Staatsversagen im Kampf gegen Terror - Aus Mangel an Verantwortung

Am Berliner Breitscheidplatz sprechen die verantwortlichen Politiker von „Versäumnissen“, die es aufzuklären gilt. Am selben Tag erscheint ein Bericht, dass in Berlin islamistische Gefährder wegen Verfahrensfehlern frei kommen. Die Kluft zwischen politischen Beteuerungen und der nackten Realität vergrößert sich stetig

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und Kanzlerin Angela Merkel: Führungspersonal ohne Führungsverantwortung / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Manchmal fällt es schwer, sich nicht dem Zynismus zu ergeben. Gestern war so ein Tag. Und das lag nicht an den gepanzerten Limousinen der Spitzenpolitiker, die einem mit Blaulicht und Polizeieskorte entgegenkamen, unterwegs zur schwer gesicherten Gedenkfeier am Berliner Breitscheidplatz. Solche Veranstaltungen folgen ihrer eigenen Choreographie, zu der entsprechende Schutzmaßnahmen ebenso gehören wie salbungsvolle Worte der Anteilnahme. Aber beim ersten Jahrestag des Terroranschlags eines Islamisten mit zwölf Toten und mehr als 50 zum Teil schwer verletzten Menschen ging es eben nicht nur darum, dem Mitgefühl eine gewissermaßen offizielle Note zu verleihen. Sondern auch Lehren zu ziehen aus dem erschütternden Staatsversagen, das dem Blutbad vom 19. Dezember 2016 vorausgegangen war. Die Details sind inzwischen bekannt.

Führungspersonal ohne Führungsverantwortung

Und genau an dieser Stelle, am Breitscheidplatz nämlich, tat sich gestern eine Lücke auf, die für manchen Bürger zeitweise nur noch mit Zynismus, wenn nicht mit stummer Empörung zu überbrücken gewesen sein dürfte. Nämlich die Kluft zwischen politischen Beteuerungen und der nackten Realität. So redete also die Bundeskanzlerin von jenen „Dingen“, die „nicht gut gelaufen“ seien und für die künftig ein „besser machen“ gelten müsse. Oder der Bundespräsident, der versprach, „Versäumnisse“ aufzuklären und „aus Fehlern lernen“ zu wollen. Und nicht zuletzt Berlins Regierender Bürgermeister, der die Anwesenden „für diese Fehler um Verzeihung“ bat, die geschehen und den Opfern zum Verhängnis geworden waren.

Es ist zugegebenermaßen immer einfach, einzelnen Vertretern des Staates die Schuld für „Versäumnisse“, „Dinge“ und „Fehler“ (um in der Gedenkveranstaltungsdiktion zu bleiben) zuzuweisen, die ja oft mehr die Folge eines systematischen Versagens vieler Beteiligter sind. Aber dieses dysfunktionale System folgt eben keinen Naturgesetzlichkeiten, sondern es kennt auch Verantwortliche. Und Politik hat immer etwas damit zu tun, am Ende persönlich Verantwortung zu übernehmen anstatt diese in ein unübersichtliches Geflecht von Verantwortungsrinnsalen zu leiten, das sich nicht mehr an seine eigentliche Quelle zurückverfolgen lässt. Wenn aus der demokratischen Legitimation des politischen Führungspersonals keine persönliche Führungsverantwortung mehr erwächst, dann untergraben wir unsere Gesellschaftsordnung.

Potenzieller Terrorist kommt wegen Verfahrensfehlern frei

Zurück also zum Abgrund zwischen Gesagtem und Geschehendem. Während am Breitscheidplatz von politischen Verantwortungsträgern ersten Ranges beteuert wurde, Konsequenzen aus den fatalen Fehlern im Umgang mit dem späteren islamistischen Massenmörder gezogen zu haben, stößt der geneigte Leser des Berliner Tagesspiegel im Lokalteil auf folgenden Artikel: „Islamistischer Gefährder kommt frei“ hieß es auf den Tag genau ein Jahr nach dem Breitscheidplatz-Attentat in der Überschrift, von einer „unangenehmen Geschichte“ ist darin die Rede. Es geht um drei Iraker, die für die Terrormiliz IS gekämpft haben sollen und gegen die wegen bandenmäßigen Handels mit Rauschgift Anklage erhoben worden war. Weil im Berliner Justizapparat Fristen versäumt, Übersetzungen aus dem Arabischen nicht rechtzeitig angefertigt und eben mit der üblichen wechselseitigen Zuweisung von Verantwortlichkeiten ans Werk gegangen wurde, mussten die Haftbefehle unlängst aufgehoben werden.

Über den Fall des Angeklagten Younis El-H. (genaues Alter und korrekter Name sind übrigens unbekannt) ist zu lesen: „Damit gilt der Iraker als potentieller Terrorist. Dass er nun frei ist und womöglich untertaucht, bewerten Sicherheitskreise als fatal. Erst recht vor dem Hintergrund, dass auch Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz, schon lange vor dem Anschlag als Drogendealer und Gefährder bekannt war.“ Wie gesagt: Am Erscheinungstag dieses Artikels bat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller die Angehörigen und Opfer Anis Amris um „Verzeihung“ für die Versäumnisse von damals. Wahrscheinlich war ihm das nicht einmal peinlich, denn das Prinzip Verantwortungslosigkeit gehört in Deutschlands Hauptstadt eben zum System. Man kennt es in Berlin gar nicht mehr anders.

Attentäter von Paris gilt in Berlin als Märtyrer

Am Vortag der gestrigen Gedenkveranstaltung erschien übrigens in einer anderen Berliner Zeitung, der BZ, ein denkwürdiger Artikel über eine inzwischen etwas bekannter gewordene Ausstellung im Kunstquartier Bethanien. Mit finanzieller Unterstützung der Kulturstaatsministerin im Kanzleramt geht es bei der Kreuzberger Schau um den „Begriff des Märtyrers“; auseinandergesetzt wird sich dort neben Persönlichkeiten wie Sokrates und Martin Luther King auch mit Ismael Omar Mostefai, einem der Attentäter vom Pariser Bataclan, wo vor zwei Jahren 89 Menschen zum Teil bestialisch ermordet wurden. Man kann das geschmacklos finden oder künstlerisch wertvoll – Fakt ist, dass die französische Botschaft in Berlin gegen diese Ausstellung Protest eingelegt hat. Und da macht es schon einen kleinen Unterschied, ob es sich um eine private Kunstaktion handelt, oder ob das Steuergeld dafür vom Bund stammt.

Halten wir also fest: Einen Tag vor dem Jahresgedenken zum Breitscheidplatz-Attentat lässt ein Sprecher von Kulturstaatsministerin Monika Grütters verlauten, man bedauere „außerordentlich“, dass „die Gefühle von Bürgerinnen und Bürgern – vor allem in Frankreich – verletzt“ worden seien. Und werde als Konsequenz daraus mit der Jury, die die Märtyrer-Ausstellung als förderungswürdig empfahl, „über die Auswirkungen des Projekts nochmal sprechen müssen“. Monika Grütters, ganz nebenbei, war am Dienstag selbst unter den Teilnehmern beim Gedenken an den Weihnachtsmarkt-Anschlag.

Darf man sich an dieser Stelle die Frage erlauben, ob auch Anis Amri mit staatlichen Fördermitteln in den Kontext des Märtyrertums gestellt worden wäre? Oder wiegt ein islamistischer Terroranschlag in Frankreich im Zweifelsfall dann doch nicht so schwer wie einer vor der eigenen Haustür? Nein, Zynismus ist keine gute Antwort auf einen versagenden Staat. Aber wenn staatliche Stellen sich selbst als verantwortungslose Zyniker gerieren, fällt es einem manchmal nicht leicht, einfach nur ganz sachlich an das Verantwortungsbewusstsein zu appellieren. Versuchen wir es dennoch.

Anzeige