SPD-Bürgermeister - „Den Menschen die Heimat zurückgeben“

Gerade junge Menschen wählen im Osten rechts. Augustusburg in Sachsen ist eine der wenigen Städte, in der es die AfD nicht ins Parlament geschafft hat. Das liegt auch an ihrem Bürgermeister Dirk Neubauer (SPD). Aber was macht er anders als viele seiner Kollegen?

Verloren: Der SPD ist es nicht gelungen, sich als Stimme des Ostens zu profilieren / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Dirk Neubauer (SPD) ist seit 2013 Bürgermeister der Kleinstadt Augustusburg. Gerade ist sein Buch erschienen: „Das Problem sind wir. Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie."

Herr Neubauer, seit der Flüchtlingskrise 2015 werden Bürgermeister immer häufiger beschimpft und bedroht. Trotzdem haben Sie bei Ihrem Auftritt in der Talkshow „Hart, aber fair“ am Montag gesagt, Bürgermeister sei der schönste Job der Welt, gleich nach Papst. Wie kommen Sie darauf?
Wir leben gerade in einer unglaublich schwierigen, aber auch spannenden Zeit. Wir stehen vor einer Reihe von Herausforderungen. Das muss man mögen. Ich mag das. 

Sie sind Bürgermeister der sächsischen Kleinstadt Augustusburg. Sind Sie noch nicht angefeindet worden?
Natürlich ist der Ton rauer geworden. Vor der Europa-Wahl hat es auch eine Morddrohung gegeben. So etwas geht nicht spurlos an mir vorbei. Es ist schon so, dass ich mich abends umdrehe, wenn ich nach Hause komme. Ich versuche das aber auszublenden. Würde ich das nicht tun, würde ich aufhören, offen mit allen zu diskutieren. Und das wäre der falsche Weg.

Ihre Stadt ist eine der wenigen, in der es die AfD nicht in den Kommunalrat geschafft hat. Woran liegt das?
Gute Frage. Bei der Europa-, der Landtags- und der Bundestagswahl hat auch meine Stadt AfD gewählt. Der Wert liegt so im Durchschnitt. Ins Kommunalparlament hat es die Partei aber nicht geschafft. Dafür muss es ja einen Grund geben.

Die Bürger sind mit Ihrer Politik zufrieden?
Nicht nur mit meiner Politik. Wir haben sehr gute Ortschaftsräte und einen guten Stadtrat. Wir haben auch eine unglaublich aktive Stadtgesellschaft. Das sind ungefähr 150 Bürger von 4500, aber die sind mit Herzblut dabei.

Was machen die genau?
Die kümmern sich um das, was sonst immer alle vom Staat fordern: dieses Fullsize-Flatrate-Programm – also Dinge, die das Leben schöner machen wie kulturelle Veranstaltungen. Das scheint der Grund dafür zu sein, warum es die AfD bis heute nicht geschafft hat, hier eine Ortsgruppe zu gründen und ins Stadtparlament einzuziehen.

Was sagt das über die Erfolgsstrategie der Partei aus?
Sie speist sich aus der Unzufriedenheit der Bürger – und damit meine ich nicht die Unzufriedenheit derjenigen, die sich wirtschaftlich abgehängt fühlen. Ich kenne viele, auf die das genau nicht zutrifft.

Woher rührt die Unzufriedenheit dann?
Es gibt nicht DIE Erklärung, warum DER Osten so wählt, denn DEN Osten gibt es nicht. Die Schmerzpunkte sind individuell. Die liegen überall anders. Was alle verbindet, ist das Gefühl, nicht gehört zu werden und sich nicht einbringen zu können. Es ist diese Form von Kontrollverlust, die unser politisches System generell durch dieses Wir-kümmern-uns-um-alles bereithält.

Was meinen Sie damit?
Sachsen ist nach der Wende jahrzehntelang von der CDU regiert worden. Sie hat den Bürgern suggeriert, bevor sich irgendwas zusammenbraue, kläre sie das für sie.

Sie spielen auf die Regierung des ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf an?
Genau, das ist aber generell so im Osten gelaufen. Nach der Wende hat die Politik einen ungünstigen Start erwischt. Durch die Umbrüche und die Abwicklungen der Treuhand war die immer in der Defensive. Aus dieser Zeit rührt der Irrglaube, dass nur derjenige ein guter Politiker ist, der sich bedingungslos um alles kümmert.

Aber ist nicht genau das Erfolgsrezept der AfD?
Ich glaube, ein guter Politiker ist der, der den Bürgern Wege eröffnet, sich mit ihren Ideen einzubringen. Voraussetzung dafür ist aber, dass er auch die erforderlichen Mittel hat, um diese Ideen zu realisieren. Sonst stößt er die Bürger vor den Kopf. Demokratie bleibt eine leere Hülle, wenn Leute nicht lernen, wie sie selbst etwas erreichen können.

Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?
Ja, ich habe gute Stadträte gehabt, die nicht wieder angetreten sind, weil sie frustriert waren. Sie haben haben gesagt: Wir beschließen nichts – wir beschließen nur Absichtserklärungen. Wenn es mir als Bürgermeister nicht gelingt, die Mittel für einen Sportplatz aufzutreiben, erzeugt das bei den Bürgern Frust.

Wie groß ist Ihr finanzieller Spielraum?
Wir haben jedes Jahr 50.000 Euro, die wir für Projekte ausgeben, die Bürger angeregt haben. So ist zum Beispiel ein Instrumente-Museum entstanden, das für Konzerte genutzt wird. 95 Prozent meines Haushaltes sind aber festgelegt. Es ist ein Trauerspiel. Denn Geld ist ja genug da, Sachsen ging es noch nie so gut wie heute. Das Problem ist nur, dass zwischen dem Geld und solchen Vorhaben 200seitige Förderanträge liegen. Und dass es manchmal Sachbearbeiter der Landesbank sind, die solche Anträge ablehnen, weil aus deren Sicht irgendwas nicht passt.

Das heißt, das Problem wäre schon gelöst, wenn die Kommunen gleich über das Geld verfügen könnten?
Ja, man müsste die Mittel, die man hat, von dem Fördervorbehalt befreien. Das ist eine Vertrauensfrage. Ich führe diese Gespräche regelmäßig mit dem Land. Da heißt es immer: Wenn wir das machen, können wir euch nicht mehr kontrollieren.

Dirk Neubauer / privat

Ist die Sorge nicht berechtigt?
Nein, die Kommune wird schon vom Landesrechnungshof und von der Kommunalaufsicht kontrolliert. Außerdem hafte ich als Bürgermeister persönlich. Mehr Motivation und Kontrolle brauche nicht nicht.

Aber die Bürger wählen die AfD doch nicht, weil die Stadt nicht die beantragten Mittel für einen Sportplatz bekommt?
Nein, sie wählen die AfD, weil die Gesamtsituation so ist. Sie verzweifeln an der Regulierungswut. Sie merken, dass sie keinen Einfluss mehr auf Entscheidungen haben, die ihr Leben betreffen.

Zu DDR-Zeiten durften sie gar nichts entscheiden.
Das Problem ist, dass die Wende Hoffnungen geweckt hat. Und die werden jetzt enttäuscht. Das rechtfertigt zwar nicht, einen Nazi wie Björn Höcke zu wählen. Aber es erklärt den Frust der Leute.

Die AfD wird im Osten besonders von jungen Bürgern gewählt, die die DDR gar nicht mehr miterlebt haben. Woher kommt das?
Ich glaube, die haben von ihren Eltern so eine Art Folklore-DDR geerbt.

Sie meinen den Glauben, früher sei alles besser gewesen?
Genau. Sie müssen wissen: Im Osten war Arbeit nicht nur Arbeit. Arbeit war Heimat. Wenn jemand nach der Wende mit 54 arbeitslos wurde und nur noch Mini-Jobs fand, wurde er kein Freund des neuen Systems. Seinen Kindern schwärmt er jetzt vor, wie gemütlich es in der DDR gewesen sei. Wie eng der Zusammenhalt gewesen sei und wie sich der Staat um alles gekümmert habe.

Aber die DDR war eine Diktatur.
Aber das wird nicht transportiert. Dass es zum Beispiel keine Meinungsfreiheit gegeben hat. Wieviel sie wert ist, wird im Osten immer noch nicht begriffen. Die Kinder dieser Menschen bekommen jetzt also ein völlig falsches Bild von der DDR. Sie sehen, was das neue System mit ihren Eltern gemacht hat. Auch das führt nicht zwingend dazu, dass sie sich als Teil der BRD fühlen. Ich komme zu 30-Jährigen in die Garage, da hängt die DDR-Fahne.

Ist das die Klientel, bei denen AfD-Slogans wie „Vollende die Wende!“ auf offene Ohren stoßen?
Dieser Slogan ist eine Frechheit, denn er nimmt den Menschen das Verdienst der Wende weg. Ich glaube, dass sich die Klientel der AfD zusammensetzt aus „Wut alt“ und „Wut neu“ zusammensetzt. Der Erfolg der Partei ist Ausdruck der Sehnsucht nach einer ostdeutschen Stimme.

Sie sind als Bürgermeister irgendwann der SPD beigetreten. Auch Ihre Partei ist ein West-Import. Wie können Sie da eine Stimme des Ostens sein?
Ich bin in die SPD eingetreten, weil es die Partei war, mit der ich die meisten Schnittmengen habe. Und weil ich zeigen wollte, dass man das System sehr wohl von innen verändern kann. Ich selbst brauche keine Stimme Ost. Ich halte auch nichts von diesen Ost-Beauftragten. Die schreiben den Status Quo fest ...

... das Vorurteil, dass sich die Ossis abgehängt fühlen und deshalb einen Fürsprecher brauchen?
Genau, damit gibt man den Menschen die Legitimation, nicht selber aktiv zu werden. Ich bin doch aber kein Indianer im Reservat, um den man sich kümmern muss. Ich brauche Augenhöhe. Das ist etwas Anderes.

Sie wurden 2013 zum ersten Mal als Bürgermeister gewählt worden. Was hat Sie motiviert, in die Politik zu gehen?
Ich war erst Journalist, dann Unternehmer. Erst nachdem ich aus dem Unternehmen ausgestiegen bin, kam ich in Augustusburg richtig an. Ich habe gemerkt, dass die Stadt hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben ist und keine Vision für die Zukunft hatte. Ich wollte es besser machen. Es war gewissermaßen Notwehr.

Und heute sind Sie der Kümmerer?
Im Gegenteil. Natürlich wird immer Leute geben, die meine Hilfe tatsächlich brauchen. Aber ich nenne das nicht kümmern. Jeder, der zu mir kommt und sagt: „Die Stadt müsste mal ...“, dem sage ich, „ich bin nicht die Stadt, ich bin die Stadtverwaltung, die Stadt bist du.“ Unsere Aufgabe ist es, den Leuten zu ermöglichen, sich einzubringen. Überkümmern macht passiv.

Und, wie reagieren die Menschen?
Einigen klappt die Kinnlade herunter, andere sind wenig begeistert. Aber so langsam glaube ich, die Leute verstehen, was ich ihnen damit sagen will.

Nämlich was?
Dass es keine Flatrate in der Demokratie gibt: Ihr macht alles – ich zahle schon Steuern. So geht das nicht. Das ist etwas, was wir in den vergangenen 30 Jahren sträflich vernachlässigt haben: die Entwicklung von Bürgersinn.

Ist das ein typisches Ost-Problem?
Nein, das glaube ich nicht. Ich habe über meinen Kampf gegen die Bürokratie und für mehr Bürgerbeteiligung ein Buch geschrieben. Und die meisten Anfragen dazu kamen verblüffenderweise aus dem Westen.

Welche Lehren könnten die Volksparteien aus diesem Buch und aus ihren Niederlagen bei den jüngsten Landtagswahlen im Osten ziehen?
Sie müssen Entscheidungsprozesse wieder dorthin zurückgeben, wo sie besser getroffen werden: in die Kommunen. Wir müssen den Menschen die Heimat zurückgeben.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt.

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