Cyberkriminalität oder Cyberspionage IT-Fachkräfte anwerben als kleines LKA oder Landesamt? Dort scheitert es schon an den finanziellen Mitteln. Deswegen müssen Strukturen größer werden. Auch bundesländerübergreifend, damit man eben qualifiziertes Personal in den Behörden hat. Nach Anschlägen werden gerne Ankündigungen gemacht, wie viele Stellen man jetzt schafft. Und ein paar Jahre später stellt man fest, dass diese Stellen zu oft nicht besetzt worden sind.

Bleiben wir bei Ihrem fiktiven Beispiel des „Verfassungsschutz Nord“. Was wären die gesetzlichen Grundlagen, die es bräuchte, um einzelne Landesämter in so eine übergeordnete Behörde zusammenzuführen?

Was es dringend braucht, ist eine Föderalismuskommission III zur Reform der Inneren Sicherheit. Das ist ein Gremium, das wir in den 2000er Jahren schon zweimal zu anderen Themen hatten. Dort setzen sich Bund und Länder an einen Tisch und analysieren: Wie ist die Lage und wer braucht welche Kompetenzen und in welcher Aufstellung in den nächsten Jahrzehnten? In einem solchen Gremium könnte man dann beispielsweise diskutieren: Ist es notwendig, kleinere Behörden zu fusionieren? Oder funktioniert es besser über Staatsverträge zwischen den Ländern bestimmte Kompetenzen von kleineren Ämtern an größere abzutreten, ohne Behörden als solche aufzulösen? Da gibt es verschiedene Denkmodelle.

Thomas de Maizière (CDU) hat ja schon 2017 nach der Aufarbeitung des NSU-Terrors als damaliger Bundesinnenminister gefordert, dass auf Landesebene Strukturen verschlankt werden. Und er stieß auf Widerstand, bisher hat sich nichts getan. Haben die Landesämter Angst vor Machtverlust?

Eine große Hürde sind Eitelkeiten der Bundesländer, ja. Ich sehe ansonsten keinen sachlichen Grund, der gegen eine entsprechende Reform spricht. Mich hatte sehr verwundert, dass es von der CDU in der Abschlussdebatte zum Terroranschlag zum ersten Mal plötzlich hieß, man müsste alle LfVen auflösen und im Bundesamt integrieren. So weit würde ich gar nicht gehen. Nur lässt sich die Union zum ersten Mal überhaupt auf eine solche Diskussion im Parlament ein.

Und glauben Sie, dass die Union künftig eine Reform der föderalen Sicherheitsstruktur mitträgt? 

Man darf gespannt bleiben. Der Druck steigt merklich im Kessel. Ich würde es mir wünschen, dass wir da einen deutlich größeren Schritt gehen. Selbst die Corona-Pandemie hat ja im Bevölkerungsschutz gezeigt, welche Auswirkungen falsche Strukturen haben können: Bevölkerungsschutz ist Ländersache. Es gab im Jahr 2012 eine gemeinsame Risikoanalyse zu einer Viruspandemie, die in den Ländern nicht umgesetzt wurde. Der Bund hat nicht einmal eine zentrale Koordinierungsfunktion. Das will man jetzt wohl ändern. Es könnte vielleicht ein Türöffner sein für eine große Föderalismusreform im Bereich der Inneren Sicherheit. Immerhin ist der Bevölkerungsschutz ein Teil unserer Sicherheitsarchitektur.

So richtig zufriedenstellend kann die Arbeit der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste nicht sein, wenn sich die Arbeit mehr oder minder darauf beschränkt, Aufklärung nach einem Skandal zu leisten.

Die parlamentarischen Zügel bei der Kontrolle von Nachrichtendiensten müssen massiv angezogen werden. Wir haben ein sogenanntes Parlamentarisches Kontrollgremium, in dem neun von 709 Abgeordneten des Deutschen Bundestages sitzen. Dieses Gremium tagt geheim. Und es wird vor allem von den Behörden informiert, die man kontrollieren soll. Mich beschleicht zunehmend der Eindruck, dass nur in den seltensten Fällen proaktiv Strukturprobleme durch die Nachrichtendienste kommuniziert werden. Allzu oft werden diese erst in Untersuchungsausschüssen bekannt.

Wie sollte sich die Kontrolle der Nachrichtendienste denn dann verbessern?

Wir brauchen unter anderem einen parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten, der als Frühwarnsystem und Hilfsorganisation des Parlaments agiert. Mit hundert Mitarbeitern im Rücken soll er unangekündigt stichprobenartige Kontrollen in den Nachrichtendiensten durchführen. Durch eine rechtzeitige Information über mögliche Missstände haben wir so als Parlament die Möglichkeit einzugreifen, bevor der nächste Anschlag passiert. Nachrichtendienste leben vom Vertrauen der Bevölkerung, welches im Fall von NSU, NSA und Amri tief erschüttert worden ist. Deswegen gilt es, parlamentarische Kontrolle zu stärken. Nicht nur, weil es ein wichtiges Instrument des Rechtsstaats ist, sondern weil es auch das Vertrauen in die nachrichtendienstliche Arbeit stärkt.

 

Das Gespräch führte Uta Weisse.
 

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