Programm der SPD - Alte Tante mit schlechtem Gedächtnis

Kisslers Konter: Die SPD entdeckt die Innere Sicherheit als Wahlkampfthema. Der Schwenk nach rechts ist ebenso unglaubwürdig wie das Bekenntnis zum freiheitlichen Internet. Aus beiden spricht ein gedanklicher Kontrollverlust

Kurswechsel bei der SPD: Wo lagen denn nochmal die Kernthemen? / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Es gibt ihn doch, den Schulz-Effekt. Der Entwurf zum Wahlprogramm der SPD wartet mit einer Fülle marktplatztauglicher Merksätze auf, wie geschaffen für den Mund einer rheinischen Frohnatur, eines Hoffnungsträgers in der Warteschleife, mal mit, mal ohne Ausrufezeichen: „Stadt und Land gehören zusammen!“, „Schulen müssen strahlen“,  „Wir sorgen für sichere Arbeit“,  „Wir wollen, dass die Menschen in Deutschland sicher leben können“, „Muslime und der Islam sind Teil unseres Landes“. Ansonsten ist das Programm durchgegendert und detailreich, nirgends sozialistisch, über- und unterambitioniert zugleich. Und von bemerkenswerter Chuzpe.

SPD hat die Unternehmen entdeckt

Es mag nur ein kleiner Fortschritt in der Geschichte der Sozialdemokratie sein, dass es neben den „Bürgerinnen und Bürgern“ jetzt auch „Straftäterinnen und Straftäter“ geben darf, „Antidemokratinnen und Antidemokraten“ und sogar „Islamistinnen und Islamisten“. Die Genderforschung wird es dankbar vernehmen. Gewichtiger ist die Abkehr von sozialistischen Großexperimenten, wodurch, nimmt man Worte für bar, eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen sein müsste. Streckenweise liest sich das Programm so, als sei Christian Lindner Martin Schulz im Schlaf erschienen und habe ihn mit dem Bannspruch belegt, nun möge auch Schulz den „innovativen Mittelstand“ loben, eine „Kultur des Mutes“ und einen neuen Gründergeist fordern, einschließlich einer „Kultur der nächsten Chance“, die bei Lindner übrigens „Kultur der zweiten Chance“ heißt, und er, Schulz, möge im FDP-Sound festhalten lassen: „Unternehmen sollen sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können und nicht auf das Ausfüllen von Formularen“; Bürokratieabbau sei machbar.

Aus Gesinnungspolitik wird „Null-Toleranz-Politik“

Misst man hingegen andere Passagen mit derselben gesinnungspolitischen Elle, die weite Teile des rot-grün-dunkelroten Bewusstseinsapparats an die AfD anlegen, dann wurde die Sozialdemokratie des Rechtspopulismus fette Beute. Wir lesen tatsächlich: „Ausländerinnen und Ausländer, die schwere Straftaten begehen, sollen nach Verbüßung ihrer Strafe unverzüglich abgeschoben werden“ – nicht zurückgeführt oder zur Ausreise bewogen, nein, abgeschoben werden. Ist diese Formulierung nicht schon Hassrede? Eine „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Islamisten gelte es durchzusetzen, „extremistische islamistische Moscheen“ müssten geschlossen werden. An den Außengrenzen dürfe es keine „illegalen Grenzübertritte“ geben, „Kriminelle und Terroristen dürfen nicht in die Europäische Union gelangen“. Kraftvoller lässt sich das linke Dreifachdogma, kein Mensch sei illegal, Mauern schützten nicht, Grenzen gehörten ins 20. Jahrhundert, nicht durchstreichen. Im Entwurf kommen Prägungen mit dem Bestandteil „gerecht“ 66-mal, jene mit dem Wortkern „sicher“ 216-mal vor.

Man liest, zieht die Stirn in Falten und liest noch einmal: Woher kommt der plötzliche Heldenmut? Wirkt am Ende doch die ungeliebte Konkurrenz rechts außen, zu der sich mancher SPD-Wähler flüchtete? Lehren Wahlniederlagen Demut vor dem Faktischen? Bisher waren es SPD-geführte Landesregierungen, die im Bundesrat die Abschiebung kriminell gewordener Ausländer blockierten. Bisher war es Martin Schulz, der in Eingewanderten nur hilfsbedürftige Flüchtlinge sah, „mehr wert als Gold“, und bisher waren es SPD-Granden wie Bundesjustizminister Heiko Maas, die jeden Hinweis auf den Zusammenhang von Migration und Kriminalität als Meinungsverbrechen abtaten. Ist der Kurswechsel unter laufendem Rad also Chuzpe, dreist oder nur komisch? Wenn, wie es auf Seite 44 heißt, „Wahlkämpfe und Wahlen Festtage der Demokratie“ sind, dann können es auch Jubeltage wider den tierischen Ernst sein.

Umstrittenes Netzwerkdurchsetzungsgesetz

Kaum anders ist das Bekenntnis zu werten, die SPD wolle die „freiheitliche und offene Architektur“ des Netzes „erhalten und ausbauen“. Soweit die Theorie. Praktisch arbeitet in diesen Tagen ein mit der Materie überforderter Justizminister an einem juristisch fragwürdigen „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“, das von Internetzensur kaum zu unterscheiden ist und im parlamentarischen Schweinsgalopp durchgepeitscht werden soll. Der Vorwurf an das SPD-Parteivorstandsmitglied Maas, er betreibe Demokratieverachtung, ist nicht aus der Luft gegriffen. Wird Maas nun die SPD verlassen oder sich vom SPD-Parteiprogramm distanzieren? Oder ist das Eine Lyrik, die der Wind schon bald in die Urne trägt, und das Andere eben Politik, die Schnittmenge aus Gestaltungswille und Gestaltungsmacht, ohne moralisches Getue?

Die Leitkulturdebatte, dieses Zentralorgan öffentlicher Moralbildung, fand keinen Eingang. Das kann man klug oder blamabel nennen. So überambitioniert das Programm an vielen Stellen ist – man will ein „Völkerrecht des Netzes“ statuieren, „Urbanisierungspartnerschaften“ mit Entwicklungsländern gründen und „unser humanitäres Engagement ausbauen“ – so kleinteilig, kleingeistig, defensiv sind die normativen Ansprüche an „unser Land“. Gewiss, eine verstärkte Polizei soll den Rechtsstaat sichern, Menschenrechte seien nicht verhandelbar. Ansonsten erlebt der Verfassungspatriotismus, dieses hölzerne Eisen, ein Comeback: „Die ersten 20 Artikel unseres Grundgesetzes sind für uns die Basis unseres gemeinsamen Zusammenlebens.“ Und: „Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft, die auf gemeinsamen Werten und Normen beruht. Grundlage für alle ist das Grundgesetz.“ Causa finita?

Multikultureller Verfassungspatriotismus funktioniert nicht

Keineswegs. Nun erst begönnen die Mühen der programmatischen Ebene. Aus dem Grundgesetz folgen nicht unmittelbar Werte und folgt nicht unbedingt die Hausordnung für Deutschland. Das Grundgesetz, darauf hat gerade der Philosoph Klaus Held hingewiesen, ist nichts anderes als eine „regionale Anwendungsbestimmung der für alle Menschen geltenden Menschenrechte“. Dass Zuwanderer diesen zustimmen, ist notwendig, aber längst nicht hinreichend. „Unser Land“ – neunmal wird es im SPD-Programm direkt angesprochen – hat Besonderheiten, die es hier und nur hier gibt. Held spricht von kulturprägenden Sitten oder Gewohnheiten und folgert: Der „multikulturell denkende Verfassungspatriotismus“ überlasse es komplett den Zuwanderern, „ob oder inwieweit sie unsere geschichtlich gewachsenen kulturtragenden Gewohnheiten respektieren oder vernachlässigen“. So können unter verfassungspatriotischen Vorzeichen die im Entwurf gelobten „migrantischen Communities“ natürlich wachsen. Es wächst gerade nicht der von der SPD seitenlang beschworene „Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft“. 

Genau aus diesem Grund ist der Entwurf ein Programm ohne Programmatik. Um es ins Marktplatzdeutsch zu übersetzen: Die alte Tante SPD, sie redet laut, sie redet gern, nur mit dem Sehen hapert’s. Und manchmal ist sie vergesslich.

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