Pro und Contra: Soll der Begriff „bürgerlich“ ins Grundsatzprogramm der CDU? - Pro: Der Kern unserer Politik

Die Christlich-Demokratische Union will sich ein neues Grundsatzprogramm geben. Gestritten wird noch darüber, ob darin das „Bürgerliche“ als eine der Säulen der CDU betont werden soll. Auf jeden Fall, meint der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban. Denn bürgerlich sei jeder Mensch, der nicht zuerst nach dem Staat fragt, sondern im Sinne von Freiheit, Eigenverantwortung und Gemeinsinn leben will.

Es waren Bürgerliche, die 1848 in der Frankfurter Paulskirche über eine freiheitliche Verfassung berieten / dpa
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Tilman Kuban ist Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands und Mitglied im CDU-Bundesvorstand.

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Gestern argumentierte der Sozialpolitiker Matthias Zimmer an dieser Stelle gegen den Begriff der Bürgerlichkeit im Grundsatzprogramm der CDU.

Nach der Wahl habe ich gesagt: In der CDU darf kein Stein auf dem anderen bleiben. Im Zuge des Programmprozesses exerziert die CDU gerade diese Inventur des christdemokratischen Tafelsilbers – es wird jeder Stein des Hauses angesehen, gewogen, sortiert und vielleicht auch ausgemustert. Es geht um die große Frage: Welche Antworten gibt unser Wertegerüst auf die Herausforderungen von heute? Denn im Gegensatz zu ideologisch getriebenen Parteien lässt sich die CDU von Werten leiten und misst daran neue Fragestellungen. Wir Konservativen müssen uns daher immer wieder hinterfragen.

Ein Begriff, um den gerungen wird, ist die Bürgerlichkeit. Die Meinungen gehen auseinander: Für die einen ist die Idee tradiert, ein Relikt aus der Zeit der rustikalen Eichenschrankwand und Häkeltischdecke. Für mich und viele andere verkörpert sie den Kern unserer Politik. Um das zu verstehen, muss man zuerst seine Vorurteile über Bord werfen. Ein bürgerliches Monopol findet sich heute weder in den Eckkneipen noch den Konzerthäusern der Republik. Keine Altersgruppe, Einkommensklasse oder Religion hat die Bürgerlichkeit allein für sich gepachtet. Bürgerlich ist für mich ganz im Sinne Jean-Jacques Rousseaus jeder Mensch, der sich in unsere Gesellschaft einbringt, der nicht zuerst nach dem Staat fragt, sondern im Sinne von Freiheit, Eigenverantwortung und Gemeinsinn Bürger sein will.

Modernität und Konservatismus verbinden

Bürgerliche sind frei, mündig und selbstbewusst. Wer an den verklemmten, unpolitischen Spießer denkt, ist auf dem Holzweg. Die Bürgerlichen waren immer mehr Speerspitze der Erneuerung als Wasserträger der Reaktion. Sie zogen 1848 in die Paulskirche, haben in Weimar die Republik begründet und nach der Katastrophe des Nationalsozialismus den demokratischen Neuanfang gewagt. Sie haben mit den Alliierten eine neue Weltordnung ausgehandelt, mit der EU den Grundstein für 70 Jahre Frieden in Europa gelegt und nie den Glauben an die Wiedervereinigung verloren.

Die Zeit des politischen Klein-Kleins ist spätestens seit dem 24. Februar 2022 vorbei. Es gilt wieder einmal, die historischen Weichen als Bürgerliche zu stellen. Dabei müssen wir Modernität und Konservatismus verbinden. Denn wir befinden uns in einem Kampf der Systeme zwischen Autokratie und Demokratie, in dem es keinen Platz gibt für Schwarz-Weiß-Denken des „Entweder-oder“. Jetzt ist das verbindende „und“ gefragt. Dabei leiten Bürgerliche die Werte von Eigenverantwortung und Solidarität, Freiheit und Pluralismus, Humanität und Ordnung, Heimat und Hightech sowie Sicherheit und Zusammenhalt.

Es wird an den Bürgerlichen liegen, zu zeigen, dass sich Eigenverantwortung und Solidarität nicht ausschließen, sondern ohne einander nicht auskommen. Der Bürgerliche will erst einmal für sich und seine Familie sorgen, ist aber solidarisch mit denen, die sich nicht selbst helfen können. Nur wenn der Mensch nach mehr strebt und der Staat ihm die Rahmenbedingungen für seinen eigenen Aufstieg ermöglicht, wird der Aufstieg des Landes gelingen. Doch dieser wird mehr und mehr ausgebremst. War es früher für den Mechaniker und die Krankenschwester möglich, gemeinsam ein Reihenhaus zu erwerben, scheint dies bei den aktuellen Immobilienpreisen vorbei. Das kann eine bürgerliche CDU nicht ruhen lassen. Denn der Aufstieg des Bürgertums ist seit jeher mit der Eigentumsbildung eng verbunden.

Gegen Fremdenfeindlichkeit und Identitätspolitik

Auch den Abschottungsfantasien der linken und rechten politischen Ränder stellt sich das Bürgertum entgegen. Freiheit und Pluralismus machen dem Mündigen keine Angst, sondern beflügeln ihn. Soziale Monokulturen, wie sie die Linken in ihren gentrifizierten Szenevierteln oder die Rechten in ihrer Fremdenfeindlichkeit suchen, sind den Bürgerlichen fremd. Denn erst ihr Selbstbewusstsein macht die Idee einer offenen Gesellschaft möglich. Daher rührt die bürgerliche Abneigung gegenüber der Identitätspolitik. Wir wollen eine pluralistische Gesellschaft, die harte Debatten um die besten Lösungen führt, andere Meinungen zulässt, in der das beste Argument zählt.

Auf die Erosionserscheinungen in unserer Gesellschaft braucht es eine bürgerliche Antwort. Nur das Einbringen in die Gemeinschaft kann soziale Fliehkräfte abmildern. Ob dies in Vereinen, Kirchen, der Familie oder Politik passiert, ob man im Diskurs Brücken baut – das Bürgerliche schafft Zusammenhalt und gibt Sicherheit.

Wer also die Axt ans Bürgertum legt, legt sie an unsere Aufstiegsgesellschaft. In der freiheitlichen Demokratie wird jeder Einzelne, der aktiv daran teilnimmt – durch Engagement, Diskurs und Gesicht-Zeigen – zum Bürger, zum Bürgerlichen. Den Gedanken „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst!“ zu stärken, das ist seit über 75 Jahren Kernanliegen der CDU. Wir mögen mal konservativer, mal liberaler, mal sozialer sein, aber eines bleiben wir in jedem Fall: im besten Sinne bürgerlich.

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