- Die Angst vor der Schlagzeile
Tabea Rößner war früher Journalistin und sitzt heute für die Grünen im Bundestag. Immer öfter beobachtet sie, wie Aussagen von Politikern für eine knackige Überschrift verkürzt und verfälscht werden. Das schade sowohl den Medien als auch der Debatte, schreibt sie im Gastbeitrag
Hand aufs Herz: Welchen Artikel würden Sie lesen: Den mit dem Titel „Grüne fordern für Pflegeheime Prostituierte auf Rezept“ oder „Sexuelle Unterstützung für Pflegebedürftige – niederländisches Modell auch in Deutschland vorstellbar“? Ich ahne die Antwort. Und die Welt am Sonntag auch, denn die hat sich für die erste Schlagzeile entschieden, obwohl die zweite der Wahrheit sehr viel näher kommt.
Meine grüne Bundestagskollegin Elisabeth Scharfenberg war zuvor von einer Journalistin um eine Stellungnahme zur Sexualassistenz für schwer Pflegebedürftige, wie sie in den Niederlanden ermöglicht wird, gebeten worden. Sie wird in dem Artikel zitiert mit: „Eine Finanzierung für Sexualassistenz ist für mich vorstellbar.“ Und: „Die Kommune könnte über entsprechende Angebote vor Ort beraten und Zuschüsse gewähren.“ Der Unterschied zwischen Aussage und Schlagzeile ist offensichtlich. Das Thema wurde deutschlandweit in vielen Medien aufgegriffen, die wenigsten hinterfragten die Schlagzeile. Stattdessen wurde sie in der Bild noch verkürzt auf: „Grüne fordern Sex auf Rezept“.
Journalistische Sorgfaltspflicht
Als ehemalige Journalistin habe ich einst gelernt, nicht einfach irgendwelche Meldungen ungeprüft zu übernehmen. Diese Regeln gelten auch heute noch. Aber wenn die Redaktionen dünn gespart werden und der Zeitdruck wächst, bleibt das schon einmal auf der Strecke. Kein Politiker ist davor gefeit. 2015 wurde getitelt, der bayrische Innenminister Joachim Herrmann fordere nach dem Germanwings-Absturz ein Berufsverbot für Depressive.
Auch wenn es mir sonst fern liegt, die Kollegen der CSU zu verteidigen, in diesem Fall hatte Herrmann nichts dergleichen gefordert. Im Originalstatement an den Focus stand unter anderem.: „Ein solches [Berufs-]Verbot steht und fällt mit einer sorgfältigen medizinischen Begutachtung. […] Dafür neue Bestimmungen einzuführen, halte ich aber nicht für erforderlich.“ Aber googeln Sie einmal „Herrmann Berufsverbot“ – Sie werden sehen, was überlebt hat. Und natürlich wird ein Artikel mit der Überschrift „Sex auf Rezept“ besser geklickt, als eine differenzierte Auseinandersetzung mit den sexuellen Bedürfnissen alter Menschen.
Aber das alleine rechtfertigt nicht, dass Medienvertreter ihr eigentliches Alleinstellungsmerkmal, die journalistische Sorgfaltspflicht, über Bord werfen. Ich befürchte, dass die Skandalisierung, der Zeitdruck und die „Eilmeldisierung“ mittelfristig den Medien mehr schaden als nützen werden – nämlich dann, wenn ihre Glaubwürdigkeit drauf geht.
Profillose Politiker
Auf solche Schlagzeilen folgen sehr viele Mails, Tweets, Posts, und nur die wenigsten zeigen Verständnis. Wut und Hass einiger haben ein neues Ziel gefunden. Die Parteikollegen ärgern sich. Und weil wir um diese Konsequenzen wissen, wollen wir sie möglichst meiden. Frei nach Peter Handke offenbart sich die Angst des Politikers vor der Schlagzeile. Also machen wir, die wir seriöse Politik betreiben wollen, uns unangreifbar. Wir formulieren windelweich, meiden Ecken und Kanten und werden dadurch immer profilloser. Diejenigen, die mir heute Mails schreiben: „Ihr Politiker seid doch alle gleich!“, sind dieselben, die bei jedem bisschen Rückgrat zeigen bei Facebook in Großbuchstaben kommentieren. Und selbst wenn jemand von uns einmal richtig Mist raushaut, ist das nicht auch irgendwo menschlich? Auch für Politiker sollte gelten, dass sie sich irren dürfen. Gott sei dank hat unsere Demokratie für solche Fälle sehr viele Korrekturmöglichkeiten vorgesehen.
Die Schlagzeile ist die Freundin der Populisten
Von den derzeitigen Mechanismen in den Medien profitieren vor allem diejenigen, die schnell dem Affen Zucker geben und sich nicht um die Wahrheit und die Folgen kümmern: die Populisten mit der schnellen These, der krassen Forderung oder dem provokanten Tweet. Populisten von links und rechts nutzen die Macht der Provokation, um sich im Gespräch zu halten.
Auf der Strecke bleibt die fundierte, unaufgeregte Sachpolitik, denn eine differenzierte Meinung ist wenig schlagzeilentauglich. Wenn aber nur noch die Meister der steilen These das Tagesgeschäft beherrschen, schürt das ein Klima von Zank und Zorn in diesem Land. Und daran kann eigentlich niemandem gelegen sein.