Rassismusvorwurf gegen die Polizei Stuttgart - „Stammbaumforschung“ auf Anordnung von Kretschmann?

Die Empörung war am Wochenende groß, als es hieß, die Polizei betreibe „Stammbaumforschung“ bei den Tatverdächtigen der Stuttgarter Krawalle, um eventuelle Migrationshintergründe festzustellen. Doch war es wirklich so? Und gab es eine Anordnung „von oben“?

Die Stuttgarter Krawallnacht kommt dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann im Wahlkampf äußerst ungelegen / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff „Stammbaumforschung“ lesen? Auf Twitter hat dieser Begriff am Wochenende getrendet, und liest man die Tweets, die die Empörungsmaschine dazu aufgelistet hat, ist man schnell bei „Bürgern erster Klasse“ und bei „Bürgern zweiter Klasse“, bei „Arier-Nachweisen“ und „zurück im Dritten Reich“. Dabei geht es um Stuttgart, genauer gesagt um die schweren Ausschreitungen zwischen jugendlichen Randalierern und der Polizei in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni.

Polizeipräsident Franz Lutz soll am vergangenen Donnerstag in einer Gemeinderatssitzung gesagt haben, bei elf von 39 festgenommenen Tatverdächtigen mit einem deutschen Pass stehe noch nicht fest, ob sie einen Migrationshintergrund hätten. Und dann folgt der Satz, der nun im ganzen Land eine kontroverse Debatte ausgelöst hat: „Das bedeutet letztlich Recherchen bundesweit bei den Standesämtern, um diese Frage festzustellen.“

Empörungsmaschine Twitter

Es war der Grünen-Stadtrat Marcel Roth, der diese Formulierung in einem Post auf seiner Facebook-Seite als „Stammbaumrecherche“ interpretiert hat. Er habe sich erlaubt, „die Ausführungen von Lutz etwas zuzuspitzen“, sagte er der Stuttgarter Zeitung.

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Die Polizei hat sich beeilt, zu dementieren, dass dieser Begriff so gefallen ist. Und der Sprecher der Stadt Stuttgart pflichtete ihr bei. Er habe sich den 16-minütigen Audio-Mitschnitt des Vortrags von Franz Lutz angehört. Der Begriff sei nie gefallen.

Die Welle der Empörung war da aber schon von Twitter in die Politik geschwappt. Reflexartig machten die üblichen Verdächtigen ihrer Empörung Luft. Wenn es stimme, dass die Stuttgarter Polizei Stammbaumrecherche betreiben wolle, sei das „inakzeptabel“, befand Grünen-Chef Robert Habeck. Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle sprach von einem massiven „Eingriff in die Persönlichkeitsrechte“, der Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch von „Rassismus pur“.

Polizeigewerkschaft reagiert verständnislos

Viel Lärm um nichts? Nein, so einfach liegen die Dinge nicht. In der Bundesstelle der Polizeigewerkschaft GdP reagiert man „verständnislos“ auf die Kontroverse um den Begriff „Stammbaumforschung“. Um an die Daten zu kommen, von denen Franz Lutz gesprochen habe, müsse die Polizei nicht bei Standesämtern recherchieren. Es seien Daten der Einwohnermeldeämter, auf die jeder Polizist in seinem PC Zugriff habe.

Interessant sei aber nicht, welche Nationalität ein Tatverdächtiger habe, sondern wie er sozialisiert sei. Und um das herauszufinden, schaue man sich das Umfeld im Einzelfall schon mal genauer an – besonders dann, wenn es sich um jugendliche Täter handele. Schließlich gehe es darum, Präventionsstrategien zu erarbeiten.

Polizei in Stuttgart steht unter Druck

Zum Beispiel in Stuttgart. Polizeichef Franz Lutz sagt, den Migrationshintergrund der Eltern von Tatverdächtigen zu ermitteln, sei eigentlich nicht Aufgabe der Polizei. Dass sie es jetzt aber doch tue, sei dem öffentlichen Interesse an der Krawallnacht in Stuttgart geschuldet.

Lutz steht unter massivem Druck. Landauf, landab hatten Medien über die Ausschreitungen berichtet, an denen mutmaßlich viele Jugendliche mit Migrationshintergrund beteiligt waren – und eine Frage aufgeworfen, die sich viele stellen: Wie war es möglich, dass die Gewalt ausgerechnet im Stuttgart eskalieren konnte – der Stadt, die sich vor 30 Jahren unter ihrem liberalen CDU-Bürgermeister Manfred Rommel den Ruf erworben hatte, sie sei ein Vorbild in Sachen Integration. Inzwischen haben 60 Prozent der unter 25-Jährigen einen Migrationshintergrund. Aber ist der schon damals hohe Anteil in der Amtszeit von Rommel oder seinem Nachfolger Wolfgang Schuster (1997-2013) je ein Problem gewesen?

Die Achillesferse grüner Politik

Die Frage rührt an das Selbstverständnis grüner Politik – nicht nur in Stuttgart, auch in Baden-Württemberg. Dort wird im März 2021 ein neuer Landtag gewählt. Winfried Kretschmann, Deutschlands einziger grüner Ministerpräsident, tritt dann zum dritten Mal als Spitzenkandidat seiner Partei gegen die amtierende Bildungsministerin Susanne Eisenmann (CDU) an.

Die Stuttgarter Krawallnacht kommt ihm im Wahlkampf äußerst ungelegen. Bei der Polizeigewerkschaft GdP in Baden-Württemberg heißt es, dass die Polizei jetzt intensiv im Umfeld der Verhafteten ermittle, sei ein Auftrag „von oben“ gewesen – vom Ministerpräsidenten persönlich. Die Polizei führe nur aus, was der Regierungschef angeordnet habe. Und nach einem Bericht der Stuttgarter Nachrichten hatte Kretschmann bei einer Salon-Veranstaltung im Opernhaus „detaillierte Kenntnisse über die Teilnehmer der Krawalle bis spätestens nach der Sommerpause“ angefordert.

Die Krawallnacht als Wahlkampfthema

Aber Moment mal: Warum Winfried Kretschmann? Der oberste Dienstherr der Polizei ist Innenminister Thomas Strobel (CDU). Auf Anfrage von Cicero bestätigte eine Sprecherin im Staatsministerium, dass er die Anordnung erteilt habe. Auch den Auftrag zur „Stammbaumrecherche“?

Die Sprecherin sagt, so würde Kretschmann das nicht nennen. Und fügt hinzu, natürlich gehe es dem Ministerpräsidenten auch um Informationen über das Elternhaus der verhafteten und tatverdächtigen Jugendlichen. Der Migrationshintergrund sei aber nur ein Kriterium von vielen. Es gehe darum, sich ein umfassendes Lagebild zu machen. In welchen Verhältnissen wachsen sie auf? Wie sei ihre finanzielle Situation? Wie gut seien sie integriert?

Wortklauberei oder Manipulation?

Der Begriff „Stammbaumrecherche“, so viel kann man sagen, wird der Sache nicht gerecht, denn er reduziert die Ermittlungen auf die Frage, ob deutsche Täter zumindest einen ausländischen Elternteil haben. Aber spielt es eine Rolle, ob der Begriff wortwörtlich so gefallen ist oder ob der Abgeordnete der Grünen damit nur zugespitzt hat, was Stuttgarts Polizeichef damit unausgesprochen suggeriert hat? Dass nämlich ein Migrationshintergrund wenn nicht der einzige, aber doch zumindest ein Punkt von vielen ist, der darüber entscheide, wie Polizei Verdächtige einstuft?

Luigi Pantisano, im Stuttgarter Stadtparlament Abgeordneter für das Bündnis Stuttgart, Ökologisch, Sozial (SÖS), ist entsetzt über die Äußerungen des Polizeichefs. Sein Lebenslauf ist ein Musterbeispiel für gelungene Integration. Er kam 1979 als Sohn italienischer Eltern in Waiblingen zur Welt. Heute ist er Architekt und Stadtplaner, verheiratet, zwei Kinder. 

Er sagt, dass die Polizei in Stuttgart einen deutschen Pass nicht mehr als Nachweis der Nationalität akzeptiere und Deutsche stattdessen „in richtige Deutsche“ und „nicht ganz so richtige Deutsche“ unterteile, sei der Beweis, dass die Polizei ein Problem mit strukturellem Rassismus habe.

Polizeigewerkschaft fühlt sich an den Pranger gestellt

Die Polizeigewerkschaft GDP fühlt sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, Franz Lutz habe sich unglücklich ausgedrückt. Und ein ehrgeiziger grüner Abgeordnete habe ihm die Worte im Munde umgedreht, um im Sommerloch einen Shitstorm gegen die Polizei loszutreten. „Wir kehren am Ende nur die Scherben zusammen“, heißt es resigniert. Die Beamten müssten die Versäumnisse der Integrationspolitik ausbaden.

Diese zu thematisieren, galt in Stuttgart lange als Tabu. Die Stadt sonnt sich noch immer im Ruhm der Integrationspolitik von OB Rommel, der wie sein Nachfolger Wolfgang Schuster als Vorreiter für Integration und Verständigung galt. Doch lange kann sich der amtierende grüne OB Fritz Kuhn nicht mehr um eine Bilanz drücken. Nach der Krawallnacht hat die Stuttgarter CDU die Stadtverwaltung in einem Antrag gefragt, wie sie die bisherige Integrationspolitik von Stadt und Land bewertet.

Von der Antwort hängt viel ab. Vielleicht sogar die Frage, wer künftig das Land regiert. 

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