SPD - Pale Ale statt Pils

Ob sie in die Regierung oder in die Opposition geht, ob sie nach links rückt oder sich weiter an der Mitte orientiert: Will sich die SPD erneuern, muss sie einen geistigen und kulturellen Generationenwechsel wagen. Vorbilder dafür gibt es in der Partei genug

SPD-Parteitag: Hier trennt sich die Kultur der Arbeiterklasse radikal von der Welt der Spitzenpolitik / picture alliance
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Autoreninfo

Jöran Klatt ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler. Er hat am Göttinger Institut für Demokratieforschung gearbeitet und ist Mitglied der Redaktion von INDES-Zeitschrift für Politik und Gesellschaft.

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Bisher blieben Vorschläge darüber vage, was denn die „Erneuerung“ meint, von der in der SPD schon seit einiger Zeit die Rede ist: Die Partei müsse „jünger, weiblicher und digitaler“ werden, hieß es zuletzt etwa von Generalsekretär Lars Klingbeil. Derartige Sätze hört man allerdings aus jeder Partei. Die Genossen trauen sich nicht zu wirklichen Kurskorrekturen oder gar richtungsweisenden Entscheidungen.

Der Dritte Weg

Die letzte folgenschwere Richtungswahl der Sozialdemokraten fand in den neunziger Jahren statt. Gemeint ist die Zeit, als man den aus Großbritannien abgeschauten sogenannten Dritten Weg mitging. Damals versuchte die Labour-Partei unter Premierminister Tony Blair einen Ausgleich zu finden, zwischen der mehr und mehr als unzeitgemäß empfundenen alternativen, staatsorientierteren Steuerungspolitik von Labour und dem Laissez-faire-Kapitalismus der Tories. Mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen interpretierten die Sozialdemokraten diesseits des Ärmelkanals den Dritten Weg für sich und prägten so bis heute Schicksal und Ausrichtung ihrer Partei.

Damals wollte sich die SPD modernisieren und verstand darunter vor allem, wirtschaftsfreundlicher zu werden. Verantwortung zu übernehmen heißt seither für die Sozialdemokraten, nicht zu viel zu wollen und dem empfindlichen und leicht zu verschreckenden Kapitalismus nicht allzu viel abzuverlangen.

Vor allem Gerhard Schröders einstiger Kanzleramtschef und heutiger Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gilt als aufmerksamer Leser des britischen Soziologen Anthony Giddens, der die intellektuelle Grundlage für den Dritten Weg geschaffen hatte. Steinmeier gilt heute als einer der wichtigsten Architekten der Agenda 2010. 

Die Erfahrungen der 68er

Doch die Anziehungskraft des Dritten Wegs für die Sozialdemokraten erklärt sich auch und vor allem aus der Alterskohorte der 1968er heraus. Als diese 1998 mit dem Kabinett Schröder an die Macht kam, war sie bereits dabei zu ergrauen. Seit den achtziger Jahren hatte der Geist der Neuen Sozialen Bewegungen die Gesellschaft nachhaltig modernisiert. Die Generation um Schröder kam quasi „verspätet“ an die Macht, wie es der Politologe Franz Walter beschreibt. Sie verordneten der Partei dann eine Interpretation des Dritten Wegs, die sie vor allem aus dem eigenen Lebenslauf und ihrer Sozialisation in den siebziger Jahren heraus legitimierten.

Die damaligen Verantwortungsträger waren herangewachsen in einer Zeit, in der das Wirtschaftswachstum kombiniert mit einem verteilenden Sozialstaat enorme Möglichkeiten bot. Auch mit Hilfe der staatlichen Bildungsinstitutionen konnte die Generation aus der Arbeiterklasse oder dem unteren Bürgertum emporsteigen. Der Soziologe Oliver Nachtwey nennt diese Zeit „soziale Moderne“ und stellt sie der heutigen Zeit gegenüber. Von dieser, so schreibt er, habe sie sich in eine „Abstiegsgesellschaft“ verwandelt. Nachtwey nutzt hierzu eine Metapher: Die Menschen laufen auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe nach oben, um an derselben Stelle zu bleiben. 

Aufstiegsbiografien prägen die Rhetorik

Dennoch ist das wirkmächtige Bildungsnarrativ, das die Sozialdemokraten vor allem in Wahlkämpfen gerne bedienen, ein Beispiel dafür, wie sehr das Denken der Aufstiegsgeneration bis in die sozialdemokratische Programmatik und Rhetorik nachwirkt. Besonders stolz geriert sich die Sozialdemokratie daher seit Jahren in der Schulpolitik, vor allem seit sich das präferierte Schulmodell der Gesamtschule im Rahmen des Pisa-Schocks auch als internationales Vorzeigemodell des Arbeitsmarktes bewies. Warb man einst aufgrund eines egalitären Gedankens und im Rahmen pädagogischer Ideen der Neuen Sozialen Bewegungen für diese Schulform, so war die Gesamtschule plötzlich sogar geeignetes Mittel, die eigene wirtschaftliche Kompetenz unter Beweis zu stellen. Das Hamburger Programm von 2007 protzt daher mit sozialdemokratischer Schulpolitik, die Bildung als „wirtschaftliche Produktivkraft“ ansieht. Es wirkt wie eine verkehrte Welt, wenn heute Konservative ihr humanistisches Gymnasium mit Angriffen auf die Verwertungslogik verteidigen und dafür sogar auf die Straße gehen.

Bildung war in der Generation der 68er noch der Schlüssel zum Aufstieg, auch waren die Bedingungen damals historisch günstig. Doch in der „Abstiegsgesellschaft“ ist sie lediglich ein Mittel, um den Status der Elterngeneration zu halten – und auch das nicht mehr unter Garantie. Für die Generation der Babyboomer passte der Dritte Weg daher vor allem als endgültiger Vollzug des eigenen Aufstiegs und Ankommens. Harsche Systemkritik war selbstredend nicht mehr die ihre und wäre als Rhetorik der schröderschen Regierungsprogrammatik wohl auch nicht weniger als blanke Heuchelei gewesen. Es ist die Ironie der Nachkriegs-Sozialdemokraten, dass diese sich zwar oftmals als die größten Nutznießer der von ihnen erkämpften Solidarität entpuppten, das aber immer häufiger als eigene individuelle Leistung ansahen.

Kultur der Aufsteiger

Bis heute wirkt diese Kultur der Aufsteiger nach, die folglich auch nicht mehr nur vorrangig die Solidar-, sondern auch die Leistungsgesellschaft predigen. Sozialdemokraten empfehlen daher heute, die junge Menschen „fit für den Arbeitsmarkt“ machen zu wollen. 

Ob man sich nun wünscht, dass die SPD wieder nach links rückt oder sich weiter an der Mitte orientiert, ob man es für richtig hält, in Große Koalitionen zu gehen oder in die Opposition: Jede Form einer wirklichen Erneuerung der Partei müsste wohl besonders hier ansetzen. Doch anstatt nur mit der Elterngeneration zu brechen, sollte dies vor allem bedeuten von ihr zu lernen: Denn gelungener Aufstieg bleibt stets Ziel und Damoklesschwert der Sozialdemokratie zugleich. 

Das zeigt sich vor allem an der Parteikultur. Basis und Spitze trennen oft weniger die Inhalte. Doch muss man, um in die obersten und richtungsweisenden Gremien der SPD vorzudringen, auch den dort gelebten Habitus erlernen. Hier trennt sich die Kultur der Arbeiterklasse radikal von der Welt der Spitzenpolitik: Man blickt nach oben statt nach unten, trinkt Pale Ale statt Pils. 

Aufstieg immer weniger möglich

Martin Schulz repetitive Beschwörung Würselens im Wahlkampf hat gezeigt, dass dieses Problem erkannt wurde – doch ein genauerer Blick auf seine Wahlkampfrhetorik zeigt, dass auch er beim Zelebrieren des Aufstiegs blieb. Stets wandte er sich Würselen im Tempus des Präteritum zu, wenn es in seinen Reden um seine Herkunft ging. Was man Schulz glaubte war, dass er aus Würselen kam, nicht, dass er von dort kommt.

Die Kultur der Aufsteiger entspringt einer Zeit, in der sozialdemokratische Wähler dies noch konnten. Oft geht es der Partei daher darum, die Grundlage hierfür zu bewahren. Heute kann die Partei auch guten Gewissens behaupten, dass sie am wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands in den vergangenen Jahren in nicht geringem Ausmaß mitgewirkt hat. Und dennoch: Der Trickle-Down-Effekt, die Hoffnung, dass vom wirtschaftlichen Erfolg am Ende doch irgendwie alle profitieren, bleibt aus. Nicht nur die jüngste Studie des Oxfam-Verbunds zeigt dies: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weltweit immer mehr auseinander.

Zwei mögliche Ausrichtungen

Belohnt wurden die Sozialdemokraten für die zahlreichen eingegangenen Kompromisse ohnehin nicht. In einem kürzlich viral gegangenen Video beklagt das SPD-Mitglied Susanne Neumann. Sie kämpft treu um diejenigen, die die SPD entweder schon an die Linke verloren hat oder nach und nach an die AfD.

Die Parteispitze buhlt dagegen lieber um die Etablierten und die Mitte. Dort gibt es den Wunsch nach einer wirtschaftsfreundlichen SPD des Ausgleichs und gepflegten Auftretens. Doch es bleibt ein gefährliches Hazard-Spiel mit der Mitte, deren selbstbewusste Bürger sich am Ende eher liberalen Kleinparteien FDP und Grünen zuwenden könnten. Für die Individualisten sind die hochattraktiv.

Auch bleibt die Möglichkeit, die Zeit jener SPD, um die die Neumanns an der Basis noch kämpfen, endgültig hinter sich zulassen. Damit kokettieren nicht wenige Sozialdemokraten inzwischen sogar. Volkspartei wäre man dann zwar nicht mehr, aber umso schlagkräftiger aufgestellt im Ringen um die umkämpfte Mitte. Dennoch würden die Sozialdemokraten weiterhin zu viele Menschen an der untersten Sprosse einer zerbrechenden Gesellschaftsleiter zurücklassen. Möchte man sie wieder zurückgewinnen und gar einbinden, wird die Partei hart arbeiten müssen – vor allem an sich selbst.

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