Verzicht auf Kanzlerkandidatur - Gabriel will nicht mehr

Nun ist es raus: Sigmar Gabriel verzichtet zugunsten von Martin Schulz auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz der SPD. Sensation? Der „Cicero“ hatte dafür schon im Mai vergangenen Jahres Hinweise. „Gabriel will nicht mehr“ stand auf dem Cover und dieser Text im Heft

Sigmar Gabriel räumt das Feld und verzichtet auf die Kanzlerkandidatur / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Es ist mal wieder einer dieser ­Sigmar-Gabriel-Momente. Manche Genossen verdrehen die Augen, andere starren betreten ins Nichts. Beifall bekommt er nicht. Freunde haben ins Gewissen geredet. Sie haben ihm geraten, auf Polemiken gelassener zu reagieren, auf Kritik souverän zu antworten und nicht persönlich. Doch Gabriel kann das nicht. Er nimmt übel. Fast scheint es so, als spornten ihn solche persönlichen Angriffe an. Wie im Dezember 2015 auf dem SPD-Parteitag in Berlin. Damals hatte er die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann in einer Wutrede geschurigelt. Auch deshalb war er bei der anschließenden Vorstandswahl von den Delegierten mit einem Ergebnis von 74 Prozent abgestraft worden. Seither gilt der SPD-Vorsitzende als politisch angeschlagen.

Dunkle Vorzeichen

Diesmal knöpft sich Sigmar Gabriel einen Jungsozialisten aus Hannover vor. Mitte April redet er auf dem Parteitag der niedersächsischen SPD in Braunschweig. Düster ist es in der Halle, von der Decke hängen große schwarze Tücher. Hinter dem Redner springen wilde Pferde aus dem Bühnenbild. Der Parteichef, Vizekanzler und Wirtschaftsminister spricht über bessere Bildung, über die Erhöhung der Primäreinkommen und nennt dies die „bessere Umverteilungspolitik“. Vor allem aber lehnt er es ab, 2017 erneut mit der Forderung nach Steuererhöhungen in den Wahlkampf zu ziehen. Nicht jedem Delegierten gefällt das. Der Beifall lässt sich höflich nennen, bestenfalls.

Schließlich geht Philipp Kreisz ans Mikrofon und wird persönlich. „Ich traue Sigmar Gabriel nicht“, sagt er. Waffenexporte, TTIP und soziale Einschnitte, „da haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem“. Immer wieder sagten ihm Leute, sie könnten nicht die SPD wählen, „solange Gabriel Vorsitzender oder gar Kanzlerkandidat“ sei. Die kurze Rede des Jusos ist eine einzige Provokation, der ganze Saal ahnt, was jetzt passiert.

Kein Spaß mehr am Parteispiel

Langsamen Schrittes geht der Parteichef noch einmal ans Mikrofon und lässt seinem gekränkten Ego freien Lauf: „Ich lass mich nicht für Wahlergebnisse verantwortlich machen, wenn wir uns halbieren, obwohl wir regiert haben“, sagt er mit Blick auf das desaströse Abschneiden seiner Partei bei den Wahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt. „Die SPD verleumdet ihre eigene Politik und wundert sich, dass sie keiner wählt“, flucht er und: „Die SPD spielt am liebsten das Spiel ,Wir gegen uns‘.“ Sigmar Gabriel hat keinen Spaß mehr an diesem Spiel.

Wer ihn in diesen Wochen aus der Nähe erlebt, trifft auf einen Mann voller Jähzorn, Resignation und Trotz. Einen Mann, der seinen Widerwillen gegenüber dem ganzen politischen Betrieb in Berlin kaum noch verbergen kann. Der sich in süffisanten bis zynischen Bemerkungen ergeht, seine rhetorische Brillanz nur noch aufblitzen lässt, um sich zu mokieren: über die Dummheit seiner innerparteilichen Kritiker, über die Hoffart der Hauptstadtjournalisten oder über die Mechanismen des Politikbetriebs.

Das Feuer des letzten echten Kämpfers in der SPD ist erloschen. Spätabends, wenn die Krisentreffen in der Großen Koalition vorbei oder die Scheinwerfer der Talkshow von Maybrit Illner abgeschaltet sind, dann will Gabriel nur noch nach Hause. Mit Vollgas geht es dann 280 Kilometer über die Autobahn nach Goslar, für eine kurze Nacht und ein Frühstück mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Und morgens, wenn es in der dunklen Limousine aus seiner Heimat im Harz wieder zurück nach Berlin geht, dann drückt der Magen, je näher die Hauptstadt kommt.

Der Frust muss raus

Und irgendwann muss der ganze Frust einfach raus. Also wendet sich Gabriel in Braunschweig direkt an seinen Kritiker Philipp Kreisz: „Warum verschweigst du die Erfolge der SPD?“, will er von ihm wissen. „Warum verschweigst du, was wir in der Großen Koalition durchgesetzt haben?“ – Mindestlohn, Mietpreisbremse, Frauenquote. „Wenn du wirklich glaubst, es liegt am Vorsitzenden, dann wähl halt einen neuen“, sagt er schließlich, „stell einen auf, kämpf dafür, dass er Kanzlerkandidat wird, meine Frau freut sich darüber.“ Die Aufforderung ist nicht nur eine rhetorische Volte. Gabriel meint das zugleich absolut ernst. Später sagt er im Gespräch mit Journalisten noch einmal: „Das Beste, was der SPD passieren kann, wäre eine Kampfkandidatur um die Kanzlerkandidatur.“

Wie in einer griechischen Tragödie taumelt die SPD der Katastrophe entgegen. Im Mittelpunkt als tragischer Held: Sigmar Gabriel. Er hat sich wund gerieben an seinen Genossen und aufgerieben in der Großen Koalition. Seit nunmehr zweieinhalb Jahren erklärt er unermüdlich, die SPD sei der Motor der Bundesregierung und ihr soziales Gewissen. In Umfragen liegt die Partei dennoch nur bei 20 Prozent, fünf Punkte unter dem Wahlergebnis von 2013. Dankbarkeit kennt der Wähler nicht. „Man wird immer nur für das gewählt, was man für die Zukunft will“, sagt Hans-Peter Bartels, SPD-Politiker und derzeitiger Wehrbeauftragter.

SPD als Betriebsrat der Republik

Dass die SPD das Land regieren könnte, dass sie mehr sein könnte als der Juniorpartner der Union, mehr als der Betriebsrat der Republik, trauen die Wähler ihr nicht zu. Der Anspruch, Volkspartei zu sein, wirkt somit zunehmend lächerlich. Weil die Macht fern ist und die Aussicht, auf Dauer nur Mehrheitsbeschaffer der Union zu sein, frustrierend, brechen die alten innerparteilichen Konflikte immer wieder auf.

Sozialdemokratische Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität oder Zusammenhalt werden in der Partei ganz unterschiedlich interpretiert. Der Riss, der seit der Agenda 2010 tief durch die Partei geht, lässt sich nicht kitten. Die SPD findet keinen glaubwürdigen Kurs zwischen den Herausforderungen einer globalisierten Realpolitik und der Sehnsucht vieler traditioneller Wähler nach einfachen Antworten sowie nationalen Lösungen. Der Markenkern bleibt beschädigt. Wie in einem Brennglas verkörpert Sigmar Gabriel dieses Dilemma in seiner Doppelfunktion als Parteivorsitzender und Wirtschaftsminister.

So verliert die SPD Wähler in alle Richtungen: in der Mitte an die CDU, im Osten an die Linke, im linken Bürgertum an die Grünen, bei der unzufriedenen Mittel- und Unterschicht an die AfD. Zudem emanzipieren die Grünen sich von Rot-Grün. Sie stellen mit dem Kretschmann-Kurs sogar die Führungsrolle der SPD im linken Lager infrage. Die Zweifel, ob mit Gabriel noch die Wende gelingen kann, sind unter den Sozialdemokraten groß. Doch genauso groß ist die Angst, dass der Parteichef einfach abtritt und seine Partei endgültig ins Chaos stürzt.

Nerven nicht behalten

„Das ist doch nicht nur ein Problem für den Vorsitzenden“, betont der niedersächsische Ministerpräsident Stefan Weil. Er verweist auf die grundlegenden Veränderungen im Wahlverhalten der Deutschen sowie auf schwierigen Bedingungen, mit denen Sozialdemokraten angesichts des Erstarken des Rechtspopulismus derzeit in vielen europäischen Ländern zu kämpfen hätten. Die SPD sei immer noch damit beschäftigt, ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, sagt SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel, „es muss wieder klar sein, dass wir die Partei der sozialen Gerechtigkeit sind. Da müssen wir lauter, erkennbarer und mutiger werden.“ „Die Nerven behalten“, rät Hamburgs Erster Bürgermeister und SPD-Vize Olaf Scholz seinen Genossen, „so haben wir es in Hamburg auch geschafft.“

Nach zehn Jahren Opposition kehrte die SPD dort 2011 mit absoluter Mehrheit an die Macht zurück. Inzwischen regiert Scholz die Hansestadt in einer Koalition mit den Grünen. Die SPD brauche „strategische Geduld“, sagt er. „Wir dürfen nicht aufhören, das Richtige zu tun. Das wird sich irgendwann auszahlen. Wann der Moment kommt, kann niemand vorhersehen.“ Zuversichtlich klingt das mit Blick auf 2017 nicht. Am Ende, das wissen alle Sozialdemokraten, kommt es auch auf den Kanzlerkandidaten an. Viele führende Sozialdemokraten versuchen derzeit alles, um jede Personaldiskussion zu vermeiden. „Der Parteivorsitzende ist immer der logische Kanzlerkandidat“, betont Olaf Scholz. Gabriel hingegen beschwört diese regelrecht herauf. Fast scheint es, als suche er ein letztes Mal das ihm verhasste Wir-gegen-uns-Spiel. Als würde der SPD-Vorsitzende eine Urwahl um die Kanzlerkandidatur vor allem deshalb herbeisehnen, um anschließend geschlagen, aber erhobenen Hauptes das Feld räumen zu können.

Frühere Rücktrittsgedanken

Sigmar Gabriel will nicht mehr. Schon nach der Demütigung von Berlin dachte er an Rücktritt. Am 13. März war es wieder so weit. Am Nachmittag der Landtagswahlen trifft sich die Parteiführung traditionell im Büro des Parteivorsitzenden im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses in Berlin. Als gegen halb fünf die ersten Prognosen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt eintreffen, will Gabriel sofort alles hinschmeißen. Nur mühsam gelingt es den Anwesenden – darunter Parteivize Olaf Scholz, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz – den impulsiven Parteichef von dieser Affekthandlung abzuhalten.

Doch der Drang, einfach ein letztes Mal ins Auto nach Goslar zu steigen und alles hinter sich zu lassen, arbeitet weiter in ihm. Sigmar Gabriel weiß: Er wird nie zum Kanzler gewählt. Seine Sympathiewerte sind dafür zu schlecht, und daran wird sich auch nichts mehr ändern. Doch die Chance, selbstbestimmt abzutreten, hat er verpasst.

Chancen vergeben

Aber Gabriel lässt mittlerweile auch Chancen liegen, seine Partei gegen die CDU zu profilieren. Die verkorkste Flüchtlingspolitik der Kanzlerin hätte da Möglichkeiten geboten. Doch nachdem nun andere Länder in Europa Angela Merkel die Arbeit abgenommen haben, nachdem Europa sich abgeschottet hat, ohne dass Deutschland sich dafür die Hände schmutzig machen musste, hat sich dieses Zeitfenster wieder geschlossen. Ein Gerhard Schröder oder ein Oskar Lafontaine hätten Merkels Schwäche kalt lächelnd genutzt. Sie hätten die Kanzlerin populistisch vorgeführt und die SPD auf Kosten der CDU profiliert. Gabriel ließ die Gelegenheit verstreichen, obwohl er sie als Instinktpolitiker natürlich sah. Zu sehr war seine innerparteiliche Handlungsfähigkeit bereits eingeschränkt, zu groß war seine Furcht vor den Merkelianern in den eigenen Reihen.

Natürlich liegt Es nicht allein am Vorsitzenden, dass die SPD am Abgrund steht. Ursache ist ein dreifaches Dilemma. Die SPD hat nicht nur keinen populären Kanzlerkandidaten. Sie hat auch keine Botschaft, die die disparaten Wählergruppen zusammenführen könnte.

Basis zebrochen

Zumindest in Teilen des Landes hat die Partei außerdem keine mobilisierungsfähige Basis mehr. Zwar verweist die SPD gern auf ihre Stärke in den Ländern, auf neun Ministerpräsidenten und auf 13 Regierungsbeteiligungen. Aber stark ist die Partei nur noch im Norden und im Westen. „Wir haben ein Süd-Ost-Problem“, sagt Sigmar Gabriel und verweist auf Bayern und Baden-Württemberg, Sachsen oder Sachsen-Anhalt. Dort liegt die SPD längst unter der 20-Prozent-Marke. „Wie sollen wir da insgesamt über 30 Prozent kommen?“, fragt er resigniert.

Und schon im September steht die SPD bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin wieder unter Druck, im Mai kommenden Jahres in Nordrhein-Westfalen. Drei sozialdemokratische Ministerpräsidenten müssen ihre Macht verteidigen. Setzen sich der Trend dieses Frühjahrs und der Aufstieg der AfD fort, dann werden in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin nicht einmal mehr SPD und CDU eine Mehrheit im Landtag bekommen. In Nordrhein-Westfalen steht Rot-Grün auf der Kippe.

Alle drücken sich weg

So nimmt die Tragödie ihren Lauf. Gabriel kann die Katastrophe nicht abwenden, viele andere wollen nicht. Längst hat der Parteivorsitzende in vertraulichen Gesprächen vorgefühlt, ob nicht andere für die SPD 2017 gegen Merkel ins Rennen gehen wollen. Wohl wissend, dass er dann auch den Parteivorsitz würde abgeben müssen. Aber niemand will Kanzlerkandidat werden. Nicht Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Er ist zwar mit großem Abstand der beliebteste Sozialdemokrat, aber er hat immer noch an der demütigenden 23-Prozent-Schlappe als Kanzlerkandidat im Jahr 2005 zu tragen. Noch einmal will er sich dies nicht antun. Nicht Olaf Scholz. Er hat zwar in Hamburg gezeigt, wie die SPD Wahlen gewinnen kann, aber er wittert erst 2021 seine Chance im Bund. Nicht Martin Schulz. Der ist zwar ein leidenschaftlicher Wahlkämpfer, aber bei den Wählern kaum bekannt.

Alle drei haben mehr oder weniger vehement den Kopf geschüttelt, alle drei ducken sich weg. Keiner will sich in die Pflicht nehmen lassen, keiner will für die absehbare Niederlage im September nächsten Jahres verantwortlich sein.

Nicht einmal an einen Achtungserfolg glauben sie. Steinmeier, Scholz und Schulz haben noch den Wahlkampf 2013 in schlechter Erinnerung. Vor zweieinhalb Jahren landete Peer Steinbrück auch deshalb mit nur 25,7 Prozent abgeschlagen hinter der Union und hinter Merkel, weil in der Wahlkampfzentrale im Willy-Brandt-Haus Chaos herrschte, dem Kanzlerkandidaten Missgunst und Misstrauen entgegenschlugen. Nicht nur personell, programmatisch und organisatorisch ist die SPD derzeit schlecht aufgestellt. Sie ist auch nicht kampagnenfähig.

Und so setzen alle drei darauf, dass Sigmar Gabriel als Parteivorsitzendem nichts anderes übrig bleibt, als die Kanzlerkandidatur 2017 selbst zu übernehmen – als letzten Dienst an seiner Partei. Es ist ein zynisches Kalkül, und es ist brandgefährlich. Denn mit dem falschen Kanzlerkandidaten und mit demotivierten Wahlkämpfern droht der SPD sogar der Sturz unter die 20-Prozent-Marke – und damit eine existenzielle Krise. Niemand kann vorhersagen, wie die Basis der Partei, die so stolz ist auf ihre über 150-jährige Geschichte und nach der Historiker ein ganzes „sozialdemokratisches Jahrhundert“ benannt haben, auf eine solche Demütigung reagiert.

Letzter Dienst

Allein sozialdemokratisches Pflichtgefühl hält Sigmar Gabriel offenbar davon ab, einfach die Brocken hinzuschmeißen. Er trage wie alle Parteivorsitzenden die Uhr des SPD-Mitbegründers und ersten großen SPD-Vorsitzenden August Bebel in der Tasche. „Die streift man nicht einfach so ab“, sagt ein Nahestehender. Man kann dies auch als Mahnung verstehen. Denn sicher kann sich in der SPD niemand sein, dass Gabriel seiner Partei diesen einen letzten Dienst erweist.

Vielleicht also nimmt die Tragödie schon bald eine ironische Wendung. Tritt Gabriel ab, wird die Partei einen der drei Drückeberger in die Pflicht nehmen. Und vermutlich wird dann der Europäer Martin Schulz für die SPD in den Bundestagswahlkampf ziehen. Er soll bei der Frage nach der Kanzlerkandidatur seinen Kopf am wenigsten energisch geschüttelt haben. So tief ist die stolze SPD gefallen, dass sie am Ende denjenigen an die Spitze stellen muss, der sich nicht schnell genug in die Büsche geschlagen hat.

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