Streitgespräch - „Es gibt einen türkischen Sektor in der BRD“ – „Bei der Integration ist auch auf deutscher Seite manches schief gelaufen“

Kolumne: Lechts und rinks. Der türkische Präsident Erdogan versucht durch Wahlempfehlungen an Deutsch-Türken Einfluss auf die Bundestagswahl zu nehmen. Ist das ein Beleg dafür, dass der Doppelpass der Integration zuwiderläuft? Oder liegt das Problem woanders?

Erdogan-Anhänger demonstrieren in Köln / picture alliance
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Angela Marquardt saß von 1998 bis 2002 für die PDS im Bundestag. 2003 trat sie aus der Partei aus, und 2008 in die SPD ein. Sie ist Mitarbeiterin im Bundestagsbüro von Sozial- und Arbeitsministerin Andrea Nahles sowie Geschäftsführerin des Arbeitskreises „Denkfabrik“ der SPD.

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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Müller-Vogg: Der Versuch von Sultan Erdogan, sich mit Wahlempfehlungen in den deutschen Wahlkampf einzumischen, bricht nicht nur mit allen diplomatischen Gepflogenheiten; er ist eine Unverschämtheit. Da stimmen wir sicher überein. Erdogan wendet sich mit seinem Appell an 1,3 Millionen türkischstämmige Bürger, die am 24. September wahlberechtigt sind. Alle – Deutsch-Türken mit deutschem Pass wie die „Doppelstaatler“ mit zwei Pässen – spricht Erdogan als „meine Landsleute“ und „meine Bürger“ an. Erdogan scheint besser als unsere Multikulti-Ideologen verstanden zu haben, dass ein deutscher Pass noch keine Garantie für eine gelungene Integration ist und ein Leben in Parallelgesellschaften nicht ausschließt – und ein „Doppelpass“ erst recht nicht. 

Marquardt: Was Erdogan anbetrifft, da sind wir uns sehr einig, wohl wahr. Und natürlich sagt ein Pass rein gar nichts darüber aus, ob jemand gut integriert ist oder nicht. Ich finde aber auch, dass man Integration nicht mit Assimilation verwechseln sollte. Integration ja, Assimilation nein. Man darf seine kulturelle Identität wahren und ausleben, ohne dass dies gleich eine Parallelgesellschaft bedeuten muss. Ich bin überrascht Herr Müller-Vogg, dass Sie einerseits alle „Doppelpässler“ in Kollektivhaftung nehmen. Und andererseits benutzen Sie ausgerechnet Erdogan als Kronzeugen, hier Ihre kritische Position zu unterstreichen.

Müller-Vogg: Es geht doch nicht um Integration oder Assimilation. Mir geht es darum, dass offenbar sehr viele Deutsch-Türken nur formal integriert sind: Sie gehen einer Arbeit nach, zahlen Steuern und halten sich an unsere Gesetze. Aber die Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus haben die meisten nicht verinnerlicht, ebenso wenig die Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frau. Mögen SPD und Grüne noch immer von Multikulti schwärmen – der türkische Nationalismus scheint bei „Erdogans Bürgern“ im „türkischen Sektor der BRD“ sehr ausgeprägt zu sein. Und nun zum Doppelpass: Ich halte es für undemokratisch, dass es bei uns Bürger erster und zweiter Klasse gibt. Die „einfachen“ Deutschen dürfen „nur“ bei uns wählen. Die privilegierten Zuwanderer mit Doppelpass haben doppeltes Stimmrecht: bei uns und in ihrer alten Heimat beziehungsweise in der Heimat ihrer Eltern. Mit „one man, one vote“ hat das nichts zu tun. 

Marquardt: Eine gewagte These. Woher nehmen Sie, dass diese Prinzipien von den meisten in Frage gestellt werden? Sie können doch nicht allen Ernstes den Aufruf von Erdogan zum Gradmesser des Denkens hier lebender Deutsch-Türken machen. Integration bedeutet für mich Teilhabe am gesellschaftlichen Leben; an Sprache, Arbeit, Wohnen, Bildung und Kultur. Das ist wesentlich für alle, die in Deutschland leben. Die leidigen Doppelpass-, Loyalitäts- und Leitkulturdebatten sollte man einstellen. Das macht meines Erachtens jedes aufkeimende Vertrauen und Zusammengehörigkeitsgefühl kaputt. Lassen Sie uns diese ermüdenden Diskussionen beenden. Doppelstaatlichkeit ist kein Integrationshemmnis, sondern eine millionenfache Realität. Katarina Barley hat auch die deutsche und die britische Staatsbürgerschaft. Ich fühle mich ihr gegenüber nicht als Deutsche zweiter Klasse… (lacht). 

Müller-Vogg: Let’s get real. Unter den in Deutschland lebenden Türken schneidet Erdogans AKP besser ab als in der Türkei. Bei der Abstimmung über Erdogans „Ermächtigungs-Verfassung“ bekam er hier mehr Zustimmung als zu Hause. Man kann ja diese Fakten leugnen und von einer real existierenden Multikulti-Idylle träumen. Nur: Diese Fakten verschwinden dadurch nicht. Und sie belegen, dass viele Zuwanderer nicht richtig integriert sind, weil sie sich in ihren Parallelgesellschaften wohl fühlen. 

Nochmals zum Doppelpass: Sie finden es also demokratisch, wenn Deutsche mit zwei Pässen in zwei Ländern die Politik mitbestimmen können? Dass jeder Wähler nur eine Stimme hat und jede Stimme gleich viel zählt – das war die Antwort der Demokraten 1918/19 auf das Preußische Dreiklassen-Wahlrecht. Das Zweiklassen-Wahlrecht mit einer Zusatzstimme für Menschen mit Doppelpass ist demgegenüber ein Rückschritt. In Preußen wurde das Stimmrecht nach den Steuerzahlungen gewichtet, Sie finden die Gewichtung nach Nationalitäten in Ordnung. Im Vergleich dazu finde ich das preußische Wahlrecht logischer (lacht). 

Marquardt: Sie schieben das Problem der Integration einseitig den in Deutschland lebenden Türken zu. Wir müssen auch uns fragen, was ist auf unserer Seite schief gelaufen? Als stille billige Arbeitskräfte und Steuerzahler sind die Deutsch-Türken super, aber sobald es ein Problem gibt, schieben wir ihnen die Verantwortung allein zu. Nein, diese Argumentation ist mir zu billig. Wir brauchen beispielsweise eine bessere Förderung und gleiche Chancen vor allem im Bildungssystem. Wir alle kennen die Beispiele, dass Jugendliche mit ausländischen Namen unabhängig von ihren Leistungen bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen benachteiligt werden. Klingt das nach gelungener Integration von unserer Seite aus? Und Ihren Geschichtsdiskurs in allen Ehren, aber ich habe nichts gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Menschen sollen sich sowohl mit dem Land ihrer Herkunft als auch mit Deutschland identifizieren. Und es gibt genügend Deutsche, die eben auch in anderen Ländern wahlberechtigt sind und somit dort Einfluss nehmen.

Müller-Vogg: Meine Tochter besitzt beispielsweise den deutschen und den britischen Pass. Sie wählt in Großbritannien und bei uns. Sie nutzt die Möglichkeiten, in beiden Ländern mitzubestimmen, sieht aber durchaus, dass das doppelte Wahlrecht problematisch ist. Offenbar waren meine frühen Versuche politischer Bildung beim Abendessen nicht vergeblich (lacht). 

Marquardt: Ich gönne Ihrer Tochter das doppelte Wahlrecht (lacht).

Diese Diskussion ist Teil unserer Serie von Streitgesprächen zwischen der linken SPD-Politikerin Angela Marquardt und dem konservativen Publizisten Hugo Müller-Vogg. Trotz der politischen Unterschiede verbindet beide eine Freundschaft. Bis zur Bundestagswahl werden sie regelmäßig das Politgeschehen kommentieren.

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