Sahra Wagenknecht - „Ich bin nicht die geborene Netzwerkerin“

Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht über die Sammlungsbewegung „Aufstehen“, ihre Wandlung von einer räumenden Kommunistin zur kühlen Realpolitikerin, über Migration, Heimat und einen möglichen Einsatz der Bundeswehr im Syrienkrieg

Erschienen in Ausgabe
„Heimat ist kein rechter Begriff. Menschen möchten in einem Umfeld leben, wo sie sich geborgen fühlen” / Barbara Dietl
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Christoph Wöhrle ist freier Journalist und lebt in Hamburg.

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In nahezu jedem Porträt über Sahra Wagenknecht steht etwas über ihre streng nach hinten frisierten Haare. Über ihre zur Schau gestellte, züchtige, ja fein inszenierte Strenge. Tatsächlich hat sie etwas von einer Gouvernante, wenn man ihr in ihrem Büro gegenübersitzt. Der Händedruck ist beherzt, ihre dunklen Pupillen funkeln angriffslustig, und ihre Körpersprache sagt: Ich habe die Kontrolle. Allerdings vermeidet sie möglichst direkten Augenkontakt im Gespräch, und lockerer Smalltalk fällt ihr eher schwer. Aber gastfreundlich, das ist sie. Nachdem sie ihren Besuchern selbst das angebotene Wasser in die Gläser gegossen hat, bittet sie um die erste Frage.

Frau Wagenknecht, ist aus „Aufstehen“ schon ein „Hinsetzen“ geworden?
Es haben sich bisher 140 000 Menschen bei uns angemeldet. Weit mehr, als wir erwartet hatten. Das ist ein großartiger Start.

Die Medien berichten eher kritisch bis spöttisch über Ihre Bewegung.
Es gab auch viel Unterstützung in den Medien. Selbst in Cicero habe ich faire Artikel gelesen. Und die negativen haben den großen Zuspruch nicht verhindert. Übrigens wie bei Corbyn in Großbritannien.

Ihre Partei hat jetzt aber schon klargemacht: Das ist kein Projekt der Linken. Enttäuscht von den Parteifreunden?
Nein, dankbar für eine Klarstellung, die allerdings überflüssig war. Denn ein Projekt, bei dem Simone Lange, Peter Brandt, Antje Vollmer, Ludger Volmer und viele andere sich engagieren, ist erkennbar kein Projekt der Linkspartei, sondern ein überparteiliches. Eine Bewegung, die von 80 bekannten Persönlichkeiten gestartet wurde, Schriftstellern, Theaterleuten, Wissenschaftlern, die überwiegend in keiner Partei Mitglied sind. Das ist ja gerade der Charme.

Sie haben einige Namen genannt. Da sind Leute dabei, die ihre ganz große Zeit hinter sich haben, und es sind Leute dabei, die auch vorher in ihren Parteien wenig Wertschätzung erfuhren. Und mancher Querulant.
Ich finde es nicht querulatorisch, sondern konsequent, wenn bekannte Politiker der Grünen darauf bestehen, dass Umweltthemen ohne Rücksicht auf Lobbyisten-Interessen vertreten werden, und wenn sie die Grünen aufrufen, sich für Frieden und Abrüstung einzusetzen. Und bei der SPD steht ein Mann wie Rudolf Dreßler für ein sozialdemokratisches Profil, das der SPD noch ganz andere Wahlergebnisse beschert hat.

Hat Ihr eigenes Schicksal in der Linken bei der Gründung eine Rolle gespielt? Sie spüren gerade viel Gegenwind.
Und noch mehr Zustimmung. Natürlich gibt es auch Kritik. Aber das ist in allen Parteien so und nicht das, was mich umtreibt. Ich erlebe, dass sich Deutschland in eine Richtung verändert, die Angst macht, und habe das Gefühl, wir haben nur ein bestimmtes Zeitfenster, um dem etwas entgegenzusetzen. Die Politik der Großen Koalition führt dazu, dass sich immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden. Und die linken Parteien erreichen ihre frühere Kernwählerschaft immer weniger.

Noch bei Ihrer Person bleibend: Im Englischen gibt es einen schönen Begriff – Lonerin. Sind Sie eine „Alleinerin“, tun Sie sich alleine leichter als im Team?
Ich habe dafür geworben, dass 80 sehr unterschiedliche Prominente sich zusammenfanden, die gemeinsam „Aufstehen“ auf den Weg gebracht haben. Das war eine schöne Erfahrung und ist nicht gerade ein Ausweis von Alleinertum. Dass man politisch nur etwas bewegt, wenn man sich mit anderen zusammentut, ist doch klar.

Trotzdem sind Sie recht einsam. Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, dass Sie die Linke atomisieren und weiter schwächen?
Ich fühle mich in meiner „Einsamkeit“ mit 140 000 Mitstreitern und vollen Sälen ganz wohl. Und dass eine Bewegung für mehr sozialen Zusammenhalt solche Resonanz erfährt, ist eine Ermutigung für linke Politik.

Sie basteln mit Ihrer Bewegung noch eine linke Kraft obendrauf. Wenn man sich die Geschichte der Partei ansieht, scheint es, als neige sie dazu, sich in Parzellen aufzuteilen, statt gemeinsam zu wirken.
Wir basteln nichts obendrauf, sondern wir sind eine überparteiliche Bewegung, die die Kräfte zusammenführen will.

Schließen Sie aus, dass daraus eine eigene Partei werden könnte?
Wir wollen Parteien verändern. Wir wollen, dass es nach der nächsten Bundestagswahl eine neue Regierung gibt, die endlich wieder Politik für die Mehrheit macht. Die Mehrheit will mehr sozialen Ausgleich, höhere Löhne, bessere Renten, sie lehnt es ab, noch mehr Geld in Rüstung zu stecken und Soldaten in schmutzige Kriege zu schicken. Das zeigen alle Umfragen. Das muss endlich wieder Regierungspolitik werden.

Wenn Sie keine eigene Partei gründen, also nicht antreten zu Wahlen, was machen Sie dann? Wahlempfehlungen aussprechen?
Zunächst mal wollen wir Druck ausüben. Druck auf die Parteien. Die CDU hat kein Erbrecht auf den Kanzlerposten, aber solange die SPD bei ihrem jetzigen Kurs bleibt, wird sie auf ewig maximal Juniorpartner bleiben. Bewegungen haben schon vieles verändert. Denken Sie an die Friedens- und die Umweltbewegung. Aktuell kommen die Bewegungen leider vor allem von rechts. Dass die Große Koalition sich vor dem Sommer fast an der Frage zerlegt hätte, ob man die zehn Flüchtlinge, die sich im Monat bei bayerischen Grenzposten melden, zurückweist oder ins Land lässt, ist ein Ergebnis dieses Druckes. Aber dadurch verändert sich nichts zum Guten, im Gegenteil, die soziale Spaltung in unserem Land wächst weiter.

Trotzdem war es ja schon ein Alleingang von Ihnen und Ihren Mitstreitern. Werden Sie jetzt Fraktionsvorsitzende der Linken bleiben?
Wir haben in der Fraktion mehrfach über das Projekt diskutiert. Und viele Fraktionsmitglieder unterstützen uns.

Ist das nicht ungewöhnlich, dass eine Bewegung von oben beginnt? Normalerweise ist es umgekehrt.
Es gibt beides. Bewegungen, die durch eine Initialzündung entstehen, die eine Person oder mehrere Personen setzen, oder Bewegungen, die sich aus einer konkreten, oft regionalen Initiative heraus entwickeln. Letztlich lebt natürlich jede Bewegung, so auch unsere, vom Engagement der vielen.

Eine Bewegung braucht charismatische Galionsfiguren. Wer könnte das sein? Robert Habeck? Aber er unterstützt das Projekt nicht.
So ganz verstehe ich nicht, wie Sie in diesem Zusammenhang auf Robert Habeck kommen.

Der wäre so ein Leader mit Charisma.
Ach so. Ich wünsche mir übrigens, dass durch die Bewegung neue Köpfe, junge Talente entdeckt werden, die es in Parteien oft sehr schwer haben.

Wie definieren Sie denn Ihre eigene Rolle? Es gibt Leute in Ihrer eigenen Partei, die sagen, das ist ein weiterer Ausweis des Egotrips der Sahra Wagenknecht.
Es ist kein Egotrip, Leute zu sammeln, die sich für sozialen Zusammenhalt, Frieden und Umweltschutz einsetzen.

Sie haben gesagt, dass Sie nicht mehr nur Oppositionsanträge schreiben wollen.
Ich bin in die Politik gegangen, weil ich etwas verändern will. Ich will nicht nur kritisieren, ich will gestalten.

Sahra Wagenknecht wurde 1969 in Jena geboren. Die Philosophin und Wirtschaftswissenschaftlerin ist seit 2015 Vorsitzende der Linken-Fraktion im Bundestag / Barbara Dietl

Man sieht bei Ihnen einen Wandel von der träumenden Kommunistin zur kühlen Pragmatikerin. Sehen Sie sich selbst so?
Natürlich habe ich heute in vielen Fragen andere Positionen als mit Anfang 20. Ich glaube, das ist normal. Menschen, die sich gar nicht weiterentwickeln, sind mir ähnlich suspekt wie solche, die ihr Fähnlein ständig nach dem Wind hängen. Ich vertrete, was ich für richtig halte.

Noch so ein „Allein“-Stellungsmerkmal: Sie vertreten in der Migrationsfrage eine Position, die von vielen Ihrer Parteifreunde schon als No-Go betrachtet wird. Mindestens so ausgeprägt ist dieser Reflex bei Grünen und SPD. Wie wollen Sie denn diesen Widerstand überwinden und Leute für sich einnehmen?
Ich erfahre sehr viel Zustimmung für meine Position. Die SPD ist in der Migrationsfrage mindestens so gespalten wie die Linke. Und die Grünen haben sich an Verschlechterungen des Asylrechts im Bundesrat selbst beteiligt. Letztlich vertritt keine dieser Parteien heute noch die Maximalposition, dass jeder, der möchte, nach Deutschland kommen und hier bleiben kann. Eben weil jeder weiß, dass das völlig unrealistisch ist. Was dringend verteidigt werden muss, ist das Recht auf Asyl. Aber Zuwanderung ist nur in den Grenzen möglich, in denen Integration funktioniert. Und Integration ist an Voraussetzungen gebunden. Die Menschen brauchen Wohnungen, Arbeitsplätze und Bildung für ihre Kinder. Wenn Integration scheitert, wenn es zu Verdrängung kommt, dann führt das zu Ängsten und vergiftet das Klima im Land.

Stichwort politische Rechte. Sie wollen einerseits AfD-Wähler zurückholen, andererseits aber eben auch bei SPD und Grünen fischen. Wie soll das thematisch gehen?
Gucken Sie sich doch an, wo die AfD-Wähler herkommen. Im Ruhrgebiet etwa sind das zu großen Teilen ehemalige SPD-Wähler. Und im Osten, wo kommen die AfD-Wähler her? Da sind es zu großen Teilen ehemalige Linken-Wähler. Also so zu tun, als sei das jetzt eine besondere Spezies, die so abwegige Auffassungen hat, dass man mit ihnen am besten gar nicht reden darf, das halte ich für völlig daneben.

Die Wirtschaft in Deutschland brummt, die Arbeitslosigkeit sinkt stetig. Warum gerade jetzt so eine Bewegung?
Erstens wird die Wirtschaft womöglich nicht mehr lange brummen, es gibt große globale Ungleichgewichte und Unsicherheiten. Außerdem ist der aktuelle Boom leider nicht gleichbedeutend damit, dass es allen besser geht. Trotz Wirtschaftsboom haben heute etwa 40 Prozent der Bevölkerung weniger reales Einkommen als 20 Jahre zuvor. Das heißt, sie nehmen am Wachstum nicht teil.

Das sind Zahlen des Sozioökonomischen Panels. Es gibt andere Untersuchungen, die unisono besagen, dass die realen Einkommen gestiegen sind, auch bei den Ärmeren.
Kein vernünftiger Mensch kann bestreiten, dass die Ungleichheit in Deutschland weiter zunimmt. Das sozio­ökonomische Panel ist ein sehr seriöses Panel und die, die das wegreden, sollen mir mal erklären, warum sonst wir eine derartige Krise der Demokratie haben. Man muss sich doch nur mal in bestimmten Gebieten umschauen. Es gibt ganze Stadtviertel, etwa in Gelsenkirchen, die heute viel schlimmer aussehen als vor 20 Jahren. Gerade im Osten gibt es in bestimmten Landstrichen, im ländlichen Bereich keinerlei Infrastruktur mehr. Kein Landarzt, kein Bus. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, völlig zu Recht.

Was lehren uns Chemnitz und Köthen?
Die Vorfälle zeigen, wie gespalten die Gesellschaft ist. Sie zeigen, wie stark die Verunsicherung ist und wie die von Rechten instrumentalisiert wird. Wir hatten früher keine Demonstrationen mit 7000 Menschen, in denen zugleich Nazis mitlaufen und von einigen der Hitlergruß gezeigt wird. Aber gerade deshalb ist es falsch, jetzt alle 7000 als Nazis abzustempeln oder gar ganze Städte zu verurteilen.

Wollen Sie denn mit „Aufstehen“ auch Begriffe besetzen wie Heimat, Identität, Zusammengehörigkeitsgefühl?
Heimat ist doch kein rechter Begriff. Heimat ist etwas ganz Existenzielles. Menschen möchten in einem Umfeld leben, wo sie sich geborgen und sicher fühlen. Menschen zu zwingen, immer mobil zu sein, ständig umzuziehen, ihren Freundeskreis zu verlieren, ist eine fatale Entwicklung. Die Verteidigung des Rechts auf Heimat hat nicht primär etwas mit Zuwanderung zu tun. Sondern damit, dass wir wieder mehr Stabilität im Leben brauchen. Diese Unsicherheit, diese Beschleunigung, diese Ökonomisierung aller Lebensbereiche, auch die Zerstörung von gewachsenen Strukturen, nehmen Sie kleine Cafés oder alte Tante-Emma-Läden, die von großen Ketten verdrängt werden – das ist eine Uniformierung und Verarmung der Innenstädte. Das gehört alles für mich zum Begriff Heimat dazu.

Noch mal zu Ihrer Person. Wir sitzen in Ihrem Büro, wie lange, glauben Sie, ist ein Doppelleben als Fraktionschefin der Linken und Initiatorin zur Bewegung vorstellbar? Wie lange halten Sie das durch?
Es ist kein Widerspruch, wenn sich eine Fraktionsvorsitzende in einer gesellschaftlichen Bewegung engagiert.

Ein Ausflug noch nach Schweden. Wie interpretieren Sie den Wahlausgang dort?
Es ist ein ähnlicher Trend wie in anderen Ländern. Zwar sind die Sozialdemokraten nicht so abgestürzt wie in den Niederlanden und in Frankreich, aber auch in Schweden haben sich die Menschen entfremdet, sie fühlen sich nicht mehr aufgehoben. Der Sozialstaat wurde beschnitten. Und auch in Schweden hat die Zuwanderungsfrage natürlich eine wichtige Rolle gespielt.

Was einen auch zu dem Gedanken bringen könnte, dass die dortigen Sozialdemokraten deswegen nicht ganz so abgeschmiert sind, weil sie ihre Politik geändert haben.
Sie haben sie verändert, wobei man natürlich sagen muss, Schweden hat anteilig zur Bevölkerung wesentlich mehr Menschen aufgenommen als Deutschland.

Politisch explosiv wird es auch in der Syrienfrage. Wenn sich das Thema Krieg oder Militäreinsatz mit dem Humanitären verbindet, wie jetzt wahrscheinlich mit prophezeiten oder vorausgesagten Giftgasanschlägen. Und der Frage, wie sich eine Allianz um die USA verhält, die Vergeltungsschläge plant. Wenn sich die Grünen quasi schon im Moment in so eine Art Jamaika-Koalition begeben, ist das für Sie eher eine Blockade?
Es ist traurig, wohin die Grünen sich entwickelt haben. Sie gehören ja inzwischen zu den lautesten Rufern nach Kriegseinsätzen und haben offenkundig wenig Hemmungen, dabei auch das Völkerrecht zu ignorieren. Es gibt im Völkerrecht keine Vergeltung. Wenn jemand Giftgas einsetzt, dann ist das ein Kriegsverbrechen. Das muss geahndet werden, dafür gibt es den Internationalen Gerichtshof.

Jenseits des Internationalen Gerichtshofs gäbe es auch die UN, aber dort ist Russland mit drin und würde immer eine Blockade durchführen.
Auch wenn der Sicherheitsrat oft blockiert ist, kann man das Völkerrecht nicht ignorieren. Bomben schaffen keinen Frieden, sondern führen nur zu noch mehr Blutvergießen. Der Ausweg kann doch nur sein, einerseits diplomatisch Druck auf Assad und seine Allianz auszuüben und gleichzeitig Druck auf die islamistischen Mörderbanden vor Ort, die die Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzen und vielfach ausgerüstet und aufgerüstet wurden durch westliche Staaten, nicht zuletzt durch die USA. Es sollte erreicht werden, dass sie friedlich abziehen.

Auch Ihre Zukunft bleibt ungewiss. Sie bleiben eine Reizfigur in Ihrer Partei. Ist die Bewegung für die Solistin Sahra Wagenknecht nicht auch die Chance auszubrechen, etwas Neues anzufangen, jemand anderes zu werden?
Noch einmal: Ich habe die Bewegung nicht allein gegründet. Und wir alle wollen mit ihr Berge versetzen.

Es heißt, dass Sie als Kind lieber lasen, als mit anderen Kindern zu spielen.
Was spricht dagegen? Im Übrigen habe ich auch gespielt, wenn es Sie beruhigt.

Aber alleine gespielt.
Soll ich mich jetzt noch für meine Kindheit rechtfertigen?

Dies ist ein Text aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.















 

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