Politiker-Ranglisten - Deutschland sucht den Superkanzler

Mit Inbrunst widmen sich Historiker in den USA dem Ranking ihrer Präsidenten. Für Deutschland ist eine solche Kanzler-Rangliste überfällig – und keineswegs nur eine intellektuelle Spielerei. Im besten Falle löst der Weg dahin eine Diskussion darüber aus, was eine Nation im Kern ausmacht.

Wer ist der deutsche Superkanzler? / Paul Grabowski
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Autoreninfo

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

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Was verbindet Tennisspieler, TV-Serien und Universitäten? Für alle gibt es heute Ranglisten. Dieser Trend macht vor nichts halt. Die Washington Post reihte etwa, Corona sei verflucht, die tödlichsten Pandemien der Geschichte auf. Und das ZDF-­Politbarometer stuft jeden Monat die Top Ten der deutschen Politik nach Sympathie und Leistung ein.

Die Mutter aller Politiker-Ranglisten sind die USA. Mit Inbrunst widmen sich Historiker dort dem Ranking ihrer Präsidenten. Auswahl haben sie genug dafür: Seit Schaffung des Amtes 1789 hatten es immerhin 46 Männer inne. 1948 bat Harvard-­Professor Arthur Schlesinger jr. Kollegen zum ersten Mal um ihr Urteil. 

Rangliste der Regierungschefs

Seither sind solche Klassifizierungen populär, wird in Amerika leidenschaftlich über Ränge und Kriterien gestritten. Einig ist man sich heute über die Spitzenplätze, sie gehen an Abraham Lincoln, den Sklavenbefreier und Bürgerkriegssieger, Franklin D. Roosevelt, den Überwinder der Großen Depression und Weltkriegstriumphator, und George Washington, der als erster Präsident das Überleben der jungen Demokratie sicherte und dem Amt Autorität und Würde verlieh.

Für Deutschland ist ein solches Kanzler-Ranking überfällig, obwohl wir bisher nur auf acht Regierungschefs kommen. Das Erstellen einer Rangliste ist nämlich mehr als eine intellektuelle Spielerei. Im besten Falle löst es eine Diskussion darüber aus, was die Nation im Kern ausmacht. Zugleich kann man sich im Vorfeld der Bundestagswahlen am 26. September darüber klar werden, welche Eigenschaften man bei einem Kandidaten fürs Kanzleramt sucht.

Deutsche Kontinuität

Insgesamt hatte das Land Glück mit seinen Regierungschefs, es gab keinen einzigen Totalausfall. Anderen Demokratien war das nicht vergönnt: Silvio Berlusconi schlitterte durch Affären und Bunga-Bunga-Partys, wurde später zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die er allein wegen seines Alters nicht absitzen musste; David Cameron riskierte aus parteitaktischem Kalkül ein tollkühnes Brexit-Spiel und verlor alles; Donald Trump log sich durch seine Amtszeit, rief zum Sturm auf das Parlament auf und spaltet die Nation bis heute mit seinem Wahn vom Wahlbetrug. Der Bundesrepublik sind solche Fiaskos erspart geblieben, offenbar funktioniert die Auswahl des politischen Spitzenpersonals gar nicht so schlecht. 

Die Wähler sehen dies ähnlich. Nur durchschnittlich alle neun Jahre wechselten sie ihre Kanzler, zwei von ihnen, Helmut Kohl und Angela Merkel, amtierten sogar je 16 Jahre. Zum Vergleich: In Großbritannien hielten die Regierungschefs im Durchschnitt nur halb so lang durch wie hierzulande. Allein Merkel hatte mit fünf britischen Premiers zu tun, allesamt schwache Figuren.

Vom Volk abgewählt wurden nur zwei Kanzler, Kohl und Gerhard Schröder. Konrad Adenauer und Willy Brandt verloren ihren Job durch Rücktritt, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Helmut Schmidt durch Ausscheiden oder Umorientieren des Koalitionspartners. Kompliziert wird ein Ranking dadurch, dass deutsche Kanzler immer Mehr-Parteien-Regierungen vorstanden. Deshalb konnten sie nie so durchregieren, wie es britische Premiers oder amerikanische und französische Präsidenten meist vermögen – zumindest in der Außenpolitik.

Die Nicht-Faktoren

Um drei Dinge geht es nicht bei einem Kanzler-Ranking. Erstens um die Leistungen vor der Amtsübernahme. Andernfalls wäre Erhard die Nummer eins, der als oberster Ökonom seit 1948 die Basis für das „Wirtschaftswunder“ fast im Alleingang schuf. Zweitens um die Zeit nach der Kanzlerschaft, sonst würden Kohl und Schröder nach unten durchgereicht. Der eine verweigerte sich bockig der Aufklärung seiner Rolle in der Parteispendenaffäre, der andere verkaufte sich an Putins Gazprom-Konzern und verkam zum Cheflobbyisten des Kreml-Herrschers. 

Drittens um öffentliche Popularität. In Umfragen der Forsa-Meinungsforscher zum besten Kanzler hatte Schmidt 2013 und 2015 die Nase vorn, obwohl er als Regierungschef keine großen Weichenstellungen vornahm. Aber er erfüllte die deutsche Sehnsucht nach einem Macher und erlebte zur Zeit der Erhebungen eine Renaissance als Elder Statesman und Welterklärer. 

Der Wankelmut der Öffentlichkeit zeigte sich 2017: Kurz nach Kohls Tod und der naturgemäß freundlichen Nachrufe hielt eine Mehrheit jetzt ihn für den bedeutendsten Kanzler. In allen Umfragen fanden Unionsanhänger eher CDU-Kanzler besser, Linke und Grüne die der SPD. Beliebtheit im Augenblick oder bei Parteigängern kann allerdings nur ein nachgeordnetes Kriterium für unser Ranking sein. 

Gründungsvater Adenauer

Um die Frage objektiver zu beurteilen, bedarf es belastbarer Kategorien. Die wichtigste: Hat ein Amtsinhaber Demokratie, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gestärkt und haben seine Entscheidungen das Land über die eigene Regierungszeit hinaus geprägt? Voraussicht, Führungskraft, Standhaftigkeit, Integrität und Kommunikationsfähigkeit sind dafür zentral. Und auch das, was Machia­velli „fortuna“ nannte, das glückliche Schicksal. So war es nicht allen Kanzlern beschieden, epochale Herausforderungen zu bewältigen. Ob Schmidt oder Merkel die Chance zur Wiedervereinigung so energisch ergriffen hätten wie Kohl – wir wissen es einfach nicht.

Fangen wir also mit dem Einfachen an: den beiden bahnbrechendsten und den beiden unerheblichsten Amtsinhabern. 
Unangefochten an der Spitze thront Konrad Adenauer (1949–1963). Nur wenige Jahre nach Ende des deutschen Blutzugs durch Europa verankerte er die Bundesrepublik an der Seite der westlichen Demokratien, begann das europäische Einigungswerk, söhnte sich mit Frankreich aus, führte das Land in die Nato. 

Manche seiner Projekte wie die Wiederbewaffnung verwirklichte Adenauer gegen den erbitterten Widerstand großer Teile von Opposition und Öffentlichkeit. Dazu besaß er strategische Weitsicht, Verhandlungsgeschick, Beharrlichkeit. Wie Washington für die USA und Mandela für Südafrika wurde Adenauer damit zum Gründungsvater und Sinnstifter der neuen, wenngleich noch geteilten Nation. Schon 1959 akzeptierte die SPD fast seine gesamte Agenda im Godesberger Programm, bis heute ist die Bundesrepublik außenpolitisch Adenauer-Land.

Platz 2: Kohl

Profiteur und Vollender seiner Politik wurde Helmut Kohl (1982–1998). Ihm gebührt der zweite Platz. Er war kein großer innen- oder wirtschaftspolitischer Reformer und ein durchschnittlicher Kommunikator. Doch bei drei Gelegenheiten zeigte er das, was einen großen Staatsmann auszeichnet: Entschlossenheit, Gefühl für das, was die alten Griechen „kairos“ nannten, den günstigen Augenblick, und Verständnis für die Sorgen internationaler Partner. 

So focht Kohl kurz nach seinem Amtsantritt den Nato-Doppelbeschluss durch, der die Bundesrepublik im westlichen Bündnis hielt und den Druck auf die Falken im Kreml erhöhte. Es folgten Gorbatschows Reformen und der Kollaps des Sowjetimperiums. Als sich daraus die Chance zur Wiedervereinigung ergab, packte der Kanzler beherzt zu – gegen Widerstände bei SPD und Grünen, aber auch vonseiten Großbritanniens und Frankreichs. Als Meisterstreich bettete er die deutsche Einheit ein in eine beschleunigte und vertiefte europäische Integration. Wie bei Adenauer griffen bei Kohl die einzelnen Elemente seiner Außenpolitik nahtlos ineinander, ja ermöglichten und verstärkten sich gegenseitig.

Ebenso leicht wie die Superkanzler sind die beiden Regierungschefs zu bestimmen, die Deutschland am wenigsten prägten. Schon dass sie jeweils nur drei Jahre amtierten, zeigt ihre geringe Strahlkraft. 

Die Letztplatzierten

Der letzte Platz geht dabei, und es bricht einem das Herz, an Erhard. Bei seinem Amtsantritt 1963 waren er und seine Partei, die CDU, nach 14 Regierungsjahren ausgelaugt. Zudem polterte und intrigierte Altkanzler und Noch-Parteichef Adenauer gegen seinen Nachfolger, den er für führungsschwach und zu amerikafreundlich hielt. Obwohl Erhard 1965 einen glänzenden Wahlsieg errang, verflüchtigte sich seine Autorität, als die Bundesrepublik wenig später in ihre erste Rezession rutschte und die Arbeitslosigkeit auf damals unerhörte 2 Prozent stieg. Sein Ende besiegelte der Rücktritt der FDP-Minister, die Steuererhöhungen zum Ausgleich des Haushaltsdefizits nicht mittragen wollten. 

Ihm folgte Ende 1966 Kurt Georg Kiesinger. Er rangiert auf dem vorletzten Platz der Kanzler-Liste. Als Regierungschef der ersten Großen Koalition fungierte er mehr als Verwalter denn als Gestalter der deutschen Politik. 

Das „Momentum“, der Schwung, wie die Amerikaner sagen, war aufseiten der aufstrebenden SPD und ihres jungen Spitzenmanns, Außenminister Willy Brandt. In zentralen Fragen wie der Ost- und Deutschlandpolitik oder der Aufwertung der D-Mark lagen die Auffassungen der beiden Regierungspartner weit auseinander. Die Lehre aus Erhards und Kiesingers Scheitern: Wer die eigene Partei nicht kontrolliert oder mit einem fast gleichstarken Partner koaliert, wird kein großer Kanzler.

Willy Brandt

Jetzt zum schwierigen Part: dem Ranking von Brandt, Schmidt, Schröder und Merkel. Die letzten drei waren Regierungschefs, die von Krise zu Krise getrieben wurden und mehr reagieren mussten, als dass sie agieren konnten. Bei allen vieren gab es Licht und Schatten, sie liegen auf der Leistungsskala eng zusammen, bilden eine eigene Klasse zwischen Super- und Übergangskanzlern.

Platz drei, aber deutlich hinter Adenauer und Kohl, geht an Brandt (1969–1974). Richtig ist, dass er gegen Ende seiner Amtszeit ausgelaugt und führungsmüde war: Unvergessen bleibt der hämische Satz von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner im Sommer 1973: „Der Herr badet gern lau.“ 

Richtig ist, dass Brandt einen schweren Fehler beging, als er 1974 der Lohnforderung der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) von 11 Prozent nachgab und damit eine schädliche Lohn-Preis-Spirale in Gang setzte. Und richtig ist, dass die Stasi den Spion Günter Guillaume als persönlichen Referenten des Kanzlers platzieren konnte, was ihn zum schmählichen Rücktritt zwang. 

Doch dem stehen zwei wichtige Leistungen gegenüber. Die erste, wichtigere, war es, die verstaubte Sozial-, Familien- und Bildungspolitik zu liberalisieren. Unter Brandt sank das Wahlalter auf 18 Jahre, verbesserten sich Bildungs- und Berufschancen für Kinder armer Familien, wurden die gesetzlichen Vorgaben zum Schwangerschaftsabbruch reformiert und Homosexualität entkriminalisiert. 

Seine zweite Großtat war es, die Bundesrepublik, die sich mit ihrer Absage an die US-Entspannungspolitik ins Abseits manövriert hatte, mit seiner Ostpolitik wieder handlungsfähig zu machen und die Lage für die Menschen in der DDR zumindest etwas zu verbessern. Obwohl die Union zunächst gegen diese innen- und außenpolitischen Reformen wetterte, übernahm sie ihren Kern von 1976 an unter ihrem neuen Fraktionschef Kohl.

Deutschlands Darling Schmidt

Auf dem vierten Rang landet Schmidt (1974–1982), der Darling vieler Deutscher. Für jeden Politthriller würde man ihn als Kanzler casten. Sein Auftreten, seine Reden, seine Gesichtszüge strahlten jene Tatkraft aus, die das Publikum bei ihrem Regierungschef ersehnt – gerade während Krisen. Und davon hatte Schmidt jede Menge zu bewältigen: die Öl- und Wirtschaftskrise 1979/1980, die Aufrüstung der Sowjetunion und das Ende der Entspannungspolitik, die Terrorjahre der Roten Armee Fraktion, die im Mord am Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und in der Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu gipfelten. 

Stets führte Schmidt das Land mit Umsicht durch die Wirren. Da er aber den SPD-Vorsitz nicht anstrebte, verlor er die Kontrolle über die Partei, bis sie bei Sparpolitik und Nato-Doppelbeschluss gegen ihn rebellierte und seinen Sturz provozierte.

Gerhard Schröder

Am heikelsten ist die Vergabe der Plätze fünf und sechs. Schröder (1998–2005) und Merkel (2005–2021) sind die jüngsten Amtsinhaber, da fehlt historische Distanz, die sich reinigend auf die Urteilskraft auswirkt. 

Schröder trat oft großspurig und ichbezogen auf, war weniger europa­freundlich als seine Vorgänger und hofierte Unrechtsstaaten wie Russland und China; ewig anhängen wird ihm sein Ja auf die Journalistenfrage, ob er Putin für einen „lupenreinen Demokraten“ halte. Wirtschaftspolitisch tat er in seinen ersten Regierungsjahren wenig, um das träge Land aufzurütteln. Doch 2002 wendete er das Blatt. Vor dem Irakkrieg erkannte er besser als andere, dass die amerikanische Intervention die Region destabilisieren könnte. Mit der Agenda 2010 drückte er gegen Widerstände in seiner eigenen Partei die größte Reform des Sozialsystems und des Arbeitsmarkts der vergangenen 30 Jahre durch. Sie trug wesentlich dazu bei, dass Deutschland, um die Jahrhundertwende oft als „der kranke Mann Europas“ verspottet, viele neue Jobs schaffen und die Arbeitslosigkeit in den folgenden 15 Jahren halbieren konnte.

Angela Merkel

Bleibt Merkel. Ihre Leistung ist besonders schwer einzuschätzen, musste sie doch drei ihrer vier Amtsperioden mit der SPD koalieren, die sich ihren Regierungseintritt inhaltlich teuer bezahlen ließ. Innenpolitisch blieb unter Merkel viel Klein-Klein, für große Initiativen fehlten Wille und Kraft. Die beiden Ausnahmen sind die Energiewende nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 und das Offenhalten der Grenzen angesichts der Massenimmigration 2015. 

So populär beide Entscheidungen waren, so hoch sind ihre Kosten: Deutschland zahlt heute die höchsten Strompreise in Europa und erschwert mit dem Nuklear-Aus effektiven Klimaschutz. Und die Nation wird Jahrzehnte und Hunderte Milliarden Euro benötigen, um die eineinhalb Millionen Flüchtlinge zu integrieren. In der Pandemie dagegen erwies sich Merkel mit ihrem No-Nonsense-­Regierungsstil als Glücksfall. 

Außenpolitisch hat es die Kanzlerin geschafft, die EU während Verfassungs- und Eurokrise zusammenzuhalten, doch konnte sie der Integration kaum Impulse verleihen. Indem sie auf Nordstream 2 selbst nach dem russischen Überfall auf die Ukraine beharrte und das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ignorierte, praktizierte sie eine „Germany First“-Politik, die wirtschaftliche Eigeninteressen vor multilaterales Handeln stellte. 

Der Super-Bastel-Kanzler

Nach 16 Jahren Merkel ist die Bundeswehr nur bedingt abwehr- und bündnisfähig und der Elan weitgehend versiegt, Diktatoren wie Putin, Xi oder Erdogan auf der Werteebene entschieden entgegenzutreten. Es herrschen Ambitionslosigkeit und intellektuelle Unterforderung der Wähler. 

Doch die Kanzlerin regiert mit Ernst, ohne Präpotenz oder Allüren und ist international hoch angesehen – alles Dinge, die man mit Schröder nicht unbedingt assoziiert. Der malträtierte 2005 sogar die Verfassung, um Neuwahlen durchzusetzen. Deshalb: Platz fünf an Merkel, Platz sechs an Schröder. 

Am praktischsten wäre es, könnte man sich den Superkanzler wie eine Playmobil-Figur zusammensetzen. Sie hätte den Weitblick Adenauers, die Standfestigkeit Kohls, den Aufbruchsgeist Brandts, den kühlen Kopf Schmidts, die Integrität und Seriosität Merkels und die Chuzpe Schröders.

 

Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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