Soziale Gerechtigkeit - Das ist keine Neiddebatte

Die Diskussion um Gerechtigkeit in einer Gesellschaft verbindet Mindestlohn und Managergehalt. Dass Martin Schulz das Thema aufgegriffen hat, muss nicht jedem schmecken. Aber es ist die Aufgabe des Staates, Unter- und Oberkante der Gesellschaft im Blick zu haben. Eine Gegenrede

Oft scheitert die im politischen Berlin geforderte Soziale Gerechtigkeit an der Realität / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Es gibt politische Reizthemen, die Reflexe auslösen, gegen die sich ein pawlowscher Hund ausnimmt wie ein Schaukelpferd. Man kann dabei ein Prinzip erkennen: Je direkter das Thema mit Geld und dessen Verteilung zu tun hat, desto reflexhafter die Reaktionen. Das erweist sich aktuell an der vom SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz angestoßenen Diskussion über die etwaige Deckelung der Managergehälter.

Es ist die komplementäre Debatte zum großen Aufschrei um den Mindestlohn. Was wurde vor dessen Einführung polemisiert und apokalyptisch gewarnt. Mit dem Mindestlohn, so konnte man vielerlei Wortmeldungen entnehmen, wird der wirtschaftliche Untergang Deutschlands besiegelt. Weil der böse Krake Staat in seiner Regulierungswut wieder alle dynamischen Kräfte des Marktes abwürgt. Das gleiche Muster zeigt sich nun in der Debatte um die Managergehälter.

Wie sich erwiesen hat, ging die Sonne nach Einführung des Mindestlohns weiter auf über Deutschland, die Wirtschaft strotzt nur so vor Kraft. So sehr, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble im Moment gar nicht weiß, wohin mit all seinen sprudelnden Steuermilliarden.

Managergehälter und Mindestlohn

Die Debatte um die Managergehälter ist die Komplementärdebatte zum Mindestlohn. So, wie es zu recht eine Untergrenze geben sollte, wie viel ein arbeitender Mensch für eine noch so unqualifizierte Arbeit bekommt, so ist auch das Bestreben, auf Obergrenzen einzuwirken, ein politisch legitimes Ziel. Denn ebenso wie es eine Unterkante dessen gibt, was Arbeit allein schon wegen der zur Verfügung gestellten Lebenszeit pro Stunde wert ist, gibt es eine Obergrenze dessen, was sich noch durch Leistung und Verantwortung rechtfertigen lässt.

Es ist eine gesamtgesellschaftlich relevante und damit eine politische Aufgabe, in einem Gemeinwesen darauf zu achten, dass die Spreizung der Einkommen in einem Rahmen liegt, der den Zusammenhalt dieses Gemeinwesens gewährleistet. Deshalb ist es nicht nur das Recht des Staates, sondern seine Aufgabe, sowohl auf die Unter- wie auch auf die Oberkante ein Auge zu haben. Das ist keine Regelungswut und Freiheitsberaubung durch einen Nanny-Staat, sondern ebenso geboten, wie sich ein Gemeinwesen darauf verständigt, dass in Städten nicht jeder so schnell fahren darf wie er will. Und wer dagegen verstößt und wenn durch den Verstoß ein Mensch zu Schaden kommt, muss der Täter hart belangt werden.

Staat ist Gesamtheit der Individuen

Der Staat ist dabei nicht jene entkoppelte Kraft, die nur Böses im Schilde führt, seine Untergebenen schikaniert, drangsaliert und entmündigt. Der Staat ist die Gesamtheit der Individuen, die ein Gemeinwesen bilden. „L‘état, c‘est nous!“, um mal ein Wort eines Herrschers zu variieren, der das noch nicht verstanden hatte. 

In die Irre geht im größeren Kontext auch der Vorwurf, Schulz betreibe mit seinem Wahlkampfthema Gerechtigkeit politischen Kitsch oder Sozialromantik. Man kann, darf und soll sich trefflich streiten, was Gerechtigkeit ist und ob es sie in einer absoluten Form überhaupt geben kann. 

Das heißt aber nicht, relative Gerechtigkeit als Ziel aufzugeben zu müssen. Wer sich über dieses Bestreben lustig macht, verkennt, dass der Zusammenhalt und der soziale Frieden einer Gesellschaft auf einem mehrheitlichen Empfinden fußt, dass es grosso modo fair zugeht in diesem Gemeinwesen. Andernfalls driftet es auseinander. Diese Drift ist derzeit zu erkennen. 

Innerer Zusammenhalt gefährdet

So wie jeder Unternehmer in seinem Unternehmen auf eine faire Verteilung der Entlohnung achten muss, wenn sein Unternehmen intakt sein soll – so muss auch eine Regierung, welcher Couleur auch immer, dieses Ziel im Auge behalten. Wer Gerechtigkeit oder das Streben nach ihr verhöhnt, gefährdet den inneren Zusammenhalt. Es stimmt, Gerechtigkeit ist nicht bis in den letzten Cent und Euro zu messen. Aber das ist der „Pursuit of Happiness“ auch nicht, der in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben ist und über den sich keiner lustig macht, obwohl das Anrecht auf Glück und dessen Erreichen noch ungleich weniger an irgendeiner Elle messbar ist.

Erinnert sich noch jemand an die Kurvendiskussion im Mathematikunterricht? Da ist es so, dass man die Kurve selbst nur errechnen kann, in dem man sich mit immer kleineren „Kästchen“ ihr annähert. Ganz erreicht man die Kurve damit nie, man kommt nur in ihre unmittelbare Nähe. Aber niemand stellt deshalb die Methode in Frage. Denn es gibt keine bessere. Und sich der Kurve so nah wie möglich anzunähern ist definitiv besser, als alles Rechnen aufzugeben, nur weil man das Ideal nie erreicht. So ist das auch mit der Gerechtigkeit. Die Debatte um sie – das Ringen um sie – ist die Kurvendiskussion der Gesellschaft.

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