Rot-Rot-Grün in Berlin - Alles Stasi, oder was?

Im Zuge der ersten Sitzung des neuen Senats dreht sich in Berlin alles um Andrej Holm, Staatssekretär mit Stasi-Vergangenheit. Stattdessen sollten endlich die wahren Probleme der Stadt angepackt werden. Davon gibt es genug

In Berlin machen explodierende Mieten auch Rentnerinnen zu Hausbesetzern / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Am 18. September wurde in Berlin ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Ein halbes Jahr lang stand die Landespolitik still. Erst war monatelang Wahlkampf, dann wurde fast drei Monate über die Bildung einer rot-rot-grünen Koalition verhandelt. An diesem Dienstag kurz vor Weihnachten tritt nun der neue Senat zu seiner ersten Sitzung zusammen. Endlich, so möchte man meinen, wird die Stadt wieder regiert. Endlich werden die Probleme der Stadt angepackt. Und davon gibt es reichlich.

Umstrittener Staatssekretär: Andrej Holm / picture alliance

Doch stattdessen musste sich der Senat in seiner ersten Sitzung mit der Personalie Andrej Holm beschäftigen. Der ist Stadtsoziologe, arbeitete an der Humboldt-Universität und wird nun Staatssekretär für Wohnen. Doch Holm hat eine Stasivergangenheit. Er ist in der DDR in einer Stasi-Familie aufgewaschen. Als 14-Jähriger hatte er sich zu einer Karriere als Stasioffizier verpflichtet und noch im September 1989, als der DDR schon die letzten Stunden schlugen, seine militärische Ausbildung beim Stasi-Wachregiment Feliks Dzierzynski angetreten. So wurde er in Wendetagen für wenige Monate ein kleines Rädchen im Stalinismus, der allerdings längst dabei war, sich selber abzuschaffen und vor dem viele DDR-Bürger keine Angst mehr hatten.

Holzschnittartige Debatte

Jetzt ist die Aufregung groß und die Schlagzeilen sind es auch. Eine Berliner Boulevardzeitung veröffentlichte Holms gesamte Stasiakte. Aber die Debatte wird derart holzschnittartig geführt, als habe es in den vergangenen 25 Jahren nie eine differenzierte Auseinandersetzung mit der DDR und ihrem stalinistischen Erbe gegeben. Als sei nie die Frage erörtert worden, ob Kinder und Jugendliche, die von der Stasi angeworben wurden, eher Opfer denn Täter waren. Als wäre es nie darum gegangen, auch Täterbiografien differenziert zu betrachten. Und als sei nie über die Frage gerungen worden, ob Menschen, die in der Diktatur Fehler gemacht, sich in den Unterdrückungsapparat verstrickt oder gar stalinistische Verbrechen begangen haben, in einer freien, demokratischen Gesellschaft nicht eine zweite Chance verdient hätten.

Man wird nicht umhinkommen, in Holm eher ein Opfer zu sehen als einen Täter, zumal er seine Stasi-Tätigkeit bereits vor Jahren öffentlich gemacht und den Untergang der DDR begrüßt hatte. Aber ihm habe im Alter von 18 Jahren der Mut gefehlt, seine Jahre zuvor gegebene Verpflichtung zurückzuziehen.

Die Linke freut sich

Die Linke reibt sich derweil die Hände, zumindest in Ostberlin treibt die Debatte ihr wieder Wähler in die Arme. Vor allem jene Wähler, die sich zuletzt von der ostdeutschen Kümmerer-Partei abgewandt und der rechtspopulistischen Protestpartei AfD zugewandt hatten. Fast möchte man meinen, es habe sich bei der Personalie Holm um eine wohlkalkulierte, gezielte Provokation gehandelt. Schon bei der Bundestagswahl im September 2017 könnte sich diese auszahlen.

Die Frage, die man in der Causa Holm also stellen könnte, lautet: Ist Andrej Holm der Richtige, um die Wohnungsnot in Berlin zu lindern und den dramatischen Anstieg der Mieten zu stoppen? Niemand in Berlin wird bestreiten, dass dies eine der großen politischen Herausforderungen ist, vor denen Berlin und damit der rot-rot-grüne Senat steht.

Es geht um den sozialen Zusammenhalt der Stadt

Auf dem Spiel steht nicht mehr und nicht weniger als der soziale Zusammenhalt in einer Stadt, in die jedes Jahr mehr als 50.000 Menschen ziehen und die große Integrationsprobleme hat. Zweifel sind angebracht. Denn bislang hat sich Holm lediglich als Mietenexperte in einem akademischen Umfeld einen Namen gemacht. Ein Bauexperte ist er nicht, Verwaltungs­erfahrung hat er keine. Aber es ist in der Demokratie das Recht jeder Partei, das Personal zu bestimmen, das sie in einer Regierung repräsentiert, und jeder Staatssekretär sollte die Möglichkeit bekommen, Vorbehalte und Zweifel auszuräumen.

Spannender als die Diskussion über die Personalie Holm wäre also eine Diskussion über die rot-rot-grüne Mieten- und Wohnungsbaupolitik. Kann die Koaltion dafür sorgen, dass in Berlin wieder mehr Wohnungen gebaut werden? Sind subventionierte und nach Einkommen gestaffelte Sozialmieten, auf die sich die drei Parteien im Koalitionsvertrag verständigt haben, eine Antwort auf explodierende Mieten? Reicht es, wenn die kommunalen Wohnungsbauunternehmen jährlich 6.000 neue Wohnungen bauen?

Rot-Rot-Grün erhält den Status quo

Eines lässt der Koalitionsvertrag klar erkennen: Rot-Rot-Grün neigt eher dazu, den Status quo auf dem Berliner Wohnungsmarkt zu erhalten, weil sich die Berliner mit Veränderungen schwer tun. Der neue Senat droht damit die Chancen zu verpassen, die sich für eine Stadt eröffnen, die wächst und deren Wirtschaft boomt. Die Versprechen „Dämpfung der Mietpreisentwicklung“ und „bezahlbare Mieten für alle“ werden sich so kaum erreichen lassen.

Aber eine solche Debatte erfordert natürlich das eine oder andere differenzierte Argument und sie würde das Augenmerk auch auf die Versäumnisse richten, die die CDU als Regierungspartei in den vergangenen fünf Jahren in der Großen Koalition zu verantworten hat. Da fällt es leichter, sich über die Stasiverstrickung eines Jugendlichen zu entrüsten, die mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt.

Aber selbst bei der zweiten Empörungswelle, die Andrej Holm ausgelöst hat, sollte man in Berlin vorsichtig sein. Es mag sein, dass Holm ein gestörtes Verhältnis zum Eigentum hat, wenn er Hausbesetzungen verteidigt, sie einen „Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage“ nennt und von einer „faktischen Enteignung privaten Immobilienbesitzes“ spricht. Es mag sein, dass Holm mit Linksradikalen und Autonomen sympathisiert. Aber zugleich sollten sich seine Kritiker daran erinnern, dass es ohne die Westberliner Hausbesetzer und die Ostberliner Wohnungsbesetzer der achtziger Jahre all die schönen Altbauten in Kreuzberg, Schöneberg oder Prenzlauer Berg nicht gäbe, in die inzwischen Ärzte, Architekten und Rechtsanwälte eingezogen sind. Die Westberliner Baumafia wollte diese genauso abreißen wie die realsozialistischen Stadtplaner in Ostberlin.

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