Studium unter Corona-Bedingungen - Universität ohne Präsenzlehre – ein Erfahrungsbericht

Während in Dänemark, Schweden und den Niederlanden schon jetzt die letzten Einschränkungen des öffentlichen Lebens zurückgenommen werden, tut man sich in Deutschland noch immer schwer damit, den „Exit“ aus der Pandemie zu schaffen. Panische Eltern trauen sich nicht, ihre Kinder in die Schule zu schicken, staatliche Universitäten kehren nur vereinzelt zur Präsenzlehre zurück. Ein Anlass, zurückzublicken.

So dürften sich die wenigsten ihr Studentenleben vorgestellt haben / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Die ersten Meldungen über Corona-Fälle in Bayern kamen Ende Februar 2020. Zu dem Zeitpunkt befand ich mich am Ende meines ersten Mastersemesters. Sehr bald war schon von den ersten Hochschulschließungen in Süddeutschland die Rede. Was aber die Situation an meiner Universität in Berlin anging, reagierte der damals von mir aufgesuchte Studienberater gelassen: So schlimm, dass die Universität geschlossen wird, könne es nicht kommen. Kaum jemand hätte damals ahnen können, wie falsch er mit dieser Einschätzung lag.

Als im März 2020 der erste Corona-Lockdown durchgesetzt wurde, befand ich mich mitten in den Semesterferien. Wie so viele andere, war auch ich davon überzeugt, dass alles bald ein Ende haben würde: Wir sollten zwei Wochen zuhause bleiben, vielleicht auch drei oder vier Wochen, um das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Ein paar AHA-Regeln müsse man einhalten und möglichst Masken beim Einkauf oder U-Bahn-Fahren aufsetzen, dann sei die Lage wieder unter Kontrolle. Die Bilder aus den überfüllten Krankenhäusern in Wuhan und die Armeelastwagen aus Bergamo gingen um die Welt, ohne dass jemand sich die Zeit nahm, ihre Herkunft gründlich zu prüfen und sie in den richtigen Kontext zu stellen. Der Hashtag #flattenthecurve ging um die Welt, das Zuhausebleiben galt auf einmal als ein Akt der Solidarität.

Die geistige Konzentration vor dem Bildschirm schwand schnell dahin

Kaum jemand bezweifelte damals, dass sich alle irgendwann mit Sars-Cov-2 anstecken würden. Die Begriffe „Durchseuchung“ und „Herdenimmunität“ waren noch keine politischen Unwörter. Es war noch nicht einmal klar, ob ein Impfstoff gegen das Coronavirus mit den bestehenden medizinischen Mitteln herstellbar sein würde. Gegenüber der Politik gab es seitens der meisten Bürger noch insofern einen Vertrauensvorschuss, als dass für alle die Situation neu war und die meisten das Handeln der Bundesregierung für einigermaßen rational hielten. Wie so viele andere, befolgte auch ich die Regeln und hielt die Theorie, dass es noch zwei Jahre so oder so ähnlich weitergehen würde, für ausgemachten Humbug. Auch wenn ich auf eine baldige Öffnung der Universität und ihrer Bibliotheken hoffte, schrieb ich mangels anderer Möglichkeiten meine Hausarbeiten zuhause.

Und so startete das erste Online-Semester mit Zoom und Webex – einer Konferenzsoftware, in der man vom Studenten zum sprechenden Kästchen degradiert wurde. Den Dozenten wird es wohl kaum besser ergangen sein: Viele waren völlig planlos mit der Situation konfrontiert, denn digitale Lehre hatte bislang nicht auf der Agenda meiner Universität gestanden. Die geistige Konzentration vor dem Bildschirm schwand bei mir schnell dahin. Der Rechtswissenschaftler Oliver Lepsius sprach vielen Studenten aus der Seele, als er im Juni 2021 im Verfassungsblog den Unterschied von Online-Veranstaltungen zur Lehre in Präsenz folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Alle werden inzwischen gespürt haben, welchen Unterschied eine Vorlesung in Präsenz oder als Zoom ausmacht. Man rühmt, Zoom-Sitzungen seien konzentrierter und kürzer. Sie fördern aber die Diskursregulierung des Sitzungsleiters. Es wird eine vorgegebene Agenda abgearbeitet. Die Veranstaltung dient nicht mehr dem Nebenzweck, über Dinge nachzudenken, neue Dinge aufzuwerfen, Gedanken auch spielerisch oder mit den rhetorischen Möglichkeiten des Scherzes oder der Ironie auszuprobieren. Die Sachlichkeit von Zoom-Veranstaltungen hat eine hierarchieverstärkende und kreativitätshinderliche Kehrseite.“

Organisatorisch und finanziell vom Staat abhängig

Ähnliches nahm ich bei den Schülern wahr, denen ich damals für eine Nachhilfefirma per Zoom Nachhilfeunterricht in Deutsch und Französisch geben musste. Je länger sie zuhause vor dem Bildschirm saßen, desto lethargischer und unkonzentrierter wurden sie. Mit der Motivation und den Lernmöglichkeiten verschlechterten sich auch ihre Kenntnisse, ohne dass ich viel dagegen tun konnte. Alle Kneipen und Bars, in denen ich gerne mit Freunden Zeit verbracht hatte, blieben monatelang geschlossen. Als sie dann aber wieder geöffnet waren, schien es fast schon für einen Moment so, als wäre die Zeit der Lockdowns und Einschränkungen vorüber. Schon im Spätherbst 2020 wurde aber erneut ein Lockdown beschlossen, und eine Öffnung der Universität rückte in weite Ferne.

Es ist mir bewusst, dass die Hochschulpolitik stets eine Abwägung zwischen der Sicherheit der Studenten und der Qualität der Lehre treffen muss. Es wäre auch illusorisch zu glauben, sie könne völlig unabhängig von staatlichen Richtlinien agieren – schließlich ist sie organisatorisch und finanziell vom Staat abhängig. Bis dahin hatte man aber nicht einmal versucht, den Studenten wieder die Möglichkeit zu geben, Seminare auf dem Campus zu besuchen und die Bibliotheken vor Ort zu nutzen. Jedesmal wurden angeblich steigende Infektionszahlen oder zu kleine Seminarräume und Vorlesungssäle dafür vorgeschoben, dass der Lehrbetrieb weiter online stattfand und den Studenten alle Möglichkeiten genommen wurden, ihre Dozenten wenigstens in der Sprechstunde kennenzulernen oder im Seminar neue Bekanntschaften außerhalb der digitalen Sphäre zu schließen.

Meine letzte Bekanntschaft aus dem Studium ist über zwei Jahre her

Nach anderthalb Jahren Schließung begann im Oktober 2021 das erste (!) Semester mit der Möglichkeit eines Präsenzstudiums – dann aber mit FFP2-Maskenpflicht und 3G-Regel in Seminarräumen. Schon zwei Monate später wurde diese „Lockerung“ wieder zurückgenommen: Es hieß, die Universität könne die Aufrechterhaltung des Präsenzbetriebs angesichts steigender Infektionszahlen infolge der neuesten Omikron-Mutation nicht verantworten. Daher habe man sich selbst einen „Teil-Lockdown“ verordnet, in dessen Folge der Lehrbetrieb zum größten Teil wieder aus der Universität verbannt wurde. Sprechstunden vor Ort konnten nicht mehr stattfinden. Und wie immer klang die Danksagung am Schluss der entsprechenden E-Mail der Universitätsleitung wie blanker Hohn: „Wir danken Ihnen ganz herzlich für Ihre Mitwirkung an einem weiterhin verantwortungsbewussten Hochschulbetrieb in diesem Wintersemester.“

Meine letzte Bekanntschaft aus dem Studium ist über zwei Jahre her. Wie viele andere Studenten hatte ich kaum die Möglichkeit, mich mit Kommilitonen zu vernetzen und von allen Möglichkeiten einer bürgerlichen Öffentlichkeit zu profitieren, wie es sie vor „Corona“ gegeben hatte: mit einem freiem Zutritt zu Lehrveranstaltungen, Vorträgen oder Konferenzen. Ohne Maskenpflicht, ständige Kontrollen der Impf- oder Genesenennachweise und panisch durchgesetzte Abstandsregeln.
Womöglich befürchtet die Hochschulpolitik einen Gesichtsverlust, sollte sie bislang geltende Regeln von heute auf morgen zurücknehmen. Und das mit Recht: Das käme schließlich dem Eingeständnis ihrer eigenen Inkompetenz gleich. Auch könnte eine solche Rücknahme unter manchen Studenten schnell zu Verunsicherung und Überforderung führen, wenn sie nach fast zwei Jahren ohne reguläre Präsenzlehre kaum mehr etwas anderes kennen als einen stark reduzierten Lehrbetrieb. Wenn aber die Universität ihr Ansehen unter den Studenten wiederherstellen will, wäre es gerade jetzt an der Zeit, in Kooperation mit der Studentenschaft eine offene Debatte über die Rückkehr zur regulären Präsenzlehre zu ermöglichen und die Kritik an ihrem bisherigen Vorgehen transparent zu machen.

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