Rechtsstaat in der Krise - „So erodiert ein Gemeinwesen“

CDU, CSU und SPD haben sich in den Sondierungsverhandlungen auf ein gemeinsames Papier geeinigt. Darin ist unter anderem von einem „Pakt für den Rechtsstaat“ die Rede. Dass die Justiz seit langem vor dem Kollaps steht, beschrieb Birk Meinhardt schon in der Titelgeschichte der Dezember-Ausgabe des Cicero

Erschienen in Ausgabe
Die Justitia auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt: Die Sonne scheint schon lange nicht mehr auf sie / picture alliance
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Autoreninfo

Birk Meinhardt ist Journalist und Schriftsteller sowie zweifacher Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises.

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Im Verwaltungsgericht an der Kirchstraße in Berlin-Moabit kann jeder Besucher an jedem Wochentag Asylprozesse beobachten, im Foyer sind alle Termine auf großen elektronischen Tafeln gelistet. Wohin zuerst?

Dem Zufallsprinzip folgend zum Kläger Ali A. und zur Richterin Dr. Pape. Ali A. ist ein schlanker junger Mann aus der irakischen Stadt Zakho. 2016 hatte er einen Asylantrag gestellt, der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt worden war. Dagegen klagt er nun. Dreimal, so führt er an, sei er Repressionen wegen seiner Mitgliedschaft in der kurdischen Gorran-Partei ausgesetzt gewesen. Die Richterin fragt nach dem ersten Mal: Ich habe mit Freunden im Café gesessen, sagt Ali. Leute sind gekommen und haben mich mit zur Sicherheitskräftestation genommen. Dort haben sie mich gescholten, warum ich in dieser Partei bin, und haben mich geohrfeigt. Er zeigt jetzt einen Wahlbeobachter-Ausweis vor.

Gesprengte Kapazitäten

Die Richterin fragt, was er außer dieser Beobachtung für die Partei getan habe. Ich, lautet die Antwort, bin dort gewesen, in ihren Räumen, und habe Tee getrunken. In der Folge bringt er andere und, wie sich herausstellt, ähnlich gelagerte Zwischenfälle zur Sprache. Die Richterin erklärt ihm, für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft müsse eine politische Verfolgung gegeben sein, nicht einfach nur eine Parteimitgliedschaft. Außerdem verweist sie darauf, dass er bei seiner Anhörung von bloß einem Vorfall berichtet habe, und zwar sei er bei einer Ausweiskontrolle geschlagen worden, wieso dieser Widerspruch? – Ich hatte Angst vor dem Dolmetscher, wegen meiner Familie. Er hat mich auch nicht richtig verstanden. Ich habe gesagt, herzukommen hat mich 7000 Dollar gekostet, und er hat übersetzt, 70, ich musste ihn auf Deutsch korrigieren. – Aber Sie sprechen kein Deutsch. – Wir haben auf Kurdisch geredet. – Die Anhörung war auf Arabisch. – Auf Kurdisch haben wir geredet. – Stimmt nicht, sie war auf Arabisch.

Und so weiter und so fort. Da ist bei vielen der illegal ins Land Geströmten der sehnliche Wunsch nach einem besseren Leben, und da ist der schnelle Zuwachs an Wissen, wie man dem näherkommt, nämlich mit einem Verweis auf politische, religiöse, sexuelle Verfolgung. Ein erfahrener Richter sagt dazu: „Wenn in der Rechtsprechung eine Tendenz erkennbar ist, nach der syrische Wehrdienstverweigerer als politisch Verfolgte eingestuft werden, haben auf einmal viele vergessen, in der Anhörung des Bundesamts vorzutragen, sie seien solche Verweigerer, und bessern bei uns nach.“ Und das dürfen sie natürlich. Das garantiert ihnen der Rechtsstaat. Er muss die wahren Geschichten von den kunstvoll oder tölpelhaft konstruierten unterscheiden, und das überfordert ihn. Sprengt seine Kapazitäten.

Am 31. Oktober gab es allein in Berlin 13 443 offene Asylverfahren, machte 70 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. In ganz Deutschland waren im Sommer 322 000 Asylverfahren unerledigt. Welle und Berg heißt es dazu in der Justiz: Nun hat uns die Welle der Negativentscheidungen des Bundesamts erreicht, nun stehen wir vor diesem Klageberg und wissen, wir werden ihn über Jahre nicht abtragen können. Näheres später.

Mangel an Personal

Auch in der Kirchstraße, sogar im selben lang gestreckten Gebäude wie das Verwaltungsgericht, sitzt die Amtsanwaltschaft. Sie bearbeitet 65 Prozent aller Strafanzeigen in der Stadt, sie beschäftigt sich mit Kinderwagendiebstählen, abgebrochenen Autoantennen, Lebensmittelvergiftungen im Restaurant. Mit Dingen, die jemandem nur so lange belanglos erscheinen, wie sie ihm nicht widerfahren. Und auch hier herrscht Notstand. Hier, wo niemand auf Asyl klagt, wird deutlich: Die Überlastung der Justiz ist eine grundlegende, die Drift des Rechtsstaats in die Handlungsunfähigkeit eine kontinuierliche. Als Zeuge sagt aus der Vorsitzende der Berliner Amtsanwälte, Stephan Szammetat.

„Wir waren hier mal 139 Dezernenten. Das war vor 20 Jahren. Jetzt sind wir 89. Fünf Kolleginnen sind schwanger, die werden nicht ersetzt. Im Übrigen ist jeder von uns ein Schreibwerkverursacher.“ – „Ein was?“ – „Laut Schlüssel zieht ein Schreibwerkverursacher andere Arbeiten und Arbeitsplätze nach sich, in der Registratur zum Beispiel.“ – „Verursacher ist ein Wort mit negativer Konnotation.“ – „Richtig. Ich mache anständig meine Arbeit. Ich bin doch kein Verursacher!“

Dutzend Details, aus denen sich die Arbeitsgrundlage fest fügen sollte, funktionieren nicht mehr / Marco Wagner

Ein Nebenaspekt eigentlich. Aber Sprache ist Denken. Damals, in den goldenen Zeiten der 139 Stellen, konnten die Dezernenten die hereingekommenen Fälle gut abarbeiten. Dann wurden Stellen nicht mehr besetzt oder gestrichen, und Stellen, die an diesen Stellen hingen, fielen ebenfalls weg. So sparte der Senat Geld. Heute hat ein Dezernent pro Anzeige sechs bis acht Minuten Zeit für die Bearbeitung, das wurde von einer Unternehmensberatung ausgerechnet. Ihr in der Berliner Justiz gültiges Zeitmanagementsystem heißt PEBB§Y und wird so ausgesprochen: Pepsi.

Natürlich reichen die Pepsi-Minuten niemals, auch nicht bei Akten, die nur drei Blatt dünn sind und nicht drei Bände dick. Was also tut die Amtsanwaltschaft mit ihren pro Kopf monatlich 170 bis 180 neuen Fällen? „Wir versuchen, so viele wie möglich sofort zur Anklage zu bringen oder einzustellen.“ Lieber einzustellen, offiziell wegen Geringfügigkeit, inoffiziell aus Mangel an Kapazitäten, schon bei der Polizei. „Ein abgebrochener Spiegel am Auto, dreimal? Keine Chance, es sei denn, irgendein Anwohner am Fenster hat’s zufällig gesehen.“

Rechtsbrüche ohne Folgen führen zu mehr Rechtsbrüchen

Es geht noch weiter, es wird zwischen den unter Zeitnot arbeitenden Amtsanwälten und der nicht minder belasteten Staatsanwaltschaft ständig darum gekämpft, Fälle an die jeweils andere Seite abzugeben. Da war zum Beispiel einmal eine Messerattacke. Der Geschädigte ist durch einen Stich am Herzbeutel lebensgefährlich verletzt worden. Stephan Szammetat hat argumentiert, es sei versuchter Totschlag gewesen, die Staatsanwaltschaft müsse übernehmen. Diese setzte dagegen, der Täter sei vom Versuch der Tötung zurückgetreten, er habe ja nicht noch mal zugestochen, ergo: nur gefährliche Körperverletzung. Der Fall verblieb in der Amtsanwaltschaft. Dort aber dürfen keine Strafen über drei Jahre Haft hinaus verhängt werden. Was den Tätern gut gefällt. „Die meisten schlussfolgern, sie seien deutlich cleverer als die Strafverfolgungsbehörden, und fühlen sich zum fröhlichen Weitermachen aufgefordert.“

Ein Ironiker, Szammetat, wie auch der Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, von dem noch die Rede sein wird, und wie noch dieser und jener, der hier nicht genannt werden mag. Ironisch wird der Mensch, wenn er zornig ist und doch auch klug genug, seinen Zorn zu bremsen. Szammetat fährt fort: „Vor allem Verkehrsdelikte nehmen zu. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort scheint ein Volkssport geworden zu sein. Es gibt Gegenden, wo es zum Status gehört, ein dickes Auto zu fahren, der Besitz eines Führerscheins dagegen als anrüchig gilt.“

Charlottenburg? Szammetat identifiziert die Frage leicht als Anknüpfung an die eigene Ironie und lacht lauthals los. Natürlich eher Neukölln, eher die arabischen Jungs als irgendwelche anderen. Aber längst ist eine Kettenreaktion im Gange. Weil die Berliner in der Zeitung Meldungen der Art lesen können, dass im Jahr 2016 in der Stadt 74 500 Strafverfahren eingestellt wurden und dies 27 000 Einstellungen mehr als 2012 sind, weil sich langsam herumgesprochen hat und es von jedem auch leicht beobachtet werden kann, dass Rechtsbrüche ohne Folgen bleiben, folgen immer mehr Rechtsbrüche in immer weiteren Kreisen, und seien es lapidar anmutende Vergehen. „Wenn ich nur mal unten auf der Kirchstraße gucke“, sagt Stephan Szammetat: „Für den Bürger ist es mittlerweile eine Selbstverständlichkeit, sein Auto in zweiter Reihe zu parken, obwohl hier wegen der Gerichte massenhaft Polizei rumläuft. Aber ich habe ja auch noch nicht erlebt, dass ein Polizist deswegen mal einen Strafzettel geschrieben hätte. So erodiert schleichend ein Gemeinwesen.“

Schlechte Ausstattung im Kriminalgericht

Damit zu den großen Fischen, zum Spektakulären, zu Ralph Knispel, der in der Staatsanwaltschaft eine Abteilung für Mord und Totschlag leitet und Chef der Vereinigung Berliner Staatsanwälte ist. Anders als Szammetat hat er, bei aller Ironie, etwas Markiges. Umstandslos kann er im rauchig-derben Ton der kraftprallen arabischen Migranten wiedergeben, was einer von ihnen im Zuge einer Haftvorführung ihm gesagt hat: „Bist nisch Taube, oder? Bist Falke, nisch Taube, oder!“

Es klingt angriffslustig, vor allem aber respektvoll. Auch ein wenig verwundert. Es deutet darauf hin, dass jenem Angeklagten so viele in Diensten des Staates stehende Respektspersonen nicht begegnet sind. Und Schnitt: Der Falke hebt an, aufs Kleinteiligste über Hindernisse in der eigenen Behörde zu reden. „Wir haben hier zu manchen Verfahren 20, 30 Aktenbände mit je 250, 300 Blatt. Die müssen zum Teil mehrfach kopiert werden. Fällt von den ohnehin wenigen Kopierkräften jemand durch Urlaub oder Krankheit aus, wird er nicht vertreten. Seine Tätigkeit muss dann von den Geschäftsstellenmitarbeitern zusätzlich erledigt werden.

Es gibt im Kriminalgericht auch nicht genügend Kopierer. Ein Großteil steht auf den Fluren, wo jeder vorbeikann, Angehörige von Beschuldigten, Pressevertreter. Und da liegen dann völlig ungeschützt hochsensible Daten, bis hin zu Haftbefehlsanträgen. Zur Wirklichkeit gehört, dass bei uns fast jeden Mittwoch um 17 Uhr die Computer abgeschaltet werden, wegen Wartungsarbeiten. Wir haben in der gesamten Staatsanwaltschaft genau ein Notebook für den externen Zugang ins System. Ein normaler Dezernent ist ohne Anmeldung nicht zu Telefonaten ins Ausland berechtigt. Wir haben nicht mal eine Flatrate. Wir machen Einzel­abrechnung. Wir sind die größte Strafverfolgungsbehörde Europas, und wir schreiben das Jahr 2017. Ich will Sie nicht langweilen, aber ich habe mal Alarm auslösen müssen, weil sich hier im Zimmer eine nicht ganz ungefährliche Person nah neben mich gesetzt hat. Es dauerte acht Minuten, bis die Wachtmeister kamen.“

Steigende Kriminalität durch Zuwanderer

Kurzum: Dutzende Details, aus denen sich die Arbeitsgrundlage fest fügen sollte, funktionieren nicht mehr. Und auf diesem rissigen Untergrund lastet der schon von der Amtsanwaltschaft bekannte Mangel an Personal – obgleich er sich hier, angesichts der Zahl von 310 Dezernenten, nicht auf den ersten Blick erschließt. 310 Mann, bilden die nicht schon eine kleine Masse? Und sind nicht 20 neue Stellen bewilligt? Paradoxerweise werden es mit diesen 20 am Ende nicht 330, sondern nur noch 305 sein, denn 25 Leute wurden zu vorgesetzten Behörden wie der Senatsverwaltung und der Generalbundesanwaltschaft abgeordnet. „Auf dem Papier“, sagt Ralph Knispel, „gehören alle weiter zu uns, aber eben nur auf dem Papier. Und man muss nicht hellsehen können, um zu prognostizieren, dass wir wegen der zunehmenden Gefahr islamistischen Terrors in Zukunft weitere Kollegen vor allem nach Karlsruhe zu schicken haben.“

Für die Berliner Staatsanwaltschaft bedeutet das, gelinde ausgedrückt: Sie kümmert sich vorrangig um Kapitalverbrechen und organisierte Kriminalität, sie setzt Schwerpunkte. Dagegen unverblümt: Sie wird Tatverdächtigen und Opfern oft nicht mehr gerecht. Da sie Mühe hat, alle Untersuchungshaftfälle zu behandeln, bevor die Eingesperrten wegen der Wahrung von Fristen entlassen werden müssen, schiebt sie Wirtschaftskriminalitätsfälle, auch gravierende, zur Seite.

Wo der Schutz verloren gegangen ist, wird zwangsläufig der Gehorsam aufgekündigt / Marco Wagner

Die Misere ist eine tief reichende und weitverzweigte, ein Bazillus, der den ganzen Körper befallen hat. Schon die Ermittlungsbehörden, auf deren Ergebnisse die Staatsanwaltschaft angewiesen ist, kommen mit der Arbeit nicht nach. Knispel flatterten kürzlich, fast zeitgleich, zwei Fälle herein: Es gab einen Totschlag, „bei dem mehrere Menschen mit arabischem Hintergrund eine Rolle spielten“, und es gab in Köpenick einen mit der Schrotflinte niedergeschossenen Mann. Beides erforderte immensen Ermittlungsaufwand, im Falle der arabischen Verdächtigen wären diverse Hausdurchsuchungen und eine Funkzellenabfrage nötig gewesen.

Ist der Rechtsstaat noch funktionstüchtig?

Aber dazu, so Knispel, sei es nicht gekommen. „Es war personell nicht zu bewerkstelligen. Die 7. Mordkommission ist geschlossen zum Staatsschutz umgesetzt worden, um den Fall des Weihnachtsmarktattentäters Anis Amri aufzuarbeiten, so fehlt eine ganze Mordkommission. Wissen Sie, wie mir das alles vorkommt? Es wurde ein Auto mit vier Rädern gebaut und ein Mercedesstern drangeschraubt, und klagt jemand, das ist ja gar kein Mercedes, wird gesagt: Aber sicher, schau doch, ist ein Stern drauf, und das Auto fährt.“

Der Rechtsstaat sei nicht mehr funktionstüchtig, hat Knispel, weniger bildhaft und nicht weniger eindringlich, vor Wochen im Regionalfernsehen erklärt, das ist überall zitiert worden, und dabei ist es geblieben – beim Schlagwortartigen. Dahinter aber steckt: Der elementare Grundsatz über das Zusammenspiel, man könnte auch sagen, über die Abhängigkeit von Staat und Bürger – Schutz gegen Gehorsam – gilt, zumindest in einigen Bereichen und vorrangig in den großen Städten, nicht mehr. Berlin ist da nur ein Beispiel. Wo der Schutz verloren gegangen ist, wird zwangsläufig und notgedrungen der Gehorsam aufgekündigt, ob in kurzer oder langer Zeit, steht dahin. Der Bürger entledigt sich, je ferner der Staat ihm den begehrten Köder der Sicherheit hält, umso rascher seiner zivilisatorischen Hülle. Die Tendenz führt ihn zurück in Richtung seines Urzustands, in dem er nackt gewesen war, mit Hang zur Barbarei.

Fälle werden immer zeitraubender

Interessant in diesem Zusammenhang ist eine – scheinbar – gegensätzliche Entwicklung, denn das Rechtssystem selbst ist in den vergangenen Jahren immer weiter verfeinert worden. Peter Schuster, Mitglied des Richterbunds, Vorsitzender Richter der 40. Strafkammer am Landgericht Berlin, in solchen Kammern seit 25 Jahren tätig, erzählt darüber: „Früher habe ich vor der Verhandlung Absprachen betrieben. Da ging es um das Strafmaß im Falle eines Geständnisses. Ich habe den Verteidiger angerufen: Ist es sinnvoll, dass ich die Staatsanwaltschaft frage, ob – und es folgte eine Zahl. Wenn er dann antwortete, schließe ich nicht aus, habe ich mit dem Staatsanwalt telefoniert: Der Vorschlag lautet folgendermaßen, angemessen für Sie? Das Bundesverfassungsgericht hat dann eine solche Verständigung erheblich erschwert, und es hatte seine Gründe, die Sanktionsschere war manchmal wirklich zu groß: Der Angeklagte kriegt drei Jahre, wenn er gesteht, und acht, wenn nicht, auf die Art wird ihm ein Geständnis fast abgepresst. Passierte so etwas, war es nicht in Ordnung. Aber nun geschieht oft gar nichts Vereinfachendes mehr. Alles kommt in die Hauptverhandlung. Sie wird immer zeitraubender. Ein Termin folgt auf den nächsten. Und andere Fälle müssen warten.“

Im Jahr 2016 wurden allein in Berlin 74 500 Strafverfahren eingestellt / Marco Wagner

Das war nur ein Punkt. Es spielen auch die stark verbesserten technischen Aufklärungsmöglichkeiten eine Rolle. Wurde einst jemand mit zehn Kilo Heroin erwischt, hat er schlicht seine Strafe gekriegt, für jedes Kilo soundso viele Monate. Heute wird sein Handy ausgelesen, und es wird ein ganzer Karton mit neuen Ergebnissen gefüllt. Mehr Leute werden angeklagt und von mehr Verteidigern unterstützt, mehr Zeugen werden vernommen. Apropos Zeugen: Kürzlich verhandelte Peter Schuster den auf offener Straße ausgetragenen blutigen Streit zweier bosnischer Familien, es hatte einen Toten und drei Schwerverletzte gegeben. Und eben Zeugen. Sie sahen drei Minuten zu und wurden von Verteidigung, Staatsanwaltschaft, Nebenklägern vier Stunden vernommen. „Vier Stunden für drei Minuten“, wiederholt Schuster, der ein ruhiger, besonnener Mann ist, in unverkennbar genervtem Ton.

„Und wenn Sie eingeschritten wären?“

„Eine Frage nicht zuzulassen, ist heikel. Es dauert auch. Der entsprechende Beschluss ist zu beantragen, zu fassen, zu protokollieren, da vergehen schnell 20 Minuten, da sagt man lieber: Komm, stell auch du auch noch die Frage.“

Die Urteile werden lang und länger

In jener Sache mit den Bosniern hat die Kammer 76 Verhandlungstage gebraucht. Anderthalb Jahre gingen ins Land. Die Hälfte der Zeit war die Kammer für andere Verfahren komplett blockiert. Und noch etwas: Die Urteile werden lang und länger. Hat ein Richter früher 40 Seiten gebraucht, so braucht er jetzt 80, das ist das Verhältnis. Die Urteile, sagt Schuster, seien besser geworden dadurch, seine einstigen Begründungen erscheinen ihm heute oberflächlich. Aber die Urteile sollen noch besser werden. In obergerichtlichen Entscheidungen findet man die Wörter „Begründungstiefe“ und „fehlt“, noch mehr Durchdringung wird also angemahnt.

Damit kurz zu jenem künstlichen Weihnachtsbaum, den in der Zelle aufzustellen ein Häftling beantragt hatte, nachdem ihm das Platzieren eines echten Baumes verwehrt worden war. Erneute Ablehnung, aus denselben Gründen: Er hätte in den Nadeln Klingen oder Drogen verstecken können. Und hier ließ die kammergerichtliche Begründung wohl kaum zu wünschen übrig, sie wurde ausgebreitet auf 13 Seiten.

Es handelt sich mittlerweile um eine umfassende Kultur, um eine der ständigen Ziselierung. Sorgfalt und tiefenpsychologische Einfühlung walten in den nebensächlichsten Angelegenheiten. Und wenn genau dadurch das Wesentliche liegen bleibt? Dann torpediert sich der Rechtsstaat durch seine Hyperverfeinerung selbst.

Unisex-Toiletten nach Terrorattentat

Insofern erscheint die Frage, welche Politiker gerade regieren, schlicht überbewertet. Der amtierende Justizsenator in Berlin heißt Dirk Behrendt und gehört zu den Grünen. Er ist ein Mann, der im Gehen seine Brust so weit herausdrückt, dass er fast hintenüberfällt, seine Methode der Kritikabwehr? Teilen der Stadt gilt er als Buhmann, weil er sich nach dem Terror Amris – auch – um die Einführung von Unisex-Toiletten kümmerte und weil er trotz der Engpässe in seinem Kernbereich fünf neue Stellen gegen Diskriminierung und für sexuelle Vielfalt schuf. Dabei ist er nur ein Kind seiner Zeit. Er ist ordentlich gewählt und handelt entsprechend den Interessen seiner Wähler.

Er selber hat, erwartbarerweise, über sein Wirken eine günstige Meinung. Mit der eines Stephan Szammetat deckt sie sich nicht. Szammetat hatte ihm vor knapp einem Jahr als Vertreter des Amtsanwaltsvereins brieflich zu seiner Benennung gratuliert und um ein Gespräch zum Zwecke des Kennenlernens und der Problemerörterung gebeten. Darauf hat er bis heute keine Antwort erhalten. Und weil er eben ein Paragrafenkenner ist, verweist er darauf, dass der Senator, mal abgesehen vom Tatbestand der Unhöflichkeit, damit auch gegen die Landesgeschäftsordnung verstößt, der zufolge auf jedes Schreiben innerhalb von zwei Wochen geantwortet werden muss.

Fragt nun der Journalist nach der 30-prozentigen Unterdeckung an Personal, die Szammetats Auskunft zufolge in der Amtsanwaltschaft herrscht, geht Dirk Behrendt nicht darauf ein, sondern auf die Nichtunterdeckung im Zivilrechtsbereich. Aber die 30 Prozent, Herr Behrendt? Da verweist er auf seinen Sprecher, der sich um die Zahlen kümmern werde; und das ist natürlich auch ein beliebtes Vorgehen im Politikgeschäft: umstandslos über ein gar nicht erfragtes Thema reden, zu dem etwas Feines herzeigen („2007 hatten wir 500 jugendliche Strafgefangene, jetzt nur noch 294, auch die Zahl der Verfahren ist rückläufig, wir können deswegen Jugendrichter in anderen Bereichen einsetzen“) und auf diese Weise einen Mantel über das eigentlich zu diskutierende Negative breiten.

Neue Strafkammern in Planung

Andererseits: Der Mantel ist keine Erfindung. Das Positive ist real. Der Mann ist nicht untätig. Für jedes der nächsten Jahre hat er beim Finanzsenator 100 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte herausgeschlagen. 2018 wird eine neue große Strafkammer aufgemacht, 2019 sollen es zwei sein, und am Verwaltungsgericht, das zu 80 Prozent mit Asylklagen beschäftigt ist und derzeit mit Abstand am meisten ächzt, gibt es seit dem vergangenen Sommer fünf neue Kammern mit mindestens je drei Richtern.

Zum Schluss noch einmal dorthin, zu einer der vielen Verhandlungen, wieder nach dem Zufallsprinzip. Anwesende diesmal: Zaki N., Vater; Maryam N., Mutter; Omid N. und Amid Arash N., Söhne, aus Kabul. Die Kinder sprechen herrlich gut Deutsch – Schnick, Schnack, Schnuck geht ihnen im Warteraum leicht von den Lippen. Der Vater, ein kleiner, gedrungener Mann, schiebt sich die flache Hand unter die Knopfleiste, die Herrscherpose Napoleons, aber bei Zaki wirkt sie wie ein Klammern. Seine Kiefer mahlen, denn heute entscheidet sich die Zukunft der Familie, und wer ihn und die Seinen beobachtet und kein Herz aus Stein hat, kann nur hoffen, ihre Wünsche mögen sich erfüllen. Im Übrigen sitzt noch jemand im Warteraum, ohne jeden Kontakt zu ihnen, der schlägt hastig und lautstark in einem Ordner Akten um.

Klagen gegen abgelehnte Asylanträge

Nun aber die Geschichte, die sie im Sitzungssaal vorbringen: Jahrelang haben sie in Peschawar, Pakistan, gelebt. Zaki hat dort einen Videokassettenverleih betrieben. Dann sind sie zurück nach Kabul gegangen. Dort haben sich zwei Bekannte gemeldet, die auch in Peschawar gewesen waren. Sie haben gewusst, dass er dort Jesus-Videos im Angebot hatte, und haben sie ausleihen wollen. Er hat sie ihnen gegeben. Später haben die Männer Geld gefordert und gedroht, Zaki bei den Taliban anzuschwärzen und Fardin, seinen ältesten Sohn, zu entführen. Da haben sich die Bedrohten auf den Weg nach Europa gemacht. In Belgien stellten sie drei Asylanträge, die alle abgelehnt wurden. Sie verloren den Anspruch auf Sozialhilfe und ihre Vier-Zimmer-Wohnung, wechselten inklusive Fardin nach Deutschland und ersuchten um Verfahrensaufnahme. Sie erhielten vom Bundesamt negativen Bescheid. Gegen den sie jetzt und hier klagen.

Ein beliebtes Vorgehen im Politikgeschäft: über ein nicht gefragtes Thema reden und einen Mantel über das zu diskutierende Negative breiten / Marco Wagner

Sie müssen, juristisch gesprochen, einen neuen Teilsachverhalt vorbringen, und Zaki N. tut das: Fardin sei im Frühjahr 2017 von jenen zwei Männern wirklich entführt worden; er war mit deutscher Anschubhilfe zurück nach Afghanistan geflogen.

„So weit alles in Ordnung, Herr Petzold?“, fragt die Richterin Starke. Der Mann, der bis eben nicht aufgehört hatte, auf fahrige Weise die Aktenblätter umzuschlagen, der wie abwesende Anwalt, erklärt statt einer Antwort: „Meine Mandantin ist schwanger.“

„Das ist nicht zu übersehen“, erwidert sie lächelnd. Es hatte schon zum Bild des Verständnisses, ja des Mitleids im Wartesaal gehört. Und die Richterin hatte zu Beginn der Verhandlung auch angeboten: Wenn Sie mal eine Pause brauchen, Frau N., oder wenn Sie aufstehen möchten, kein Problem.

Freundlich und konzentriert fragt sie – jeden der Eheleute einzeln – nach länger Zurückliegendem. Ob Zaki N. in Kabul wieder einen Videoverleih eröffnet habe? Nein. Wie teuer die Reise nach Belgien gewesen sei? 35 000 Dollar. Wieso er bei dem vielen offenbar zur Verfügung stehenden Geld den Laden denn nicht aufgemacht habe? Sei ja sein Wunsch gewesen, sagt Maryam N., aber gerade als er sich dazu entschieden habe, sei die Erpressung erfolgt.

Abschiebung bleibt ohnehin Theorie

Weitere Fragen in immer noch freundlichem, doch auch bestimmtem Ton, und schließlich: Sie wolle offen sein, sie habe erhebliche Zweifel an der Geschichte. Abgesehen von anderen Unstimmigkeiten: Zur Entführung, diesem doch gravierenden Ereignis, sei vonseiten der Kläger nichts gekommen, nichts auch nur geringfügig Informierendes, nichts Emotionales. Nur der Tag, an dem sie aus Kabul die Information darüber erhalten hätten, sei von ihnen wie aus der Pistole geschossen genannt worden: 27. September, ein Datum, schön rechtzeitig vor der Verhandlung.

Die Richterin lenkt ihre Rede auf das Thema Rückkehr. Sie nimmt eine Gesamtbetrachtung der möglichen Gefahren vor und weist auf eines hin: Die Wahrscheinlichkeit, in der Zentralregion Kabul als Zivilist Anschlagsopfer zu werden, liege nach allen ihr zur Verfügung stehenden Informationen weit unterhalb der vom Bundesverwaltungsgericht festgelegten Schwelle von 0,125 Prozent. Sie finde das auch schrecklich, diese Scheingenauigkeit, aber … Aber es bleibt ohnehin Theorie. Wie gesehen und besprochen, Maryam N. ist schwanger. Sie genießt Abschiebeschutz. Ihr Kind, wenn es geboren worden ist, hat in Deutschland Anrecht auf ein Asylverfahren. Die Familie wird bleiben, vermutlich für immer.

Was die Anwälte betrifft, so sagt man in diesem und jenem Gericht außerhalb des Protokolls etwas wenig Überraschendes: Sie rekrutierten Mandanten, empfählen ihnen zu klagen, kassierten üblicherweise um die 900 Euro Prozesskostenhilfe. Aber keine falschen Schlüsse. In Angelo Petzolds kleiner Kanzlei, in beengtesten Verhältnissen, stapeln sich die Mandanten fast. Seine Frau, eine gebürtige Iranerin, versucht auf bewunderungswürdige Art, des Ansturms Herr zu werden, und er selber springt wie eine dostojewskische Figur in beuliger Hose und mit zerzausten Haaren von Gespräch zu Gespräch.

Kein Untergang mit Knall, sondern mit Gewinsel

Daraus besteht sein Leben, er führt es am Rande der Erschöpfung, und er treibt damit das große Ganze, in dem er tätig ist, selber immer weiter in die Erschöpfung hinein; die Kammervorsitzende Starke, derzeit ausschließlich mit Afghanistan beschäftigt, bekam für sich und ihre zwei Beisitzer im September 135 neue Fälle ins Regal gelegt. Pro Fall braucht sie mindestens einen Tag. Stunden verbringt sie nur damit, sich mit den neuesten Einschätzungen über die politische Lage im Land vertraut zu machen. Die Zahl der Leitz-Ordner, in denen sich die größtenteils englischsprachigen Expertisen diverser Institutionen befinden, beträgt sechs.

Noch etwas sagen die Richter, sofern das Diktiergerät abgeschaltet ist: Wenn wir die Robe anziehen, sind wir Vertreter des Gesetzes. Aber wir sind auch Bürger. Und als Bürger und Robenträger verstehen wir genauso wenig wie unsere Freunde und Bekannten, warum, wenn wir eine Klage nach akribischer Vorarbeit und nach bestem Wissen und Gewissen negativ bescheiden und die Leute trotzdem nicht gehen, sie nicht dazu gezwungen werden. Warum niemand unser Urteil vollstreckt.

Ralph Knispel, der zur Offenheit neigt und sie sich als Vorsitzender einer Vereinigung auch leisten kann, beugt sich vor und ruft: „Wissen Sie, wie viele Strafgefangene im Jahr 2015 aus Berlin in ihr Heimatland abgeschoben wurden? Fünf! Ganze fünf waren es!“

Fazit? Verallgemeinerung vielleicht? Lässt sich nachlesen beim geschichtsbewussten, kühlen, präzisen Ostberliner Dramatiker Heiner Müller. 1993, gesegnet und geschlagen mit der Erfahrung eines Staats- und Systemendes, sagte er über das Verbliebene, ihm von der Substanz her schon arg dünn Erscheinende: „Es geht nicht unter mit einem Knall, auf den würde ich überhaupt nicht rechnen, der ist weder zu erhoffen noch zu befürchten, eher wird’s ein Untergang mit Gewinsel.“

Dies ist die Titelgeschichte aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie auch am Kiosk oder in unserem Onlineshop kaufen können.












 

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