Streitgespräch - „Wechselnde Mehrheiten können Demokratie spannend machen“

Kolumne: Lechts und Rinks. Hat die SPD mit ihrem Alleingang bei der Homo-Ehe den Koalitionsvertrag gebrochen? Publizist Hugo Müller-Vogg sagt „Ja“, SPD-Politikerin Angela Marquardt findet es grundsätzlich problematisch, Abgeordneten einheitliches Abstimmen vorzuschreiben

Martin Schulz feiert mit der SPD-Bundestagsfraktion die Gleichstellung homo- und heterosexueller Partnerschaften / picture alliance
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Angela Marquardt saß von 1998 bis 2002 für die PDS im Bundestag. 2003 trat sie aus der Partei aus, und 2008 in die SPD ein. Sie ist Mitarbeiterin im Bundestagsbüro von Sozial- und Arbeitsministerin Andrea Nahles sowie Geschäftsführerin des Arbeitskreises „Denkfabrik“ der SPD.

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Müller-Vogg: Hat sich Ihr Kanzlerkandidat eigentlich schon bei Angela Merkel für seine Aussage, der Wahlkampf der CDU sei „ein Anschlag auf die Demokratie“, entschuldigt? Oder halten Sie den Begriff „Anschlag“ in den Zeiten des IS-Terrors für eine angemessene Vokabel?

Marquardt: Sicher keine gelungene Wortwahl, aber der Kern der Aussage ist richtig. Und darum geht es. Man kann unsere Konzepte falsch finden, aber wir haben mit unserem Wahlprogramm wenigstens ein konkretes Angebot vorgelegt. Merkel bleibt im Vagen. Wir wissen, was sie nicht will, zum Beispiel eine Rentenreform. Sie verhindert den politischen Diskurs, von dem die Demokratie lebt.

Müller-Vogg: Bei der Rente bin ich ganz bei Ihnen. Ich halte den Verweis von CDU/CSU auf eine „Experten-Kommission“ nach der Wahl für nicht redlich. Die Union will halt vor der Wahl nicht sagen, dass es zwischen längerer Lebenszeit und Renteneintritt einen Zusammenhang geben muss, wenn das System finanzierbar bleiben soll. Auch die SPD nährt mit ihrem Festhalten an der Rente mit 67 nur Illusionen. Nur kann ich nicht erkennen, dass durch den Verzicht auf konkrete Programme die Demokratie gefährdet würde. Sehen Sie es doch positiv: Ohne Gegenkonzept müssten die SPD-Pläne doch noch überzeugender wirken. Wo hat sich jemals ein Unternehmen beklagt, dass die Konkurrenz auf Werbung verzichtet?

Marquardt: Dieser Vergleich hinkt nun wirklich. Es geht ja hier nicht um die bessere Meister-Proper-Werbung, sondern um die Zukunft von Menschen und um gesellschaftliche Grundsatzfragen. Die „Eigentlich geht es uns doch ganz gut“-Verweigerungshaltung befördert das Vorurteil, die seien doch eh alle gleich. Die SPD kümmert sich um das Eigentliche: Europa, Zukunft der Rente oder eine gerechte Steuerpolitik. Wer die Demokratie ernst nimmt, muss sie auch gestalten wollen, um sie letztlich gegen ihre Gegner zu verteidigen. Die CDU will nur verwalten, und gerade Angela Merkel sollte wissen, dass die Demokratie nichts Selbstverständliches ist. Wir brauchen den demokratischen Streit um die besseren Konzepte.

Müller-Vogg: Ein Streitthema hat die Kanzlerin ja abgeräumt: „Ehe für alle“. Wenn ich der Argumentation von Martin Schulz folge, ist das auch ein Anschlag auf die Demokratie, weil die „Ehe für alle“ jetzt im Wahlkampf kein Thema mehr ist (lacht). Aber viel interessanter finde ich, dass die SPD keine Scheu hat, den Koalitionsvertrag zu brechen und mit Grünen und Linken gemeinsame Sache zu machen. Auch wenn Martin Schulz sich in der Koalitionsfrage bedeckt hält: Hier zeigt die SPD, mit wem sie dieses Land grundsätzlich verändern will.

Marquardt: Die Streitthemen gehen uns ganz sicher nicht aus (lacht zurück). Und die Abstimmung zur „Ehe für alle“ ist ein im höchsten Maße demokratischer Vorgang. Eine Mehrheit innerhalb und außerhalb des Bundestages ist dafür, und wir haben über mehrere Jahre erfolglos versucht, mit der Union eine Einigung zu finden. Ich finde starre Koalitionsverträge, die einheitliches Abstimmen vorschreiben, sowieso problematisch. Diese Verträge sind meines Erachtens keine adäquate Antwort auf die bestehenden antidemokratischen Stimmungen. Die Vision wechselnder Mehrheiten, weil es um die Sache geht, kann doch Parlamentarismus und Demokratie spannend machen. Ich habe eine Mehrheit, weil meine Argumente überzeugen, und nicht, weil man mir sagt, wie ich abzustimmen habe. Aber ich weiß, ich bin eine Träumerin in dieser Frage.

Müller-Vogg: Die SPD hat einen Koalitionsvertrag unterschrieben, in dem es wörtlich heißt: „Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“ Dagegen verstößt die SPD, begeht also bewusst einen Vertragsbruch. Ihre Vorstellung von wechselnden Mehrheiten als Regelfall, Liebe Frau Marquardt, passt meines Erachtens nicht in unser System. Das Parlament kontrolliert die Regierung ja nur auf dem Papier. Im Parlamentsalltag stützen die Koalitionsfraktionen die Regierung. Anders wäre eine stabile Regierungsarbeit auch nicht möglich.

Marquardt: Warum sollte eine Regierung nicht konstruktiv um Mehrheiten im Parlament ringen? Am Status Quo zu kleben, ist das Mantra der Konservativen. Ihn zum Stabilitätsfaktor zu erklären, verhindert  jede Weiterentwicklung demokratischer Aushandlungsprozesse. „Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossenen“ kann, muss aber in keinem Koalitionsvertrag stehen. Die Abstimmung zur Ehe für alle ist nicht Ausdruck eines Vertragsbruches, sondern einer lebendigen Demokratie ohne koalitionsbedingte Entmündigung des Parlaments. Stabil bleiben jedenfalls unsere unterschiedlichen Positionen.

Dies ist der zweite Teil einer Serie von Streitgesprächen zwischen der linken SPD-Politikerin Angela Marquardt und dem konservativen Publizisten Hugo Müller-Vogg. Trotz der politischen Unterschiede verbindet beide eine Freundschaft. Bis zur Bundestagswahl werden sie regelmäßig das Politgeschehen kommentieren.

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