SPD - Operation Schulz

Nach der Kür des Kanzlerkandidaten verbreiten die Genossen Aufbruchstimmung. Die Probleme der Partei sind nicht über Nacht verschwunden, aber mit Schulz erhält die SPD eine neue Chance, alte Fehler zu korrigieren

Mit Martin Schulz hat die SPD die Möglichkeit, wieder zu alter Kraft zurückzufinden / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

So erreichen Sie Christoph Seils:

Anzeige

Jetzt sind in der SPD alle erleichtert. Auch jene Gabriel-Fans, die noch vor ein paar Tagen wortreich erklärt haben, dass nur ihr Siggi die SPD in den Bundestagswahlkampf führen könne. Zwei Zeitungsinterviews später – man könnte es auch einen goslarschen Abgang nennen – scheint es, als wehe plötzlich frischer Wind durch die deutsche Sozialdemokratie, als habe Sigmar Gabriel mit seinem Rücktritt und der Inthronisierung des Kanzlerkandidaten Martin Schulz ein Fenster geöffnet. Die Sozialdemokraten glauben wieder an sich. Der 24. Januar 2017 wird in die Geschichte der Partei eingehen.

Natürlich lässt sich kritisieren, dass sich Gabriel in diesem historischen Moment, in dem es eigentlich darum gehen müsste, den Mann der Zukunft in den Mittelpunkt zu stellen, selbst zu wichtig nimmt. Aber von Chaos oder Sturzgeburt kann keine Rede sein. Das Verfahren zur Nominierung des SPD-Kanzlerkandidaten verlief geordneter als vor vier oder auch acht Jahren. Monatelang hat die SPD betont, dass der SPD-Vorsitzende der Herr des Verfahrens ist: Er also entweder selbst zugreifen oder einen Kanzlerkandidaten vorschlagen kann. Jetzt hat Gabriel als Herr des Verfahrens den Kanzlerkandidaten bestimmt und gleichzeitig vorgeschlagen, dass Martin Schulz auch Parteivorsitzender wird – was folgerichtig ist und nun ist es manchen auch wieder nicht recht.

Projektionsfläche für viele Sehnsüchte

In der modernen Medienwelt vollzieht sich ein Wechsel schnell. Sigmar Gabriel ist schon an diesem Mittwoch Geschichte. Er darf auf seiner Abschiedstour als Außenminister noch ein wenig durch die Welt reisen, bevor er im Herbst endgültig ins zweite Glied tritt. Die Bühne gehört ab sofort einem neuen starken Mann in der SPD. Wofür der bisherige Europapolitiker Martin Schulz steht, wofür er seine innerparteiliche Macht nutzen wird, wie er sich den Angriff auf das Kanzleramt vorstellt, ist allerdings völlig offen. Ein politisches Profil hat der Kandidat Schulz bislang nicht, innenpolitisch ist er ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Am Sonntag wird Martin Schulz in Berlin seine erste Rede als Kanzlerkandidat halten, anschließend wird man mehr wissen. Es könnte die bislang wichtigste Rede in seiner politischen Karriere sein.

Bislang ist Schulz für die Wähler vor allem eine Projektionsfläche, für die Sehnsucht nach einem anderen Europa oder nach einer Alternative zur Großen Koalition, nach einer anderen Sozialdemokratie oder einer Alternative zu Sigmar Gabriel. Kein Wunder, dass auch die Ratschläge, die Schulz seit gestern erreichen, vielfältig und widersprüchlich sind. Die einen halten ihn für einen Linken, der Rot-Rot-Grün möglich macht, für eine Art deutschen Bernie Sanders, der das Establishment das Fürchten lehrt.

Die anderen halten ihn für einen rechten Sozialdemokraten, der bislang in den Brüsseler Kungelrunden zuhause war, für das Freihandelsabkommen TTIP geworben und Merkels europäische Austeritätspolitik unterstützt hat. Alle Umfragen, die vor dem 24. Januar 2017 erhoben wurden, sind deshalb auch Schall und Rauch. Ob Martin Schulz tatsächlich bessere Chancen hat als Sigmar Gabriel, Merkel zu schlagen, ist bislang reine Spekulation. Für Schulz beginnt das politische Spiel in diesen Tagen völlig neu.

Eine völlig zerstrittene Partei

Und das Spiel beginnt mit vielen sozialdemokratischen Herausforderungen. Sigmar Gabriel war und ist schließlich bei weitem nicht an allem schuld. Die Antwort auf die Frage, warum die SPD in Umfragen derzeit nur bei 20 Prozent liegt, und damit noch deutlich unter dem Wahlergebnis von 2013, ist vielfältig.

Da ist erstens eine völlig zerstrittene Partei, die in den letzten Jahren keinen Weg gefunden hat unterschiedliche Wählermilieus an sich zu binden. Eine Partei, die viele verunsicherte Arbeiter und Angestellte – also traditionelle sozialdemokratische Wähler, die Angst vor sozialem Abstieg haben, die von Europa nichts erwarten und die die Globalisierung als Bedrohung empfinden – in die Arme der AfD getrieben hat. Die es zweitens nicht schafft, von den massiven politischen Fehlern der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingspolitik zu profitieren. Die drittens das Thema Soziale Gerechtigkeit vor allem ideologisch und an den Lebenswelten der Menschen vorbei diskutiert, die sich zu viel mit Hartz IV und Mindestlohn beschäftigt und nicht erkennt, dass vor allem in der Mittelschicht eine fiskalische Zeitbombe tickt. Und mit einer guten Bildungspolitik mehr für soziale Gerechtigkeit getan werden kann als mit jeder Steuererhöhung. Die es viertens nicht schafft, das Thema Innere Sicherheit zu einem sozialdemokratischen Thema zu machen. Und eine Partei, die fünftens keine eigene Machtoption hat, weil weder eine Ampel-Koalition mit Grünen und FDP noch ein Linksbündnis mit Grünen und Linken eine realistische Perspektive sind.

Gegen anstatt für Merkel kandidieren

Wenn sich unter Sozialdemokraten zuletzt trotzdem ein gewisser Optimismus breitgemacht hat, liegt dies an der Erkenntnis, dass Angela Merkel politisch angeschlagen ist, dass sie anders als noch 2013 in diesem Jahr schlagbar ist. Dass die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin massiv beschädigt ist, dass sie in den eigenen Reihen unter gewaltigem Druck steht und dass die Verunsicherung vieler konservativer Wähler groß ist. Natürlich ist da auch Zweckoptimismus dabei, aber manchmal ist das schon die halbe Miete.

Es wird Martin Schulz nichts anderes übrig bleiben, als Aufbruchstimmung zu verbreiten und sich in den Wahlkampf zu stürzen. Volksnah ist er und auch ein begnadeter Redner – im Bierzelt kann er genauso reüssieren wie beim Bankett. Seine Biografie ist eine klassisch sozialdemokratische. Richtigerweise verzichtet Schulz im Wahlkampf auf einen Ministerposten, um nicht in die Kabinettsdisziplin der Großen Koalition eingebunden sein. Und es ist ihm die Chuzpe zuzutrauen, einen Wahlkampf gegen die Regierung zu führen, an der seine Partei beteiligt ist.

„Unser Potenzial liegt, wenn die SPD alles richtigmacht, sicher bei 30 Prozent“, sagte kürzlich der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil in einem Interview mit Cicero und fügte dann hinzu: „Aber dafür muss man eben auch alles richtig machen.“ Mit dem Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz bekommt die SPD zumindest eine neue Chance, alles oder zumindest vieles richtig zu machen.

Anzeige