Rohstoffknappheit in der Wirtschaft - „Die Lage ist kritisch“

Ob Holz, Stahl oder Kunststoff: Viele Rohstoffe werden immer knapper. Das gefährdet den reibungslosen Ablauf in Wirtschaft und Industrie. Im Gespräch erklärt der Logistik-Experte Gerd Kerkhoff die Ursachen für den Mangel – und sagt, was dagegen getan werden muss.

Zwei LKW transportieren Holz, das durch den Rohstoffmangel zum wertvollen Gut wurde / dpa
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Alissa Kim Neu studiert Kulturwissenschaften und Romanistik in Leipzig. Derzeit hospitiert sie bei Cicero.

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Gerd Kerkhoff, Gründer der Kerkhoff-Group, ist Unternehmensberater und einer der führenden Spezialisten in Sachen Logistik und Beschaffung. Zudem ist er Autor mehrerer Fachbücher zum Thema Einkauf.

Herr Kerkhoff, weltweit kommt es derzeit zu Rohstoffengpässen. Wie ist die Lage der deutschen Wirtschaft?

Die Lage ist aktuell sehr kritisch. Laut Münchner ifo-Institut sind 45 Prozent der Industrieunternehmen betroffen, der mit Abstand höchste Wert seit 1991. Das sind aber sicher auch nur die Unternehmen, bei denen der Engpass eine erhebliche Tragweite hat. Zu spüren bekommt es aktuell jede Branche, vom Konzern bis zum Handwerker um die Ecke, der aktuell sein Material nicht bekommt und trotz voller Auftragsbücher seine Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken muss.

Warum kommt es zu den Lieferengpässen?

Es ist eine komplexe Verkettung von Wechselwirkungen, die zueinanderstehen – national, international und geopolitisch.

Inwiefern spielt Corona da eine Rolle?

Die Corona-Pandemie hat zweifelsohne einen großen Anteil und war Auslöser sowie Beschleuniger der jetzt dramatisch auftretenden Entwicklung. Die Pandemie hat erst Auftragseinbrüche und reduzierte Produktionskapazitäten in zahlreichen Branchen mit sich gebracht und trifft nun auf eine erhöhte internationale Nachfrage. Die wird länderspezifisch auch noch durch diverse Konjunkturprogramme gefördert. Fehlende Frachtkapazitäten und der dadurch massive Anstieg der Transportkosten ist ein weiterer Effekt, der die aktuelle Lage verschlimmert. Inzwischen handelt es sich aber um eine Vielschichtigkeit von Einflussfaktoren, die beispiellos ist, wenn man Kriege außer Acht lässt.

Welche Produkte oder Branchen sind besonders betroffen?

Besonders zu erwähnen sind Bedarfe wie Halbleiter, Stahl, Metalle, Holz, Kunststoffe, Harze, Farben, Lacke und deren zahlreiche Ausprägungsformen und daraus entstehende Vorprodukte. Denkt man an die Wertschöpfungsstufen und komplexe Lieferketten, kann sich fast kein Unternehmen aus der produzierenden Industrie dieser Entwicklung entziehen. Alle haben das Problem in ihrer Lieferkette – nur eben unterschiedlich ausgeprägt, da es auf die Detailspezifikationen mit Anteilen und Qualitäten ankommt, die für die jeweiligen Fertigungsverfahren und Produkte benötigt werden.

Gerd Kerkhoff / privat

Wie akut ist die Gefahr von Produktionsstopps in der deutschen Industrie?

Die Automobilbranche musste aufgrund des Mangels an Halbleitern bereits ihre Produktion drosseln. Es zeigt sich somit, dass wir bei einer weiteren Verknappung auch partiell mit Produktionsstopps rechnen müssen.

Behindert der Mangel die wirtschaftliche Erholung Deutschlands?

Solange sich die Unternehmen im Krisenmodus befinden, behindert dieser Status die wirtschaftliche Erholung. Solche rasch und überall auftretenden Störungen im internationalen Handel in komplexesten Lieferketten brauchen viel Zeit, bis sie sich wieder auf ein vermutlich verändertes „Normalniveau“ einpendeln im Sinne des Prozesses wie auch der Preise.

Sind auch lebensnotwendige Güter, Lebensmittel oder medizinische Produkte vom Rohstoffmagel betroffen und könnten in Zukunft knapp werden?

Auf den ersten Blick scheint im Bereich der Lebensmittel kein akuter Versorgungsengpass zu drohen. Wenn man sich aber die Lieferkette im Detail anschaut und somit die Relevanz von Holzpaletten, einhergehend mit der akut auftretenden Knappheit des Rohstoffes Holz, wird dies auch die Beschaffung von Lebensmitteln betreffen. Parallel herrscht ebenfalls Knappheit im Bereich der Kunststoffe und somit erforderlicher Verpackungen. Dies betrifft ebenfalls die medizinischen Produkte.

Hat der Mangel etwas mit der großen Impfstoffproduktion weltweit zu tun?

Bei der Impfstoffproduktion sind es nach Aussagen der Hersteller zahlreiche Ursachen: Der Mangel an Vorprodukten, etwa Lipide oder sterile Plastikhüllen, fehlendes Fachpersonal, fehlende Ersatzteile für Produktionsanlagen sowie der erforderliche Aufbau von neuen Produktionsanlagen, der aufgrund der Komplexität ein bis zwei Jahre benötigen kann. Um schneller produzieren zu können, gehen die Pharmaunternehmen aktuell auch ungewöhnlich viele Kooperationen ein, um bereits bestehende Produktionsanlagen entsprechend umzubauen.

Inwiefern spielt Chinas Rohstoffreichtum eine Rolle? Werden Rohstofflieferungen auch manchmal als eine Art politisches Druckmittel genutzt?

Sicherlich ist China nach wie vor einer der größten Risikofaktoren bei der Versorgung mit Rohstoffen. China und die USA erholen sich aktuell am schnellsten von der Corona-Rezession. Das Reich der Mitte hat somit eine hohe eigene Nachfrage der Rohstoffe, was auch einer der Gründe der weltweiten Verknappung ist. Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass durch Vorgaben aus Peking die eigene Produktion durch Senkung weiterer Exporte sichergestellt wird. Zumal immer mehr höherwertige Produkte in China hergestellt werden sollen.

Wie kann Rohstoffmangel langfristig verhindert werden? Muss Europa wieder unabhängiger werden und zum Beispiel selbst natürliche Rohstoffe wie Holz oder Mineralien anbauen beziehungsweise schürfen?

Laut der Deutschen Rohstoffagentur (DERA) kommen 17 der 27 Rohstoffe, die von der EU als „kritisch“ eingestuft werden, vorrangig aus China. Es zeigt sich somit, dass eine kurzfristige Lösung des europaweiten Anbaus so leicht nicht realisierbar ist. Zwei Drittel der ärmeren Bevölkerung leben heute in den rohstoffreichsten Ländern. Das klingt widersprüchlich und vergegenwärtigt die Aufgabe der internationalen Wirtschaft und Politik. Nach Regimekonflikten stellen ressourcenbedingte Konflikte bereits heute die größte Gefahr dar. Der schonende Umgang mit natürlichen Ressourcen wird für Frieden und nachhaltige Entwicklung immer bedeutsamer. Schonung entsteht durch Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit. Das wiederum bedeutet erhebliche Investitionen in Forschung und Innovation sowie größtmögliche politische Stabilität.

Wie könnte der Mangel die Verbraucher ganz konkret treffen?

Konkret bedeutet der Rohstoffmangel für die Verbraucher zunächst einmal deutliche Mehrkosten und längere Lieferzeiten. Die Handwerkskammern, Kreishandwerkerschaften und Fachverbände werben jetzt bundesweit über die lokalen und überregionalen Medien um Verständnis bei der Kundschaft für die außergewöhnliche Situation. Von der Autobestellung über den Hausbau, Instandhaltungsleistungen bis zu Elektronik-Produkten: Die „just-in-time Beschaffung“ geht nicht mehr auf.

Würden Sie dazu raten, derzeit auf bestimmte Produkte lieber nicht zu setzen oder diese vorrätig zu kaufen?

Lieferketten bleiben gefährdet. Schon jetzt ist absehbar, dass die aktuelle Situation für viele Unternehmen nicht folgenlos bleiben wird. In Deutschland profitieren viele Betriebe noch von den staatlichen Hilfsmaßnahmen. Dies wirkt zwar stabilisierend, erhöht aber gleichzeitig die Schuldensituation. Nicht in allen Ländern gibt es ähnliche Maßnahmen. Für das einzelne Unternehmen gewinnt die Resilienz massiv an Bedeutung. Es gilt, die operative Exzellenz zu wahren. Ein funktionierendes Risiko- und Eskalationsmanagement sowie eine schlagkräftige Digitalisierungsstrategie verhelfen zu einer fundierten Reaktionsfähigkeit.

Das heißt konkret?

Es gilt, auf Kooperation anstatt auf Konfrontation zu setzen. Die aktuellen Herausforderungen in Einkauf und Beschaffung lassen sich nicht im Alleingang lösen, sondern allein durch partnerschaftliche Beziehungen zwischen Auftraggeber und Lieferanten. Man muss einen Konsens im „Beschaffungs-Ökosystem“ finden. Eine elementare Rolle dabei spielt die Digitalisierung. Ich bin davon überzeugt, dass nur durch eine intelligente Nutzung die nötige Transparenz und Reaktionsfähigkeit innerhalb der Lieferkette bzw. des Liefernetzwerks umgesetzt werden kann. Unternehmen müssen frühzeitiger auf sich abzeichnende Probleme reagieren können, noch bevor es zu ernsthaften Auswirkungen kommt. Besonders sensibel, weil erfolgsentscheidend, ist dabei die Datenqualität und die anzustrebende Interaktion in Echtzeit.

Wie lange wird sich die Rohstoffknappheit noch hinziehen?

Das Jahr 2020 und das laufende Jahr zeigen, dass niemand die Zukunft und vor allem die ineinander wirkenden Einflussfaktoren in der Gesamtheit konkret vorhersehen kann. Die Auswirkungen werden meiner Meinung aber noch Jahre anhalten, und aus diesem Grund ist es so wichtig, dass sich die Unternehmen schnellstmöglich darauf einstellen.

Die Fragen stellte Alissa Kim Neu

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