Pressekonferenz mit Angela Merkel - Tomatenmark hamstern

Jedes Jahr lädt die Kanzlerin zur Pressekonferenz im Sommer. Harte Fragen muss sie selten fürchten. Diesmal ging es besonders innig zu. Merkel überraschte nur einmal – mit einer skurrilen These zur ostdeutschen Mentalität

Routiniert stellte sich Angela Merkel auch dieses Jahr den Fragen der Journalisten / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die Sommerpressekonferenz mit Angela Merkel heißt so, weil mit ihr der Sommer im politischen Berlin ausgerufen wird und damit freie Zeit für Hirn und Gemüt. Dann und wann ereignet sich dennoch Bemerkenswertes. Im Juli 2016 beharrte die Willkommenskanzlerin: „Wir schaffen das, und wir haben im Übrigen in den letzten elf Monaten sehr, sehr viel bereits geschafft. (…) Wir arbeiten, um Freiheit und Sicherheit in eine Balance zu bringen und damit sicherzustellen, dass wir unsere Art zu leben auch weiter leben können.“ Im Juli 2018 klang es gar so, als stellte die Kanzlerin Rechtsstaatlichkeit unter Vorbehalt: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen werden und da, wo immer das notwendig ist, auch tun.“ Am 19. Juli 2019 hingegen herrscht gutes Klima auf allen Plätzen. Der nahende Abschied taucht Merkels letzte Monate in mildes Licht.

Im Saal der Bundespressekonferenz versammelt waren Journalisten in dreistelliger Zahl, von denen die Kanzlerin eher nichts zu befürchten hatte. Ausländische Kollegen fragten nach Spezialthemen zwischen kosovarischer Visumsfrage, iranischem Atomabkommen, italienischen Ermittlungen und griechischer Regierungsbildung. Merkels routinierte Antworten lassen sich in ihrem Bonmot zusammenfassen: „Die Realität ist oft anders, als ich es mir wünschen würde.“ Ob das nun für Merkel oder für die Realität spricht, sei dahingestellt. Wahr ist auf jeden Fall: „Sie kennen mich ja schon eine Weile.“ Da lachten und schmunzelten Journalisten reihum.

Wechselseitige Kenntnis freilich schützt vor Überraschungen nicht, und so galt der Schmunzelsatz einem ernsten Thema, Merkels Gesundheit. Sie wisse, dass es ihre Verantwortung sei, „handlungsfähig“ zu bleiben, und sie habe ein persönliches Interesse, sich auch „nach dem Abschluss meiner politischen Arbeit“ im Jahr 2021 bester Gesundheit zu erfreuen. Wer sie munter und tiefenentspannt wie ehedem neunzig Minuten da sitzen sah und reden hörte, nahm es ihr ab. Vielleicht wird sich die öffentliche Krankenakte Merkels über die drei Zitteranfälle hinaus nicht vergrößern.

Merkels Phrasenstrand

Hauptthema war lange, natürlich, die Frage nach dem Weltklima und Deutschlands Beitrag. Auf diesem Feld sind die Interessen der meisten Journalisten und die Witterungskünste eines politischen Vollprofis wie Merkel deckungsgleich. Sie lobte die „Ernsthaftigkeit“ der jugendlichen Proteste, äußerte sich nicht zur Verhältnismäßigkeit des Schulboykotts und plädierte für eine sozial verträgliche Bepreisung von CO2 unter der rhetorisch üblichen Bedingung, „das muss sehr wohl durchdacht sein“ und „vernünftig nach allen Seiten abgeklopft werden“. Man arbeite „mit Hochdruck“ daran, wolle aber „die Menschen auch mitnehmen.“ An Merkels Phrasenstrand herrscht niemals Ebbe.

Die Zeichen einer „konjunkturellen Eintrübung“ sind bis zur Kanzlerin vorgedrungen. Ihre Gegenmittel lauten: ein verstärkter Einsatz für verlässliche Handelsbeziehungen, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, die Reduzierung des Solidaritätszuschlags zur Ankurbelung des „Binnenkonsums“ und schließlich die Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland – „das wird sich positiv auf die Stimmung auswirken.“ Das war es dann schon. Wenn gute Laune eine gute Konjunktur hervorbringt, muss einem um Deutschlands ökonomische Zukunft nicht bange sein.

Migration, das Topthema der Sommerpressekonferenz von 2016, wurde kaum gestreift, nur gestreichelt. Merkel lobte die Maßnahmen der eigenen Koalition, Rückführungen zu forcieren und die „Steuerung der Migration“ zu verbessern. Unerwähnt blieb die desillusionierende Nachricht vom Mittwoch dieser Woche, wonach laut Bundespolizei weniger als die Hälfte der rechtskräftigen Abschiebungen auch durchgeführt werden. Bemerkenswerterweise sprach die Kanzlerin erst von „Flüchtlingen oder Migranten“, später, bezogen auf Libyen, nur noch von „Migranten“.

Zuviel guter Wille

Handelt es sich also bei den meisten Menschen an Bord der Rettungsschiffe im Mittelmeer um Personen ohne Asylanspruch? Dass die Initiative des Bundesaußenministers, in Europa ein „Bündnis der Hilfsbereiten“ zu organisieren, gerade krachend gescheitert ist, war der Kanzlerin keinen Seufzer wert. Ein heute wiederholter Standardsatz Merkels lautet schließlich: „Es liegen noch viele Aufgaben vor uns.“ 

In einer Welt voller Aufgaben und Herausforderungen – seit 2005 Merkels Lieblingsbegriffe – ist es gut, wenn das Menschliche nicht zu kurz kommt. Journalisten teilen dieses Bedürfnis und erkundigten sich heute im Tonfall besorgter Nachredner nach dem „Gefühl“ Merkels angesichts dieser oder jener Entwicklung, wie sich etwas „anfühlt“, und wurden mit einem schönen Kalenderspruch belohnt: „Da, wo ein guter Wille ist, haben sich auch immer Wege gefunden.“ Und mit dem skurrilen Bekenntnis, die Ostdeutschen seien besonders gut darin gewesen, „Tomatenmark zu hamstern“ oder Winterkleidung im Sommer zu kaufen, „und viele dieser Fähigkeiten, durchs Leben zu kommen, sind heute nicht mehr notwendig.“ Das habe zu „mentalen Verletzungen“ geführt, bis heute. Gibt es also einen Mangel an Mangelwirtschaft? Ist der Jammerossi zurück auf der großen politischen Bühne?

Zuviel guter Wille ist der Tod jeder Spannung, und so erschöpfte sich an diesem 19. Juli 2019 das innige Verhältnis von Kanzlerin und Journalistenschar. In einer letzten Aufgipfelung war man noch einmal ganz besonders lieb zu einander. Man weiß ja nicht, wie lange man sich noch hat. Ob es bei der nächsten Sommerpressekonferenz Streuselkuchen gibt?

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