40. Todestag von Rudi Dutschke - „Der strengste Seitenscheitel seit 1945“

An Heiligabend des Jahres 1979 starb der legendäre Studentenführer Rudi Dutschke an den Folgen eines Attentats. Die deutsche Linke hatte bereits zu seinen Lebzeiten ein Problem mit ihm – weil sie schon damals an Realitätsverlust litt

Rudi Dutschke am 02.10.1979 in der Stadthalle in Bremen / picture alliance
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Autoreninfo

Carsten Prien, Jahrgang 1976, ist freier Publizist und Autor mehrerer Werke über Rudi Dutschke, darunter "Dutschkismus - Rudi Dutschkes politische Theorie" (Ousia Verlag, 2015)
und "Rätepartei" (Ousia Verlag 2019)

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„Im linken Sektierer-Nebel erhalte ich hin und wieder die widersprüchliche bzw. fragwürdige Ehre, ein ,Leninist‘, ‚Trotzkist‘, ,Maoist‘, ,kleiner Stalinist‘, ein ,Sponti‘ und anderes mehr zu sein“, bemerkte Rudi Dutschke einmal amüsiert und zog daraus den Schluss: „Der Name kann Schall und Rauch sein.“ Am besten habe es ihm aber gefallen, ein „Dutschkist“ zu sein“, wird sich seine Witwe später erinnern. Der „Dutschkismus“ hat nämlich die politischen Gewissheiten der deutschen Linken durcheinandergebracht – und er tut es noch heute.

Es ist noch nicht lange her, da stand in der sozialistischen Tageszeitung junge Welt, Dutschke würde „politisch und inhaltlich überschätzt“, er sei ein Studentenführer gewesen, „von dem für die Zukunft nicht viel zu lernen“ sei; ein „protestantischer Heißsporn“, der seinem väterlichen Freund, dem Philsophen Ernst Bloch, „im Urlaub in Dänemark immerhin die Pfeife halten“ durfte. Mehr aber auch nicht. In der konkurrierenden linken Wochenzeitung Jungle World konnte man wiederum lesen: „Rudi Dutschke, ein ehrbarer und aufrechter Mensch – vielleicht. Aber auch einer, der im Maschinengewehr-Rap-Tempo vollendeten Nonsens von sich geben konnte.“

„Rudis Reste-Rampe"

Ungewohnte Einigkeit über den legendären Wortführer der deutschen Studentenbewegung herrschte da also in der notorisch zerstrittenen Linken. Diese Art Schmähungen Dutschkes – bemüht komisch und oft aus dem Nichts kommend – sind Legion.

Nach 1989 tauchten neue Bezeichnungen aus dem linken Sektierer-Nebel auf, wenn von Dutschke die Rede war: „Linksnationalist“ etwa, „Nationalrevolutionär“ und ähnliches. „Dutschke war der ‚Studentenführer‘ mit dem strengsten Seitenscheitel in der deutschen Politik seit 1945“, höhnte beispielsweise das „ideologiekritische“ Halbjahresmagazin Bahamas. Jürgen Elsässer, einst Mentor der sogenannten „antideutschen“ Linken, wollte 1998 unter dem Titel „Rudis Reste-Rampe“ bei Rudi Dutschke eine „autoritäre Metamorphose hin zum Nationalismus“ entdeckt haben. Heute ist Elsässer übrigens selbst Herausgeber des auf rechte Verschwörungstheorien spezialisierten Magazins Compact.

Dutschke, der Christ

Wie viel Projektion liegt in dem, zumeist durch keinerlei Sachkenntnis getrübten, linken Dutschke-Ressentiment? „Ich bin nicht Sozialist geworden, um das Unrecht und die Lüge zu verteidigen“: Die „konkrete historische Wahrheit“ war für Rudi Dutschke „Aufgabe und Grundvoraussetzung des sozialistischen Standpunktes“, das A und O. „Die Wahrheit wird euch frei machen“: Dutschke, der Christ, hatte auch als Marxist unbedingtes Vertrauen in diese biblischen Verheißung.

„Für Dutschke war die christliche Besinnung Baustein des Freiheitsdenkens, das in der Aufklärungsphilosophie, aber genauso im Marxismus, die radikale Fragestellung verloren hatte, weil es ,logisch‘, kategorial, politisch und systematisch eingebunden war in die ,Einsicht‘ und ,Rechtfertigung‘ bestehender Macht. Erst über die christliche Rückbesinnung konnte der Freiheitswille aktualisiert werden.“ So urteilte Dutschkes langjähriger Weggefährte Bernd Rabehl, der erst unlängst im Deutschlandfunk sein eigenes zeitweiliges Gastspiel auf der äußersten Rechten kleinlaut als „Fehleinschätzung“ bedauert hat.

Vom Großstadtleben unangekränkelt

Das bestätigt auch Frank Böckelmann, der Anfang der 1960er Jahre in der „Subversiven Aktion“ auf Dutschke stieß: „Er hatte wenig im Sinn mit unserer Art von Zynismus und unserer Gewohnheit, alles mehr oder weniger spielerisch anzugehen.“ Böckelmann war unangenehm berührt gewesen von der „Atmosphäre der Fremdheit“, die den unironischen Dutschke umgab – aber auch fasziniert. Daher empfahl er dem „frischfröhlichen Marxisten“, wie er Dutschke nannte, der „offenbar von der Ambivalenz und Bewusstseinsperversion eines westlichen Großstadtlebens unangekränkelt“ war, dringend die spätbürgerliche Dekadenz „authentisch zu schmecken“. Die Adorno-Anhänger in der „Subversiven Aktion“ trennten sich schon bald von Rabehl und Dutschke.
 
Die Genossen im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) wollten Rudi Dutschke später sogar zweimal rauswerfen. Das erste Mal, als die Dutschkisten mit einer von der Stadt West-Berlin nicht genehmigten „Plakat-Aktion“, die sich gegen den Krieg der USA in Vietnam richtete, ein Musterbeispiel für ihre neue Taktik gaben. Die Traditionalisten waren aufgestört, die Seminarmarxisten verängstigt.

„Von der Charaktermaske befreien"

Das zweite Mal, als sich die außerparlamentarische Opposition gerade ihrem Zenit genähert hatte, indem sie Aufklärung mit Aktionen verband und sich mit Provokationen Öffentlichkeit verschaffte. Vorwand für den wiederholten Antrag, Dutschke aus dem Verband auszuschließen, war diesmal ein Interview, das dieser der Wirtschaftszeitschrift Capital gegeben hatte. „Wir sind es dem Genossen Dutschke schuldig, ihn von seiner Charaktermaske zu befreien“, stand sarkastisch am Schluss der Glosse „Dutschkismus als Gerücht“, die Bernhard Blanke in der SDS-Zeitschrift neue kritik veröffentlichte. Der Text erschien pikanterweise nur kurze Zeit nachdem der Hilfsarbeiter Josef Bachmann auf Dutschke ein beinahe tödliches Attentat verübt hatte, das zu den Osterunruhen von 1968 führen sollte.

Doch Dutschke genas. Und er machte sich an die theoretische Arbeit. Es war der „Versuch die sozialistischen Tragödien des 20. Jahrhunderts zu bewältigen“. Die Marx‘sche Theorie der  gesellschaftlichen Grundformationen war dabei das Werkzeug seiner Lenin-Kritik. Die „verschiedensten Formen des asiatischen Systems der allgemeinen Staatssklaverei haben mit Sozialismus nichts (!) zu tun“: Das war Dutschkes letztes Wort zum „Realsozialismus“, in dem „alles real ist, nur nicht der Sozialismus“. Dutschke wurde in dieser Zeit von vielen Linken als „Antikommunist“ und „Konterrevolutionär“ verleumdet und verunglimpft.

Dutschke und die „nationale Frage"

„Identität und Geschichte“ durch unbedingte Wahrhaftigkeit „zurückzugewinnen“, führte ihn dazu, auch Fragen nach dem „Geschichts- und Klassenbewusstsein der Deutschen“ zu stellen. Dutschke wollte nicht wie andere mit „einem Bein in der leeren Vergangenheit, mit dem anderen in Moskau oder Peking“ stehen, sondern „auf eigenen Beinen gehen“. Er veröffentlichte Artikel zur „nationalen Frage“; die „sozialistische Wiedervereinigung Deutschlands“ sollte in Mitteleuropa die „Idiotie des Ost-West-Gegensatzes“ und die Hegemonie der Supermächte unterlaufen. Rudi Dutschke wollte mit der „deutschen Kommune“ die sozialen Kräfte des „Prager Frühlings“ und des „Pariser Mai“ vereinen. Der Politologe Arno Klönne antworte auf Dutschkes Standpunkt – stellvertretend für die Mehrheit der Linken – mit einem  Artikel unter dem beredten Titel: „Vorsicht, nationale Sozialisten!“.

Unterwanderung durch K-Gruppen

Dutschke hatte derweil seine neue politische Heimat im undogmatischen „sozialistischen Büro“ gefunden. Doch als er aus dem losen Netzwerk eine neuartige „Rätepartei“ formen wollte, stieß man auch hier das „Kuckucksei“ aus dem Nest.

Rudi Dutschke blieb auch Sozialist, nachdem er 1979 den neu gegründeten Grünen beigetreten war. „Ich bin kein Grüner, kein Bunter, bin aber als Sozialist und Kommunist in der Tradition von Rosa Luxemburg in der jetzigen Situation mehr denn je für Bündnispolitik. Sind die Bürgerinitiativen nicht ein potentieller Schritt über die Basisdemokratie zur Rätedemokratie?“, fragte er. Dass er sich gegen eine Unterwanderung der neuen grünen „Bewegungs-Partei“ durch die Bankrotteure der K-Gruppen wehrte (man denke etwa an Jürgen Trittin oder Antje Vollmer), wurde ihm erneut als „Antikommunismus“ angekreidet. Er, der keine Berührungsängste kannte und unbeirrt auf die Möglichkeit von „Lernprozessen“ setzte, sprach selbstverständlich auch mit den Konservativen in der Umweltbewegung. Doch dadurch verfiel er unweigerlich der „Kontaktschuld“, die ihm viele Linke bis heute ankreiden.

„Der Genscher der Grünen"

Der Zynismus jener, die Dutschke damals an der Unterwanderung der Grünen hindern wollte, sollte schließlich aus der Bewegungspartei eine neoliberale und aus der Friedenspartei eine Kriegspartei werden lassen – letzteres mit der ungeheuerlichen Begründung, ein „neues Auschwitz“ zu verhindern. Dennoch spintisierte die Jungle World anlässlich seines 77. Geburtstages von Dutschke als einem „Genscher der Grünen“.

Nach der Wende klammerte sich die deutsche Linke an so manche Lebenslüge. Entweder stand sie wackelig nur noch auf einem Bein, auf dem „in der leeren Vergangenheit“ nämlich. Oder sie wechselte behänd ihr Spielbein nach Washington. Diese erstaunliche Identifikation von Teilen der deutschen Linken mit dem „Westen“, also dem vorläufigen Sieger der Geschichte, nahm den Umweg über einen vansittartistisch gewendenten „Antifaschismus“. Man identifizierte sich nicht länger mit der Roten Armee, auch nicht mit dem kommunistischen Widerstand und den Partisanen; man identifizierte sich „statt mit den Häftlingen von Buchenwald mit Bomber-Harris“, wie innerlinke Kritiker diese Entwicklung bitter kommentierten. 

Dutschke sah im Nazi-Faschismus (genauso wie sein Lehrer Georg Lukács) die „Peripetie der deutschen Geschichte“, den dramatischen Moment der Entscheidung, doch keinesfalls ihr endgültiges Zu-Sich-Selbst-Gekommen-Sein. Schon 2002 erkannte der Kulturwissenschaftler Rüdiger Hentschel darin die Bedeutung für die Linke: „Dutschkes ,unvollendete deutsche Befreiungsgeschichte‘ ist der Gegensatz zu ,Nie wieder Deutschland‘“.

Aufforderung zum „aufrechten Gang"

Dutschke hat über das „Bild der Gaskammern“, über den „Gulag“, über die „Opfer von Dresden“, über „My Lai“ und über vieles mehr gesprochen. Niemals aber, um das eine durch das andere zu relativieren oder um auch nur ein Greuel zu rechtfertigen. Dutschke war nur der Wahrheit selbst verpflichtet. Seine Aufforderung, „die Lügen und Halbwahrheiten der Konterrevolution zu überlassen und in der konkreten Wahrheit die politische Möglichkeit zu sehen, die breiteste Unterstützung und Absicherung der Massen zu erhalten“, mithin die Aufforderung zum „aufrechten Gang“, ergeht auch heute an eine deutschen Linke, die immer noch nicht gelernt hat „auf eigenen Beinen zu gehen“. Und die ihren Unwillen dazu mit zunehmendem Realitätsverlust bezahlt. Offenbar besteht genau darin das Problem der deutschen Linken mit Rudi Dutschke.

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