Die Rezo-Debatte - Wir brauchen Sand im Getriebe des Fortschritts

Was kann man als Erwachsener von 14-Jährigen über Rezo, Annegret Kramp-Karrenbauer und das Internet lernen? Unser Autor geriet darüber zufällig mit einem „digital native“ in Streit. Der öffnete ihm die Augen für die Ursachen eines Generationskonflikts

Wir brauchen auch im Internet Regeln – selbst wenn sie gegen heftige Kritik durchgesetzt werden müssen / picture alliance
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Autoreninfo

Prof. Dr. Rainer Lisowski ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler. Er lehrt an der School of International Business der Hochschule Bremen.

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Beim Grillen mit Freunden wuchs die sowieso schon vorhandene Irritation. Der 14-jährige Sohn der Familie begann ein Gespräch über Politik mit mir, aus dem bald ein heftiger – aber freundschaftlicher – Streit wurde. Es ging um den frechen Rezo und seine kleine Cousine Greta, die ratlose CDU und ihre Annegret, das junge Netz und die schlaffen Volksparteien im Nachgang zum Erdbeben der Europawahl.

Als „digital immigrant“ beobachtete ich schon während der Tage zuvor die von den „digital natives“ angestoßene Debatte um das Rezo-Video mit Erstaunen und hielt einen Großteil der Diskussion für hysterisch. Stündlich erwartete ich das Ende der Debatte, aber sie flackerte irgendwie stets wieder auf. So stieß ich also an der nachbarschaftlichen Bierzeltgarnitur sitzend auf jemanden, der mich und meine Positionen abermals herausforderte und zum Nachdenken brachte. Was hatte sich bloß verändert, dass ich die Welt nicht mehr zu verstehen schien?

Nur ein Kommunikationsproblem?

„Es gelingt uns Parteien nicht mehr, unsere Inhalte packend zu kommunizieren“ lautete die Analyse eines Landesministers, den ich ein paar Wochen zuvor im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Rolle von Parteien interviewt hatte. Also alles nur ein Kommunikationsproblem? Das wäre ja in weiten Teilen eher trivial. Kommunikation ist immer defizitär, und wenn es nur das ist, dann baute man am besten, wie von dem Chef der Jungen Union, Tilman Kuban vorgeschlagen, eine schnelle social media Eingreiftruppe bei den Parteien auf, und alles wäre gut oder würde zumindest wieder besser.

Oder war es, wie in vielen Feuilletons zu lesen, einfach der „grüne Zeitgeist“, der um sich waberte und nicht mehr zurück in die Flasche wollte? Es gehört ja sehr oft zur Ironie der Geschichte politischer Sozialisation, dass die Träger neuer politischer Vorstellungen (Joschka Fischer, Jürgen Trittin) ihrerseits schon wieder von der Bildfläche abgetreten sind, wenn sich ihre Ideen en masse richtig Bahn gebrochen haben.

Das Bild scheint am Ende aber noch komplexer. Für den Moment glaube ich, dass es eine Mischung von drei verschiedenen Strömungen ist, die in der Rezo-Debatte exemplarisch sichtbar wurden und die das Gefüge der (alten) westdeutschen Politiksozialisation endgültig verschoben haben.

Strömung eins: Mein Recht als Kunde!

Wir haben uns als Gesellschaft an den Spruch von Zalando gewöhnt: Schrei vor Glück, oder schick’s zurück. Der engagierte Bürger ist nicht mehr in genügender Zahl vertreten. An seine Stelle ist ein Bürger getreten, der von Staat und Politik reibungslos organisierte Leistungen, smoothes Management und aufmerksame Customer-Relations-Services erwartet. Noch leben die Parteien vom (zunehmenden) Engagement einer immer kleiner werdenden Zahl ehrenamtlich Engagierter. So arbeitete es der Kollege Antonius Liedhegener aus den Daten des Freiwilligensurveys heraus. Aber das System von Parteien als „rationalisierter Erscheinungsform plebiszitärer Demokratie“ (Leibholz) ist bereits stark erodiert.

Die meisten jüngeren Menschen haben scheinbar keine klare Vorstellungen davon, wie schwierig es ist, gesellschaftliche Kompromisse zu schmieden. Die Familien sind heute klein, die Menschen sind im Fitnessstudio, nicht mehr im Sportverein, die Kirchengemeinden sind überaltert, Nachbarschaften sind allenfalls Thema des auf Nachbarschaftsstreit spezialisierten Rechtsanwaltes. Das Smartphone ist der Inbegriff der Individualisierung: Passt mir etwas nicht, klicke ich es weg, schalte es ab oder schicke es zurück. Kompromiss, Balance, austarieren – das, was Politik eben ausmacht und hochgradig unspannend ist, wird nirgends mehr erlernt. Die Parteien lässt der junge Bürger im Regen stehen und das in einem Moment, in dem es sowieso den großen Parteien immer schwerer fällt, eine sich weiter ausdifferenzierende Gesellschaft irgendwie zu integrieren.

Individualität und Volksparteien

Von eher unerwarteter Seite schlug kürzlich der sozialdemokratisch geprägte Oxford-Kollege Paul Collier in genau diese Kerbe. Gerade der Sozialdemokratie warf er vor, einen rawlsianschen Utilitarismus zu verfolgen und nur noch zwei Rezepte zu kennen: Transferleistungen und Ausweitung von Individualrechten. Beides züchtet aber Konsumenten heran, keine Bürger. Und Wohlstand verändert Gesellschaften. Früher, so schreibt Francis Fukuyama in seinem aktuellen Buch „Identity“, sei die Frage, wer wir sind, automatisch beantwortet worden: Teil einer Großfamilie, Teil eines Dorfes, Teil einer Kirchengemeinde, Teil eines Vereins etc. Durch Bildungsexpansion, steigenden Wohlstand und paternalistische Sozialpolitik habe der Einzelne heute viel mehr Freiheiten, sich selbst zu definieren. Er muss sich um seine materielle Absicherung nicht mehr so sehr kümmern – sofern er Teil der sonnigen Höhen der Wissensgesellschaft ist.

Wurden früher die Menschen in bestimmten Milieus gebunden, zerfasern diese immer mehr. Früher konnten Volksparteien wie die CDU den jungen Kellner im Gastronomiegewerbe ebenso binden wie die emeritierte Professorin, zum Teil dank thematischer Klammern wie dem Antikommunismus und dem Katholizismus. Diese Integrationskraft schwächt sich überall in Westeuropa weiter ab. Ein Prozess, der seit vielen Jahren schon wirkt. Franz Walter hat schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass die CDU auf Bundesebene ohne schwesterliche Hilfe aus Bayern nicht mehr über die 30-Prozent-Marke springen kann. Individualität und Volksparteien – das scheint nicht zusammen zu passen. Der mäkelnde Kunde will es „100 Prozent pur“ – genau das sind Volksparteien aber eben nicht. Also wird politisch woanders geshoppt – bei kleinen, teilweise obskuren Parteien.

Strömung zwei: Kindern auf Augenhöhe begegnen!

„Misstraut den Mächtigen“ war eine Grundstimmung während der Umwelt- und Verteidigungsdebatten unter den frühen Regierungen von Helmut Kohl. Gemeinsam mit dieser hat sich nach einer Generation eine aus den neuen sozialen Bewegungen der 1980er Jahre stammende Weltsicht durchgesetzt, nach der Minderheiten per se Recht haben, weil böse Mehrheiten sie drangsalieren. Schon von daher fielen dem jugendlichen David namens Rezo Sympathien zu, die Goliath AKK nicht für sich reklamieren konnte.

Die vergleichsweise wenigen Jungen, die dieses Land mit immerhin dem zweithöchsten Durchschnittsalter auf der Welt hat, stehen dann nochmals unter besonderem Schutz. Und unter einer völlig anderen Erziehung als vor dreißig Jahren. Einzigartigkeit, Besonderheit, mehr lobende als kritisierende Erziehung – sie wirkt sich in der aktuellen Debatte aus. An keiner Stelle war mein jugendlicher Gesprächspartner so erbost wie in dem Moment, da er konstatierte, „die Alten“ hätten keine Zukunft (dabei plane ich noch einige Dekaden zu leben), würden sie aber „den Jungen“ wegnehmen (als hätte ich nichts Besseres zu tun). Tatkräftige Schützenhilfe kam von der Mutter: „Ernst nehmen und auf Augenhöhe begegnen“ war das Mantra, und genau das habe die CDU nicht vermocht. Alle Einwände verpufften: Auch berechtigte Forderungen junger Menschen müssen ausbalanciert werden.

Es gibt gute Gründe, warum Jugendliche eben nicht auf Augenhöhe stehen, was ja an ihrer mangelnden Geschäftsfähigkeit auch rechtlich sichtbar wird. Vieles von der Kritik der Jugendlichen ist tendenziell heuchlerisch (mit dem Starbucks-Becher und Subway-Sandwich auf die Fridays for Future-Demo – selbst so in Bremen gesehen, und es waren keine Einzelerscheinungen). Alles prallte am Argument „das Kind hat ein Recht auf Augenhöhe“ ab. Der Historiker Andreas Rödder beschrieb kürzlich in seiner Geschichte des 21. Jahrhunderts die politische Kernagenda unserer Tage als „Politik der Inklusion“. Bei einer stark inklusiven Grundstimmung ist die Forderung nach Augenhöhe für Kinder und Jugendliche in starkem Fahrwasser.

Strömung drei: Ja doch – es ist Neuland!

So genannte Netzaktivisten wie Markus Beckedahl und andere mögen sich gerne darüber lustig machen. Aber für einen großen Teil der Gesellschaft (ich zähle mich dazu) – und ich bin mir sicher, es ist der überwiegende – ist das Netz weiterhin Neuland. Ganz viele Dinge sind auf alltäglicher Basis nicht geregelt: Wie gehen wir als Gesellschaft mit den großen Plattform-Unternehmen um, die ihre Renten über Quasi-Monopole erwirtschaften? Wie verhindern wir Exzesse wie den in Christchurch?

Wie gehen wir mit so genannten Influencern wie Rezo um, die viele fälschlich für engagierte Jugendliche halten, ohne die wirtschaftlichen Strukturen dahinter – in Form von Agenturen und Sponsoren – zu sehen, denen es nicht um Engagement, sondern wirtschaftliche Interessen und die eigene politische Agenda geht? Üblich sind Rezos Ausflüge in politische Bereiche ja eben nicht. Umso mehr dürften die Sektkorken bei ihm knallen, hat er es durch geschickte und gezielte Kalkulation zu einer neuen Supermarke geschafft.

Selbst das „darknet“ wird verteidigt

Solange besagte „Aktivisten“ sich der vertieften Diskussion darüber entziehen, wie es uns gelingen kann, soziale Medien in eine ausgewogenen Balance zwischen kollektiven gesellschaftlichen Interessen und die Freiheit des Einzelnen zu zwingen, solange skurriler Weise selbst das „darknet“ mit hanebüchenen Argumenten (Schutz von Dissidenten) verteidigt wird – so lange wird das alles auch Neuland bleiben.

Oder könnte der Staat stärker regulieren, ohne die Gesellschaft dabei mitzunehmen? Das Problem an der Sache ist das psychologische Element: Menschen reagieren stärker verärgert, wenn sie das Gefühl verspüren, es würde ihren etwas weggenommen, als wenn sie etwas nie gehabt haben. Konservative Politik muss sich einen Vorwurf gefallen lassen: Hier wurde nicht frühzeitig genug Sand ins Getriebe des Fortschritts gestreut. Jeder Versuch, nun nachträglich das Netz zu „beordnen“, muss wie Zensur wirken. Was keineswegs heißen darf, dass es nicht mit aller Kraft versucht werden sollte.

Jeder einzelne der beschriebenen Ströme ist nur ein Fluss – zusammen ergaben sie an dem Scheitelpunkt der Rezo-Debatte ein großes Delta, das vieles fortspülte.

Bald wird sich wieder alles um den Osten drehen

Apropos Flüssigkeiten. Zu guter Letzt sollte nun aber auch noch etwas Wasser in den Wein gegossen werden. Die Diskussion um Rezo und Greta ist auch deshalb besonders stark ausgefallen, weil sie in direktem Umfeld der Europawahl stattfand, bei dem die Grünen nach ihren Siegen in Baden-Württemberg zum zweiten Mal den Anspruch darauf untermauert haben, neue Volkspartei zu werden. Dies wird aber wie so vieles in der Geschichte kein linearer Aufstieg, sondern eher ein Auf und Ab werden. Im Herbst stehen Landtagswahlen im Osten an, und es ist damit zu rechnen, dass die AfD (eine) Gewinnerin werden wird. Spätestens dann wird die öffentliche Diskussion sich wieder in eine andere Richtung drehen, und die Frage wird nicht mehr sein „Wie verlieren wir die Jungen nicht?“, sondern „Wie gewinnen wir den Osten zurück?“.

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