Politischer Machterhalt - Kanzlerstürze

Die Geschichte der deutschen Bundeskanzler ist eine Geschichte von Macht und Sucht und von erzwungenen Abgängen

Erschienen in Ausgabe
Kaum jemand prognostizierte Angela Merkel eine komplette Amtszeit / picture alliance
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Gregor Schöllgen lehrt Neuere Geschichte in Erlangen und ist der Biograf von Willy Brandt und Gerhard Schröder.

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Keiner ging zur rechten Zeit. Keiner verließ das Amt aus freien Stücken. Man kann das verstehen. Macht führt zu Sucht, und Sucht führt zu Entzug – früher oder später, aber unausweichlich. Jedenfalls in der Politik. Und weil alle Bundeskanzler dies wussten, weil sie ahnten, welche Entzugserscheinungen der Verlust der Macht und ihrer Insignien nach sich ziehen würde, ging keiner freiwillig. Alle wurden auf die eine oder andere Weise zum Abgang gezwungen.

Die FDP bezwang Adenauer

Auch Konrad Adenauer. Dabei war der Christdemokrat schon 73, als er im August 1949 mit einer Stimme Mehrheit zum ersten Kanzler der gerade gegründeten Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde. Weil aber nach drei Legislaturperioden kaum mehr jemand die Verdienste dieses Mannes, allen voran die feste Verankerung des westdeutschen Teilstaats in der freien Welt, infrage stellte, schloss Adenauer eine angemessene Fortsetzung seines Lebenswerks durch einen Nachfolger aus. Da spielte Wirklichkeitsverlust, wie er bei langer Verweildauer in solchen Ämtern nicht selten anzutreffen ist, eine Rolle, aber auch der Glaube, unersetzbar zu sein. Bei Helmut Kohl war das ähnlich, bei Angela Merkel deutet es sich an.

Also wurde Adenauer gezwungen, vor allem vom einzigen denkbaren Koalitionspartner, von der FDP. Im Herbst 1961 verloren CDU und CSU bei der Bundestagswahl die absolute Mehrheit, mit der sie zuvor vier Jahre regiert hatten. Die Freien Demokraten waren in einer starken Position. Die Alternative, eine Große Koalition, konnten sich die meisten Christdemokraten, von den Sozialdemokraten gar nicht zu reden, damals noch nicht vorstellen. Daher machte die FDP den Rücktritt des Kanzlers während der laufenden Legislaturperiode zur Bedingung für eine Zusammenarbeit. Fortan war Adenauer ein Kanzler auf Abruf, und nachdem die sogenannte Spiegel-Affäre ihn weiter geschwächt hatte, stand fest: Im Herbst 1963 hatte der Patriarch seinen Hut zu nehmen.

Der Sitz im Parlament bleibt

Was folgte, machte Schule. Einerseits wuchs der Respekt vor dem Mann in dem Maße, in dem seine Kanzlerschaft in die milde Dämmerung der Geschichte eintauchte. Bei allen Nachfolgern, von Kurt Georg Kiesinger vielleicht abgesehen, war es ähnlich. Bei den einen, wie Adenauer, geschah das früher, bei anderen, wie Gerhard Schröder, später. Andererseits behielt Adenauer seinen Sitz im Parlament – und damit die Möglichkeit, dem Nachfolger gegebenenfalls sein Leben schwer zu machen. Auch das haben bis auf Gerhard Schröder alle Nachfolger so gehalten.

Konrad Adenauer hat es dem wenig glücklichen Ludwig Erhard nie verziehen, dass er ihn beerbte. Vergleichbares meinten später manche im Verhältnis Willy Brandts zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt zu beobachten. Im Falle des greisen Konrad Adenauer war es so, dass er keine Gelegenheit ungenutzt ließ, um allen, die es hören wollten oder auch nicht, die Unfähigkeit seines langjährigen Wirtschaftsministers zu demonstrieren.

Dafür bedurfte es nicht einmal besonderer taktischer Finessen, denn tatsächlich war kein zweiter Kanzler mit dem Amt so überfordert wie der Vater der D-Mark und des deutschen Wirtschaftswunders – von Willy Brandt in seiner letzten Amtsphase einmal abgesehen. In der Bevölkerung war Erhard, der spät der CDU beigetreten war und erst im März 1966 den Parteivorsitz übernahm, durchaus populär. Dass die Unionsparteien bei der Wahl im Herbst 1965 nur knapp die absolute Mehrheit verfehlten, war ganz wesentlich sein Verdienst. 

Mit dem Rücken zur Wand

Aber dann holten Ludwig Erhard die äußeren Umstände ein. In einer solchen Situation zeigt sich, wie es um das Nervenkostüm eines Kanzlers oder auch einer Kanzlerin bestellt ist. Und wie virtuos – oder eben nicht – sie mit der Macht umzugehen vermögen, wenn sie politisch mit dem Rücken zur Wand stehen. Im Falle Erhards waren es vor allem die erste Rezession in der noch jungen Geschichte der Republik und der massive wirtschaftspolitische Druck der Amerikaner, die ihn in die Knie zwangen. Seine Gegner beim liberalen Koalitionspartner und vor allem in den eigenen Reihen hatten jetzt ein leichtes Spiel. Erst demissionierten die FDP-Minister, dann einigten sich CDU und CSU auf einen Nachfolger. Erhard hatte an jenem 10. November 1966 noch nicht einmal seinen Rücktritt ankündigen können. Sein Sturz zählt zu den schäbigsten dieser Art.

Kurt Georg Kiesinger ging als Sieger aus diesem von ihm so genannten „Auseiterungsprozess“ hervor. Der langjährige baden-württembergische Ministerpräsident war mit einer beträchtlichen parlamentarischen und administrativen Erfahrung ausgestattet. So gelang es ihm, die erste Große Koalition mit einigem Erfolg bis zum regulären Wahltermin im Jahr 1969 zu führen.

Zu erwarten war das nicht unbedingt. Immerhin saßen am Kabinettstisch mit dem ehemaligen Kommunisten Herbert Wehner und dem vormaligen Linkssozialisten Willy Brandt zwei Exilanten, und Kiesinger wiederum war der einzige Bundeskanzler, dem wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und wegen seiner Tätigkeit in der Rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes eine Verstrickung in den Nationalsozialismus nachgesagt werden konnte. Zugleich standen auf der Agenda der Großen Koalition heikle Themen wie die Notstandsgesetzgebung, die der Kanzler gegen erhebliche, vor allem außerparlamentarische Widerstände realisierte.

Sozialliberale Koalition wagen

Kiesinger konnte sich am Wahlabend des 28. September 1969 also begründete Hoffnung auf eine Fortsetzung seiner Kanzlerschaft machen. Dafür sprachen auch die Hochrechnungen. In der CDU-Parteizentrale knallten bereits die Sektkorken, und erste Gratulanten wie der amerikanische Präsident meldeten sich telefonisch. Dass sich das Bild dann änderte, lag nicht an den mit 1,5 Prozentpunkten marginalen Verlusten der Christdemokraten. Es lag auch nicht am dramatischen Einbruch der FDP, die fast 40 Prozent der Stimmen verlor, sondern an deren Entschluss, dem Werben der merklich gestärkten SPD nachzugeben und eine sozialliberale Koalition auf Bundesebene einzugehen.

Auch an diesem dritten Kanzlersturz in Folge waren somit die Freien Demokraten unmittelbar beteiligt. Es war nicht der letzte dieser Art. Dem Abgang Helmut Schmidts ging gleichfalls ein Seitenwechsel der Liberalen voraus. Deren starke Stellung erklärte sich aus dem lange Zeit stabilen parlamentarischen System der Bundesrepublik. Das kannte bis 1983, als die Grünen erstmals in den Bundestag einzogen, lediglich drei Parteien, sofern man CDU und CSU und ihre gemeinsame Fraktion als eine geschlossene Machtformation betrachtet. Kein Wunder, dass der FDP der Ruf einer „Umfallerpartei“ vorauseilte; kein Wunder auch, dass ihr viele nach dem parlamentarischen Exitus bei der Bundestagswahl 2013 keine Träne nachweinten.

Gegner aus den eigenen Reihen

Willy Brandt war der erste Sozialdemokrat im Kanzleramt und einzige Friedensnobelpreisträger der Bundesrepublik Deutschland. Dass sich das Osloer Nobelpreiskomitee im Oktober 1971 für ihn entschied, war auch ein Signal an die deutsche Politik. Mit seinem Entschluss, die durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Realitäten in Europa, die staatliche Existenz der DDR inklusive, anzuerkennen, machte sich Brandt in den Reihen der Opposition zum Teil erbitterte Gegner. Ein konstruktives Misstrauensvotum, das erste in der Geschichte der Republik, überstand er am 27. April 1972 denkbar knapp.

Am Ende war es nicht der politische Gegner, der Willy Brandt zum Rücktritt zwang. Es waren die eigenen Leute, allen voran Herbert Wehner, mächtiger Fraktionschef im Bundestag, und Heinz Kluncker, nicht minder mächtiger Vorsitzender der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, die 2001 in Verdi aufging.

Obgleich Brandt bei vorgezogenen Bundestagswahlen im Herbst 1972 das bis heute beste Ergebnis für die Sozialdemokraten eingefahren hatte, wuchsen in deren Reihen die Zweifel an seiner Fähigkeit, die Partei und die Regierung zu führen. Als Wehner im Oktober 1973 in Moskau öffentlich verlauten ließ: „Was der Regierung fehlt, ist ein Kopf“, war klar, wohin die Reise gehen würde. Dass Kluncker im Februar 1974 unter anderem die streikenden Müllmänner gegen die Regierung seines Parteifreunds aufmarschieren ließ, gab dem Kanzler den Rest. Am 6. Mai 1974 trat Willy Brandt, körperlich und seelisch erschöpft und zu diesem Zeitpunkt wohl auch mit dem Amt des Bundeskanzlers überfordert, zurück. Dass man in seinem unmittelbaren Umfeld einen DDR-Spion enttarnt hatte, war nicht mehr als ein äußerer Anlass.

Gefährlicher Stimmungsumschwung

Richtig ist, dass der zunehmende Unmut in den eigenen Reihen bei sämtlichen Kanzlerstürzen in der Geschichte der Bundesrepublik eine wichtige Rolle gespielt hat. So gesehen war der Stimmungsumschwung, der sich ab Herbst 2015 infolge der Flüchtlingskrise in den Unionsparteien manifestierte, auch für Angela Merkel ein sehr ernst zu nehmendes Moment. Aber in keinem Fall hat die Union so konsequent auf den Sturz eines Kanzlers aus den eigenen Reihen hingearbeitet, wie das die Sozialdemokraten mit ihren Leuten getan haben. Was für Willy Brandt gilt, gilt auch für Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.

Schmidt war aufgrund vielfältiger politischer Funktionen in seiner Heimatstadt Hamburg, in der Bonner Bundestagsfraktion und in der Regierung Brandt auf das Amt vorbereitet wie kaum ein Zweiter. Andererseits hatte er ein Handicap. Er ist bis heute der einzige Bundeskanzler, der nicht wenigstens zeitweilig auch Vorsitzender seiner Partei war. Erhard war es während der letzten Monate seiner Amtszeit, Schröder immerhin fünf Jahre lang. 

Ob Helmut Schmidt die schwere Krise um den Nato-Doppelbeschluss, mit dem das Militärbündnis die sowjetische Hochrüstung im nuklearen Mittelstreckenbereich neutralisieren wollte, andernfalls in den Griff bekommen hätte, sei dahingestellt. So aber heizten ihm die Parteilinken, unter ihnen der junge Bundestagsabgeordnete und vormalige Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder, mächtig ein – gedeckt von Willy Brandt, der zwar das Kanzleramt geräumt, aber wie seinerzeit Konrad Adenauer den Parteivorsitz behalten hatte. Und wie Adenauer nutzte auch Brandt diese mächtige Funktion, um die Demontage seines Nachfolgers zumindest nicht zu verhindern. Einen Unterschied gab es aber doch: Adenauer betrachtete seinen Nachfolger mit Hochmut, wenn nicht Verachtung. Bei Brandt und Schmidt war es umgekehrt.

Notbremse der Liberalen

Geholfen hat es diesem nicht. Im Herbst 1982 lag Helmut Schmidt mit großen Teilen seiner eigenen Partei völlig über Kreuz. Aus Angst, mit der desolaten Kanzlerpartei unterzugehen, zogen die Liberalen die Notbremse. Sie verließen die Regierung und dienten sich dem ins Kanzleramt drängenden Christdemokraten Helmut Kohl an. Der Hebel, mit dem Schmidt aus dem Amt befördert werden sollte, war das konstruktive Misstrauensvotum. Er wurde auf Bundesebene nach 1972 zum zweiten Mal angesetzt, zum ersten und bis heute einzigen Mal mit Erfolg.

So gut wie niemand prognostizierte damals dem Mann aus der Pfalz eine lange Amtszeit. Als Partei- und Fraktionsvorsitzender hatte Kohl zwar auf der nationalen Ebene einige politische Erfahrung gesammelt, international aber war er ein unbeschriebenes Blatt. Den Ruf des Provinzpolitikers sollte er nie wirklich loswerden. Dass sich Kohl schließlich länger als sämtliche Vorgänger im Amt halten würde, haben selbst in den eigenen Reihen nur wenige für möglich gehalten. Nach knapp sieben Jahren schien Kohl ziemlich verbraucht. Mit eisernem Willen überstand er im September 1989 jedoch einen halbherzigen Putschversuch mehr oder weniger prominenter Partei­freunde und ergriff dann die unerwartete Chance, die sich ihm wenige Wochen später mit dem Fall der Berlin und Deutschland teilenden Mauer eröffnete.

Reformstau

Die große Leistung, nämlich die maßgebliche Mitwirkung an der Herstellung der deutschen Einheit und an der Intensivierung der europäischen Integration, ließ lange übersehen, dass dieser Bundeskanzler ansonsten unbestellte Häuser hinterlassen hat. Am Ende seiner Kanzlerschaft schob die Nation einen riesigen Reformstau und die Partei eine ungelöste Führungsfrage vor sich her. Weil er sich aber gleichwohl für unentbehrlich und jedenfalls zu diesem Zeitpunkt für unersetzlich hielt, wurde Helmut Kohl der erste Bundeskanzler, den die Wähler gezielt aufs Altenteil schickten. 

Nicht anders, wenn auch wesentlich knapper entschieden die Deutschen sieben Jahre später über seinen Nachfolger. Wie Helmut Kohl hatte auch Gerhard Schröder bei seinem Amtsantritt ein markantes nationales, jedoch so gut wie kein internationales Profil. Aber anders als sein Vorgänger musste er sich vom ersten Tag an mit Teilen seiner eigenen Partei und zeitweilig auch mit seinem grünen Koalitionspartner herumschlagen. Ohne die Erfahrungen, die Schröder selbst jahrelang am linken Rand der SPD und über eine Legislaturperiode hinweg mit den Grünen als Ministerpräsident von Niedersachsen gesammelt hatte, wären ihm wohl kaum sieben Jahre im Kanzleramt beschieden gewesen.

Am Ende erging es ihm dann aber genauso wie seinen beiden sozialdemokratischen Vorgängern. Die eigenen Leute brachten ihn zur Strecke. Anlass war das wegweisende Programm für eine grundlegende Reform des Sozialstaats und der Wirtschaftsordnung, das seit seiner Ankündigung im März 2003 als Agenda 2010 firmiert. Fortan sah sich Schröder durch die Linken in seiner Partei derart unter Druck gesetzt, dass er einen geordneten Abschluss der zweiten Legislaturperiode für nicht mehr wahrscheinlich hielt. Daher trat er die Flucht nach vorn an und suchte die Entscheidung durch die Wähler. Als am Abend des 18. September 2005, ein Jahr vor dem regulären Wahltermin, die Stimmen ausgezählt wurden, war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen wie selten zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. 

Weitsichtige Kanzlerin

Für die Wahlsiegerin Angela Merkel galt, was schon für Helmut Kohl gegolten hatte: Kaum jemand prognostizierte ihr eine komplette Amtszeit. Zu den wenigen, die das von Anfang an anders sahen, gehörte ihr Amtsvorgänger. Inzwischen regiert die Bundeskanzlerin fast zwölf Jahre und bald acht davon an der Spitze einer Großen Koalition.

Nicht zufällig hatte Angela Merkel als Oppositionsführerin dafür gesorgt, dass CDU und CSU im Parlament Schröders Agenda 2010 passieren ließen. Damit hatte sie sichergestellt, dass die Reform nicht an den parteiinternen Gegnern des Kanzlers scheiterte. Von dieser Weitsicht profitiert die Kanzlerin bis heute. Dass ihre Regierung unter anderem in der Lage ist, die Kosten der Flüchtlingskrise zu stemmen, geht nicht zuletzt auf die gute Verfassung zurück, in der sich das Land dank Schröders Reformpolitik befindet. So überstand Angela Merkel diese erste große Bewährungsprobe, die zugleich eine der schwersten Krisen in der Geschichte der bundesdeutschen Kanzlerschaften war, im Wesentlichen unbeschadet. Hinzu kam ein hochprofessionelles Krisenmanagement. Angesichts von bis zu 10 000 Menschen, die zu Beginn des Jahres 2016 täglich die deutschen Grenzen passierten, bot Merkel eine machtpolitische Demonstration der besonderen Art.

Viele Beobachter realisieren bis heute nicht, wie konsequent bei dieser Bundeskanzlerin nicht erst in dieser Krise der Wille zum Machterhalt Regie führte. Mit einem eisernen Willen, der stark an Helmut Kohl erinnert, wartete sie ab, bis die Balkanstaaten und Österreich ihrerseits die Konsequenzen aus der zusehends unhaltbaren Lage zogen. Die Zeit nutzte sie, um die eigene Partei und die eigene Fraktion auf ihrer Linie zu halten beziehungsweise dorthin zu zwingen.

Politisches Überleben

Am 24. Februar 2016 war es so weit. In Wien beschloss eine Konferenz der Balkanstaaten, koordiniert zu handeln, und das hieß im Klartext: Die Grenzen wurden geschlossen. Seit dem 7. März ließen Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien niemanden mehr ohne gültige Papiere passieren. So brachten sie den Strom der Flüchtlinge, Migranten und Asylsuchenden weitgehend zum Erliegen. Zugleich markierten sie damit jene Obergrenze, die Merkel für ihr politisches Überleben brauchte, die sie aber nach wie vor nicht so nennen wollte und – wegen der einschlägigen Bestimmung des Grundgesetzes – bezogen auf die Asylsuchenden auch gar nicht nennen konnte.

Eine vergleichbare Demonstration von Machtwillen hat es zuvor in der inzwischen fast 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik selten gegeben. Und selbst wenn dem Krisenmanagement der Kanzlerin kein Masterplan zugrunde liegen konnte, bleibt die konsequente, schrittweise Annäherung an die Krisenlösung beeindruckend. Und sie zeugt von einer beispiellosen Fähigkeit des Machterhalts. 

Sollte Angela Merkel am 24. September 2017 ihre vierte Bundestagswahl gewinnen, hätte sie Konrad Adenauer und Helmut Kohl eingeholt. Und dann? Wird sie als Erste bereit sein, von der Macht zu lassen und den Zeitpunkt ihres Rücktritts selbst zu bestimmen, bevor sie durch andere aus dem Amt befördert wird? Auch dieser Bruch mit der Tradition der Kanzlerstürze wäre ohne Beispiel. Und er könnte den überraschenden Beweis liefern, dass entweder Macht nicht zu Sucht oder aber Sucht nicht zum Entzug führen muss.

 

Dieser Text stammt aus der Märzausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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