Rudolf Scharping - „Wir brauchen Einwanderung ins Beschäftigungssystem, nicht ins Sozialsystem“

Der frühere SPD-Chef Rudolf Scharping spricht mit „Cicero“ über die globale Konkurrenz für Europa, eine kleinteilig agierende Bundesregierung und Wahrnehmungsstörungen seiner Partei

Rudolf Scharping im Juni auf Spargelfahrt mit Hubertus Heil und Franziska Giffey /picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Herr Scharping, Sie sind seit vielen Jahren nicht mehr Politiker, sondern Unternehmer. Haben vorher aber fast alle politischen Ämter bekleidet, die man bekleiden  kann: Ministerpräsident, Parteichef, Oppositionschef, Bundesminister: Wie nehmen Sie das politische Geschehen derzeit wahr?
Als manchmal kleinteilig, kurzatmig. Schauen Sie: Wir haben gerade die Revolution in Deutschland gefeiert, den Fall der Mauer, die deutsche Einheit. Da war die Hoffnung auf eine dauerhaft friedliche Welt. Übrigens: Die politische und kulturelle Konnotation von 1989 ist nicht allein europäisch. In Asien oder Russland sieht man diese Zeit völlig anders, auch in Afrika. Die „Herausforderungen an die Menschheit“ (um Gorbatschow oder Brandt aufzugreifen) sind größer geworden; und sie werden verschärft durch unberechenbare Politik, gewollte Schwächung internationaler Institutionen, Kriegsgefahren und Bürgerkriege direkt vor der europäischen Haustür – die Welt ist unsicherer geworden. Das alles schlägt sich auf Deutschland nieder. Von daher ist die deutsche Politik gut beraten, besonnen zu agieren, multilaterale Strukturen zu stärken, vor allen Dingen ein wesentlich engeres Zusammenwirken innerhalb Europas. Wir hinken da den Anforderungen deutlich hinterher.

Was hat sich grundlegend zur Ihrer aktiven Zeit verändert?
Die Welt ist politisch neu vermessen, das wird sich fortsetzen. Die Jahrhunderte der kulturellen, technischen oder politischen Überlegenheit Europas und des Westens sind vorbei. Wir müssen darauf achten, dass wir in der Welt überhaupt noch eine Rolle spielen, und das geht nur europäisch.

Ein Außenpolitiker der Großen Koalition, Norbert Röttgen, hat die deutsche Bundesregierung weltpolitisch jüngst zum „Totalausfall“ erklärt. Teilen Sie diese Ansicht?
Nein, das ist falsch. Deutschland spielt in Europa und mit Europa in der Welt eine wichtige Rolle. Aber wir müssen aufpassen, dass es so bleibt. Das geht nur, wenn die Europäer sich entschließen, global handlungsfähiger zu werden. Auf den Finanzmärkten, auf den digitalen Märkten, auf den Technologiemärkten zum Beispiel. Denn ohne Selbstbehauptung auf solchen Märkten hat Europa seine Zukunft bald hinter sich und wird marginalisiert.

Ist die Sache gelaufen?
Jedenfalls müssen wir Europäer mehr Verhandlungsmacht aufbauen, wenn  wir die Standards bei Industrie und Wirtschaft, die Regeln in Zukunft mitbestimmen wollen. Beispiel China, wo ich viel unterwegs bin: Es ist doch auffallend, dass auch deutsche Firmen auf Feldern wie etwa der Künstlichen Intelligenz, aber auch der Entwicklung neuer Produkte oder Materialien ihre Forschung und Entwicklung in China verstärken. China war und bleibt ein großer Markt – aber das Land wird immer mehr zum Standort für Forschung und Innovation.

Worin besteht die Gefahr für Europa?
Wie gesagt: die Welt ist schon neu vermessen. Es droht ein doppeltes Risiko: erstens, dass eine neue Bipolarität entsteht im asiatisch-pazifischen Raum; USA versus China; Ringen um technologische, wirtschaftliche und auch militärische Vorherrschaft. Zweitens: Marginalisierung der europäischen Staaten. Dem können wir in Europa und Deutschland nur gemeinsam entgegenwirken. Europa muss mächtiger werden anstatt sich in Nationalismus und andere totgeglaubte Irrwege zu verrennen.  

Sind diese Regierung und die Kanzlerin frisch genug für solche Herausforderungen?
Frau Merkel hat überaus großes internationales Ansehen, zu Recht. Ihre letzte Amtszeit begann innenpolitisch mit dem Versagen, eine handlungsfähige Regierung mit Grünen und FDP zu bilden. Die sind der Verantwortung einfach davongelaufen. Und große Weichenstellungen wie nach Fukushima mit der Energiewende oder 2015 bei der Flüchtlingskrise – die muss man eben nicht nur herbeiführen; man muss führen und argumentieren.

Rudolf Scharping, SPD (1994) / picture alliance

Wie steht es um die Energiwende?
Die Energiewende ist ein Jahrhundertprojekt. Wir wollen nun auch noch CO2 neutral werden. Das bedeutet noch einmal einen gewaltigen Ausbau der Stromerzeugung und -nutzung. Manchmal habe ich den Eindruck, das wird bearbeitet, als ginge es um Büroklammern. Das kann nicht gutgehen. Es ist eine der größten industriepolitischen Herausforderungen, das geht nicht ohne Investitionen. Wir brauchen starke Netz und vor allem Energiespeicher. Das heißt konkret: Ausbau der Wasserstofftechnologie. Das ist der Speicher der Zukunft, nicht mehr der Stausee auf dem Berg. Es ist interessant zu sehen, dass China für die Wasserstofftechnologie deutlich mehr Geld ausgibt wird als für die batteriegestützte Elektromobiltät. Die gesamte Infrastruktur in Deutschland muss modernisiert werden. Die Netze für Strom und Digitales, für Verkehr und Logistik, also Wasserwege, Eisenbahnen und Straßen – das sind alles Güter der Daseinsvorsorge. Hier müssen wir mehr Staat wagen und investieren.

Was heißt das für die Schuldenbremse und die Schwarze Null?
Das darf kein Hindernis sein. Schulden für Konsum sind Mist, salopp gesagt. Was aber vielen Generationen nutzen soll und die Grundlage ist unseres wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehens, das darf gerne auch von mehreren Generationen bezahlt werden. Das gilt übrigens auch für die Bildung.

Beide Volksparteien stecken in der Krise. Ist das unausweichlich in einer politisch fragmentierten Welt. Oder ist das selbstgemacht?
Ich bleibe mal bei der SPD. Schauen Sie sich in Europa um. Da sehe wir den Niedergang von sozialdemokratischen Parteien, dramatisch beispielsweise in Frankreich. Wir sehen aber auch Selbstbehauptung und Wiederaufstieg wie beispielsweise in Dänemark, Portugal, Spanien oder – in Ansätzen – in Polen.

Bei Dänemark sagt Ihr Parteifreund Ralf Stegner: Das kann für uns kein Vorbild für uns sein, weil die dänischen Sozialdemokraten eine restriktivere Migrationspolitik verfolgen.
Ob das als Erklärung ausreicht, das lasse ich mal offen. Aber es ist ja so, dass wir in Deutschland dringend Einwanderung in das Beschäftigungssystem brauchen. Was wir nicht brauchen, ist Einwanderung in das Sozialsystem. Wir brauchen dringend Integration. Was wir nicht brauchen, ist das Wegsehen bei rechtsfreien Räumen und Clanstrukturen, die sich dem Rechtsstaat entziehen oder sich ihm sogar aktiv entgegenstellen. Da muss man sehr klar und konsequent agieren.

Diese Position ist jetzt nicht so die vorherrschende in Ihrer Partei, oder?
Es ist politisch immer besser, von den Realitäten auszugehen. Die SPD hat hervorragende Innenpolitiker, sie müssten mehr Gehör finden. Das gilt übrigens auch für zahlreiche Unternehmer, auch Mittelständler, die zur Sozialdemokratie gehören. Und es gilt auch für hervorragende Kommunalpolitiker – alles Frauen und Männer, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, die Wirklichkeit kennen und verbessern.

Wie stehen Sie zum Vorsitzfindungsprozess?
23 Regionalkonferenzen zur Wahl der neuen Parteispitze – das war für die innerparteiliche Legitimation wohl sinnvoll. Es ist allerdings eben auch ein Binnenprozess, der nicht so große  Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung und das Erscheinungsbild der Partei hat.

Was wäre Ihnen lieber?
Dieselbe Kraft aufzuwenden und mit unseren Kommunalbürgermeistern, Landräten, Vorsitzenden von Kreistags- oder Stadtratsfraktionen über die Realität in den deutschen Kommunen zu reden: Was die Wohnungen angeht, was die Migration angeht, was das Stadt-Land-Gefälle angeht. Dasselbe gilt für Betriebsräte und die Frage: Wie sieht denn eine nachhaltige ökologische Industriepolitik aus, die nicht zu Lasten der Arbeitnehmer geht?

Will sagen: Die SPD hat den Kontakt zu ihrer Klientel und deren Lebenswelten verloren?
Nein, die SPD hat äußerst fahrlässig ihre Fähigkeit geschwächt, glaubwürdig aus dem Alltag heraus und entlang großer Ziele ihre Politik zu entwickeln und zu vertreten. Es geht nicht gut, wenn die Polizeibeamten oder Krankenschwestern nicht in der Stadt wohnen können, weil die Mieten zu hoch sind; es geht nicht gut, wenn der Facharbeiter in der Autoindustrie oder der Energiewirtschaft für sich selbst keinen Ansprechpartner findet in der Politik – oder die SPD sogar manchmal schweigt, wie bei den dramatischen Entwicklungen bei ThyssenKrupp zum Beispiel. Mit diesen Menschen muss die SPD wieder viel mehr reden, nachvollziehbar für sie handeln und sie in Veränderungsprozessen mitnehmen. Das geht nicht mit moralischer Empörung. Unter denen, die derzeit ihre Stimme bei der AfD abgeben, gibt es sehr viele, die man ins demokratische Spektrum zurückholen kann. Das geht aber nicht durch Beschimpfen, sondern nur durch Überzeugung, überzeugendes politisches Handeln.

Sie haben die zweite Runde der SPD-Vorsitzendenwahl angesprochen: Wie groß ist die Gefahr, dass die Wahl zu einer Abstimmung über den Verbleib oder das Ausscheiden aus der Großen Koalition wird?
Das ist so ziemlich das dümmste Kriterium für eine solche Entscheidung. Es geht nur um eines: wer kann die SPD wieder so aufstellen und zusammenhalten, dass die SPD 25 bis 30 Prozent erreicht. Das Potential ist da, der Bedarf auch. Ich gehöre der SPD seit 53 Jahren an. In diesen 53 Jahren hat die SPD 20 Jahre den Kanzler gestellt und in weiteren 13 Jahren den Vizekanzler. Das heißt, der Zustand des Landes ist untrennbar mit sozialdemokratischem Wirken verbunden. Und alles, was wir erreicht haben an Aufstiegschancen, an sozialem Zusammenhalt, an Freiheiten - das alles ist untrennbar mit der Sozialdemokratie verbunden. Wir können also stolz sein auf diese Leistung und auch auf dieses Land. Daher mein erster Rat an meine Partei: Seid stolz auf euch und zeigt das den Leuten auch. Tragt Verantwortung, zeigt Weitsicht und Wirklichkeitssinn.

Wen wählen Sie?
Das Paar, das SPD und Regieren kann.

Die Fragen stellte Christoph Schwennicke. 

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