Heinrich August WInkler - Die SPD braucht Antworten auf die Migrationskrise

Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler hält wenig davon, der SPD einen Linksruck zu empfehlen. In einem Gastbeitrag fordert er vielmehr, die Sozialdemokraten müssten Antworten auf die Migrationskrise finden, wenn sie Wähler von der AfD zurückgewinnen wollen

Der Historiker Heinrich August Winkler spricht sich gegen einen Linksruck der SPD aus / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Die beiden Zeit-Autoren Matthias Geis und Bernd Ulrich haben in einem ausführlichen Essay „Wacht auf, verdammt!“ der Sozialdemokratie attestiert, ihre Wurzeln aus opportunistischen Gründen verloren und eigentlich als richtig erkannte Grundsätze außer Acht gelassen zu habe. Vor allem nehmen sie dabei die Zeit von Helmut Schmidt ins Visier. Sie empfehlen der in Existenznot geratenen Partei einen klaren Linkskurs, der in den vergangenen Wochen auch eingeschlagen wurde.

Der große deutsche Historiker Heinrich August Winkler widerspricht nun und wirft den Autoren vor, die Geschichte der SPD zu verdrehen. „Wäre die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie so verlaufen, wie Geis und Ulrich sie skizzieren, würde der SPD auch keine Kurskorrektur nach links mehr helfen“, schreibt Winkler, selbst SPD-Mitglied. „Die älteste deutsche Partei müsste vielmehr vor Scham im Boden versinken, sich auflösen oder bei der Partei Die Linke Unterschlupf suchen, die sich zum Erbe von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bekennt.“ In den Augen des Historikers und Sozialdemokraten verlief die Geschichte der SPD „ein wenig anders“, als es die beiden Zeit-Redakteure in ihrem Beitrag suggerierten.

Die von Geis und Ulrich diagnostizierte Neigung zur opportunistischen Preisgabe des als richtig Erkannten treibe, „wenn wir den Autoren folgen, die SPD 1914 zur Bewilligung von Kriegskrediten und 1918 zur Niederschlagung der Revolution, wie sie die aufrechten Genossen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg vertreten, zum Pakt mit der Reaktion und zu allerlei faulen Kompromissen mit dem Klassenfeind.“  

Dem hält Winkler entgegen: „Als die Sozialdemokraten am 4. August 1914 im Reichstag den von der Reichsleitung beantragten Kriegskrediten zustimmten, war der Krieg mit Russland bereits eine Tatsache. Das Zarenreich aber war, so hatten es Marx und Engels den Parteien der Sozialistischen Internationalen immer wieder verkündet, die Vormacht der europäischen Reaktion, der das Proletariat notfalls auch mit Waffengewalt entgegentreten musste.“

Nach diesen Ausflügen in die Geschichte liest Winkler Geis und Ulrich auch in der Neuzeit die Leviten:

„Je näher die Autoren der Gegenwart kommen, desto kryptischer werden sie. An keiner Stelle erläutern sie, was der von ihnen geforderte Linksruck eigentlich konkret bedeuten soll. Die jüngsten Beschlüsse der SPD zur Reform des Sozialstaats werden als unzureichend bewertet, aber nicht kritisch analysiert. Dabei läge doch nichts näher als die Frage, wie die Sozialdemokratie es schaffen könnte, über die Agenda 2010 hinauszugelangen, ohne hinter das unter Rot-Grün Erreichte zurückzufallen. Dass den Hartz-Reformen ein soziales Korrektiv fehlte, ist kaum bestreitbar. Aber die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes scheiterte 2003 nicht zuletzt am Widerstand mehrerer Gewerkschaften.“

Das Fazit Winklers: „Für Geis und Ulrich scheint es eine ausgemachte Sache zu sein, dass die Stimmenverluste der SPD eine Folge mangelnder sozialer Radikalität sind. Die Wählerwanderung nach rechts, hin zur AfD, geht aber offenkundig darauf zurück, dass die Antworten, die die Sozialdemokratie bislang auf die Migrationskrise gegeben hat, einen erheblichen Teil ihrer Stammwählerschaft nicht überzeugt haben.“

Die ganze Erwiderung von Heinrich August Winkler „Mehr Revolution wagen?“ finden Sie hier.

 

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