Prowestlich und prokapitalistisch - Deutschland braucht einen neuen Konservatismus

Kolumne Grauzone: Konservativ zu sein ist wieder „in“. Der linksliberale Zeitgeist macht aus dem einst Verstaubten plötzlich einen Zufluchtsort für Querdenker. Doch um wirklich zukunftsfähig zu werden, muss sich der Konservatismus neu erfinden

Heute kaum vorstellbar: der konservative Moderator Gerhard Löwenthal / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Der Konservativismus erlebt eine Renaissance – könnte man meinen. Europaweit feiern konservative Parteien Wahlerfolge. Konservative Stichworte wie „Tradition“, „Volk“ und „Nation“ sickern wieder in die politische Semantik ein. Und anders als noch vor zehn Jahren ist es heutzutage wieder salonfähig, konservativ zu sein oder sich als Konservativer zu bezeichnen.

Was den neuen Konservativismus besonders anziehend macht, ist das Subversive, das ihm anhaftet. Seit seiner Erfindung, also seit der Französischen Revolution, galt der Konservativismus als muffig und verstaubt. Konservativ waren immer die Etablierten und die Eliten. Doch Privilegierte, die sich ängstlich an ihre Stellung klammern, sind alles andere als sexy. Entsprechend uncool war es stets, konservativ zu sein.

Konservativ zu sein ist heute revolutionär

Anders die aktuelle Situation. Spätestens seit den neunziger Jahren herrscht in Politik, Medien und Kulturbetrieb ein dezidiert linksliberaler Zeitgeist. Konservative Gestalten wie der verstorbene ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal sind in der heutigen Rundfunklandschaft unvorstellbar – was im Übrigen ein Jammer ist, denn Medien brauchen Vielfalt.

Entsprechend hat sich die gesellschaftliche Ausganglage des Konservativismus geändert. Vom Mainstream der Etablierten hat er sich seit den achtziger Jahren nach und nach zu einer Position der Randständigen, der Querdenker und Widerspenstigen gewandelt. Das macht notwendigerweise attraktiv. Paradoxerweise umweht dem Konservativismus nunmehr die Aura des Revolutionären und Unangepassten.

Unattraktiv nach dem Wirtschaftswunder

Dieser Wiederaufstieg des Konservativismus ist nicht zu verstehen ohne seinen Niedergang. Der klassische Konservativismus war eng verbunden mit jener Klassengesellschaft, die im Zweiten Weltkrieg unterging und deren letzte Refugien von den sozialen Entwicklungen der sechziger Jahre weggefegt wurden. Zudem profitierten große Teile der Bevölkerung Europas erheblich von dem Fortschritt der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Die Gesellschaft wurde sozial durchlässiger, Frauen emanzipierten sich von den traditionellen Rollenbildern, der permanent steigende Wohlstand ermöglichte einen individualisierten Lebensstil.

In diesem Klima andauernder Verbesserung galten Konservative als Spielverderber, als griesgrämige Ewiggestrige, die die Zeichen der Zeit nicht erkannten und ein dunkles Gestern gegen das helle Morgen verteidigten. Eine unattraktive Position.

Idealismus ist aus der Zeit gefallen

Das hat sich grundlegend gewandelt. Ein helles Morgen versprechen heute nur noch ein paar unverbesserliche Silicon-Valley-Ideologen. Ansonsten hat sich Ernüchterung breit gemacht, vielleicht sogar Pessimismus. Zu erreichen gibt es kaum noch etwas, umso mehr aber zu verlieren.

Hinzu kommt, dass die alten linksliberalen Gesellschaftsutopien ausgelaugt wirken. Eine Mehrheit hatten sie ohnehin nie. Sie wurden jedoch geduldet, solange sie an das Versprechen von Sicherheit und Prosperität gekoppelt waren. Doch diese Zusage ist brüchig geworden. Internationalismus und Multikulturalität gelten nicht länger als hinzunehmende Garanten des Wohlstandes, sondern als dessen Bedrohung, das linksliberale Heilsversprechen einer zusammenwachsenden Welt als Produkt gefährlicherer Weltverbesserei.

Intellektuelle Skepsis

In dieser historischen Situation ist das Aufkommen eines neuen Konservativismus fast zwangsläufig. Erstmals in seiner zweihundertjährigen Geschichte steht der Konservativismus jedoch gegen die etablierten Institutionen. Eine komplett neue Situation, mit weltanschaulichen Folgen: Konnten Konservative vergangener Zeiten als Vertreter des Establishments darauf pochen, das Gegenwärtige erhalten zu wollen, so müssen sich die neuen Konservativen notgedrungen revolutionär geben: Sie müssen verändern und die aktuellen Zustände beseitigen wollen – ein ideologisches Dilemma, umso mehr, als ein reaktionäres „Zurück!“ auch keine handhabbare Lösung bietet.

Unsere Gesellschaft braucht konservative Kräfte. Um des gesellschaftlichen Ausgleichs willen. Vor allem aber, weil Konservativismus immer für intellektuelle Skepsis stand – unverzichtbar in einer Gesellschaft, in der jede neue Smartphone-Generation zum Heilsbringer hochgejubelt wird.

Rückkehr zu alten Denkmustern nicht möglich

Zugleich muss sich der Konservativismus neu erfinden, da es eine Rückkehr zu den antiwestlichen, antiaufklärerischen und antikapitalistischen Denkmustern des altdeutschen Konservativismus nicht geben kann. Mit den Schriftstellern Ernst Jünger oder Armin Mohler als Säulenheilige wird der deutsche Konservativismus eine Lachnummer bleiben.

Eine Zukunft wird konservatives Denken nur dann haben, wenn es sich an der prowestlichen und prokapitalistischen Tradition des angelsächsischen Konservativismus orientiert. Notwendig wäre das und wünschenswert obendrein. Denn an nichts mangelt es dem aktuellen politischen Diskurs so sehr wie an Vertretern eines intellektuell redlichen Konservativismus.

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