Streit um Neutralitätsgesetz - Nicht ohne mein Kopftuch

Kein Kopftuch, keine Kippa, kein Kreuz – an den Berliner Schulen herrscht das Neutralitätsgesetz. Darüber gibt es seit Jahren Streit, an den Fronten haben sich seltsame Allianzen gebildet. Kommt jetzt ein Volksbegehren?

Mädchen mit Kopftuch sind an vielen Berliner Schulen Alltag, oft sind sie sogar in der Mehrheit / picture alliance
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Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Grüne und Linke wollen in Berlin durchsetzen, dass muslimische Lehrerinnen künftig wieder mit Kopftuch unterrichten dürfen. Sowohl Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) als auch der stellvertretende Regierende Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer (Linke) fordern, das 2005 in Kraft getretene Berliner Neutralitätsgesetz abzuschaffen. Dort heißt es im Paragraph 2: „Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen.“ Ein Gesetz also, das sich anders als das 2015 vom Bundesverfassungsgericht kassierte Neutralitätsgesetz von Nordrhein-Westfalen nicht explizit auf das muslimische Kopftuch bezieht, sondern auf äußerliche Ausdrucksformen aller Religionen, auch Kippa und Kreuz.

Privat religiös, im Dienst neutral?

Nun streiten führende Landespolitiker für eine Kehrtwende. Er sei der Meinung, „dass wir es in der multireligiösen Stadt Berlin aushalten sollten, wenn an den Schulen junge Frauen mit Kopftuch unterrichten“, sagte Behrendt der Berliner Zeitung. Das Gesetz widerspreche auch dem Gleichstellungsgrundsatz und dem Diskriminierungsverbot, da ja gläubige muslimische Männer eingestellt würden, Frauen aber nicht. Und Lederer ergänzte beim Evangelischen Pressedienst: „Wir müssen die Frage beantworten, ob die an die Wand gemalte Überwältigungsgefahr real ist, wenn Lehrkräfte mit Kopftuch, Kreuz oder Kippa unterrichten.“ Zudem müsse geklärt werden, „wie integrationshemmend das Verbot religiöser Symbole im öffentlichen Dienst wirkt“.

Beim Koalitionspartner SPD stößt dieser Vorstoß bislang mehrheitlich auf Ablehnung und selbst bei Grünen und Linken gibt es vereinzelte kritische Stimmen. „Wir sind ein freies Land, jeder kann als Privatperson auftreten wie er will. Tritt aber jemand als Vertreter des Staates nach außen auf, erwarte ich, dass er sich bei der Weltanschauung neutral verhält“, sagt Harald Georgii, SPD-Kreisvorsitzender in Friedrichshain-Kreuzbergs. Auch seine Parteifreundin und Bildungssenatorin Sandra Scheeres vertritt diese Auffassung und verweist darauf, dass es sich bei dem Gesetz keineswegs um eine Diskriminierung handele, da „alle Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen unterschiedslos behandelt werden“ und es kein alleiniges Kopftuchverbot gebe. Gerade weil in den Berliner Schulen viele Religionen und Weltanschauungen aufeinandertreffen, sei es wichtig, „dass die Lehrkräfte neutral vor die Klassen treten“, so die Senatorin.

Mädchen ohne Kopftuch würden bedrängt

Viele Lehrkräfte unterstützen diese Position. Schon jetzt würden an manchen Schulen muslimische Mädchen ohne Kopftuch von Mitschülern „,massiv beschimpft und bedrängt, den Vorschriften ihrer Religion endlich Folge zu leisten“, berichtet eine Neuköllner Lehrerin. Durch Kopftuch tragende Lehrerinnen drohten derartige Konflikte weiter zu eskalieren.

Liberale muslimische Gruppen und die alevitische Gemeinde unterstützen das Neutralitätsgesetz. In einer Erklärung der Gemeinde heißt es: „Diskriminierungshandlungen gegenüber nicht kopftuchtragenden Schülerinnen würden aufgrund der subjektiv durch die Lehrerin rührenden Legitimation steigen. Das Argument, wonach die Kopftuch tragende Lehrerin in so einem Fall als ‚Schlichterin‘ auftreten und zur Versöhnung des Streites beitragen könne, verkennt hier, dass dies die Bekämpfung von Symptomen, deren Mitverursacherin sie ist, darstellt.“ Und weiter: „Interreligiöse Diskriminierungserfahrungen können auf dem Schulhof nur dann vermieden und minimiert werden, wenn auch die Pädagogin als für den Staat handelnde Person ihre Neutralität in jeder Hinsicht wahrt“. Die Angehörigen der alevitischen Gemeinde lehnen Kleidungsvorschriften für Muslime prinzipiell ab. Auch deswegen werden sie in vielen muslimischen Ländern als „Umgläubige“ ausgegrenzt und verfolgt.

Wie urteilen die Richter?

Bedeckt hält man sich dagegen bei der in Berlin traditionell eher im links-grünen Spektrum angesiedelten Bildungsgewerkschaft GEW. Sie organisiert den Großteil der Berliner Lehrerschaft. Die jüngste Landesdelegiertenkonferenz habe gezeigt, „dass die Mitgliedschaft in dieser Frage gespalten ist“, erklärte der Landesvorsitzende Tom Erdmann auf Nachfrage. Man verzichte daher auf eine Positionierung. Die Gewerkschaft erwartet aber eine höchstrichterliche Klärung. Denn in Berlin haben sich mehrere Kopftuch tragende muslimische Lehrerinnen, denen die Einstellung in den Schuldienst verweigert wurde, beim Arbeitsgericht eine Entschädigung erstritten, ohne dass das Land Berlin dagegen Rechtsmittel eingelegt hat. Weitere Verfahren sind anhängig. Und zwar deswegen, sagt Erdmann, da sich an der auf dem gültigen Gesetz basierenden Praxis nichts geändert habe, diesen Lehrerinnen die Einstellung in den Schuldienst (mit Ausnahme von Berufsschulen) zu verweigern.

In der rot-rot-grünen Koalition der Hauptstadt bahnt sich jedenfalls ein heißer Tanz um den Umgang mit dem Neutralitätsgesetz an. Und auch außerhalb des Parlaments nimmt die Debatte Fahrt auf. Die Ende November gegründete „Initiative Pro Neutralitätsgesetz“ stößt auf breite Unterstützung. Zu den Erstunterzeichnern gehören zahlreiche Abgeordnete, Bezirkspolitiker, Pädagogen, Sozial- und Islamwissenschaftler sowie Vertreter muslimischer Institutionen. Unmissverständlich stellt die Initiative klar, dass man sich gegen jegliche pauschale gesellschaftliche Ausgrenzung von Muslimen wende und für die Gleichbehandlung aller religiösen Bekenntnisse in Bezug auf die Neutralitätspflicht staatlicher Institutionen einsetze. Es sei aber nicht zu übersehen, dass muslimische Schülerinnen „in zunehmendem Maße von Mitschülern, aber auch aus Moscheen heraus, unter Druck gesetzt werden, das Kopftuch zu tragen oder andere religiös motivierte Verhaltensvorgaben (etwa Einhaltung der Fastenvorschriften) zu befolgen“. Ein solcher Druck würde sich durch eine religiöse Bekleidung der Lehrkräfte erhöhen, da diese „eine eindeutig bejahende Haltung zu einer bestimmten Auslegung des Korans ausdrücken“.

Seltsame Allianzen

Es ist kaum zu bezweifeln, dass diese Auslegung des Korans mit den im Grundgesetz verankerten Grundrechten nicht vereinbar ist, besonders wenn es um die Rolle der Frau geht. Umso seltsamer muten die Frontstellungen in dieser Auseinandersetzung an. Auf der einen Seite der Schulterschluss für die Öffnung staatlicher Schulen für diese Koranauslegung von orthodoxen islamischen Verbänden mit Politikern der Linken und der Grünen. Auf der anderen ein Bündnis von Liberalen, bürgerlich-konservativ Gesinnten, nicht-fundamentalistischen Muslimen und ebenfalls Linken zur Verteidigung säkularer Werte.

Der Berliner Senat wird sich in absehbarer Zeit entscheiden müssen, wie er mit dem Neutralitätsgesetz verfahren will. Kippt er es, wäre ein Volksbegehren zum Erhalt dieses Gesetzes der nächste logische Schritt. Und die Erfolgsaussichten wären wohl gar nicht so schlecht.

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