Pflege - „Gute Fachkräfte werden nur als Kostenfaktor gesehen“

Dass Pflegekräfte am Limit arbeiten und darunter ihre Arbeit leidet, ist kein neues Thema. Dennoch verlaufen viele Initiativen, die das ändern wollen, im Sande. Warum das so ist, erklärt der Gesundheits- und Krankenpfleger Stefan Heyde und fordert ein Umdenken bei der Politik

Weit und breit kein Pfleger – oft trauriger Alltag in deutschen Pflegeheimen / picture alliance
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Autoreninfo

Hannah Fuchs studiert Philosophie an der Universität Wien. 

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Herr Heyde, Sie sind Pfleger und haben die Aktion „Pflege in Not“ gegründet. Weshalb?
Die Aktion „Pflege in Not“ hat sich damals aus einer Petition entwickelt. Durch diese habe ich zahlreiche anonyme Zuschriften erhalten, die geholfen haben, das Thema Pflegenotstand in der Öffentlichkeit zu halten. Die Petition ist mit rund 3.500 Unterschriften beendet worden und wurde weitergeleitet. Kurz vor der Wahl macht die Petition aber keinen Sinn, die Regierung wird im Bereich Pflege bis zur Wahl nichts mehr ändern. Jetzt wurde die Petition bei OpenPetition neu eröffnet, läuft jetzt bis April 2018 und ist damit unabhängig von der Bundestagswahl.

Spielt die Bundestagswahl für die Aktion dennoch eine Rolle?
Für die Bundestagswahl speziell haben wir die Kampagne „Ich bin der Pflegenotstand“ ins Leben gerufen. Dafür sind verschiedene Aktionen wie Infostände und Social-Media-Aktionen geplant. Wir haben außerdem einen offenen Brief an die Verantwortlichen für Gesundheitspolitik der verschiedenen Parteien geschrieben. Am 9. September findet in Mainz eine Demonstration statt. Kurz vor der Wahl soll hier noch einmal ein starkes Statement abgegeben werden.

Der Initiator der Aktion „Pflege in Not“,
Stefan Heyde / Foto: privat

Was ist Ihr Ziel?
Das ist einfach: dass die Leute in den Pflegeberufen wieder das machen können, was sie in der Ausbildung lernen. Dass man wieder mehr Zeit für die Patienten und Bewohner hat. Den Pflegekräften geht es noch nicht einmal um das Geld. Es geht schlicht darum, mehr Personal zu haben, um besser pflegen zu können und den Berufsethos und die Würde der Patienten hochhalten zu können.

Was läuft denn schief?
In der Krankenpflege hat man laut schulischer Ausbildung für einen Bewohner zwei Stunden Zeit ihn zu versorgen. In der Praxis gibt es zwei Arten des Waschens. Einmal, wenn andere Leute anwesend sind und einmal, wenn keiner zusieht. Dann beschränkt sich die Pflege auf das Notwendigste, weil man den Schlüssel von zwei Stunden pro Patient bei einer 40-Betten-Station nicht einhalten kann. Hinzu kommen Medikamentenausgaben, OP-Vorbereitungen, Untersuchungstermine, Entlassungen und Neuaufnahmen. Im Altersheim wird für einen Schwerst-Pflegepatient rund eine Stunde einberechnet. In Wirklichkeit huscht eine statt zwei Pflegekräften hinein, weil es schlicht zu viele Bewohner gibt. Die Person bekommt nur eine „Katzenwäsche“, was lediglich ein Aufwand von 20 Minuten ist – anstatt der vorgesehenen Stunde. 

Wie häufig fehlt es an Pflegepersonal? 
Ich erhielt zum Beispiel die Zuschrift einer Fachkraft, die am morgen für 40 Bewohner zuständig war. Der Helfer war im Krankenstand, also mussten eine Fachkraft von der Station oder Helfer von anderen Wohnbereichen aushelfen.

Was hat das für Konsequenzen?
Die besagte Fachkraft hat letztlich bei fünf Bewohnern Medikamente vertauscht. Das hat dazu geführt, dass ein Patient Blutdrucktabletten bekommen hat, obwohl er schon einen zu niedrigen Blutdruck hatte. Dieser musste dann auch sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ich habe in einem Altersheim erlebt, dass ein ungelernter Pflegehelfer nachts Demenzkranke in der Toilette eingesperrt hat, weil er so überfordert war. Oder, dass ungelernte Helfer nachts versucht haben, demenzkranke Bewohner mit Fixierungen – die nicht angeordnet waren und wofür man eine richterlichen Beschluss braucht – zu kontrollieren. Die Fachkraft ist im Grunde nur dafür da, die Demenzkranken die ganze Nacht über einzusammeln. Eine Medikamentengabe oder eine Versorgung sind nicht zu schaffen.

Wie reagieren Angehörige auf die Missstände?
Die Angehörigen sehen, dass die Pflegekräfte am Limit sind und wie schlecht ihre Angehörigen versorgt werden. Viele versuchen, auf die Pflegekräfte Druck aufzubauen. Die Angehörigen sind aber die Leidtragenden, weil sie die Körperpflege bei den Angehörigen schließlich selber machen müssen. Teilweise bringen sie auch Essen mit, weil Demenzkranke bei den Mahlzeiten vergessen werden.

Im Pflegebereich gibt viele ausländische Fachkräfte und Leiharbeiter. Wieso?
Ich kenne kein Heim, dass nicht ohne Leiharbeiter und ausländische Fachkräfte auskommt. Diese sind günstiger und werden teils nur für die Nacht eingesetzt. Das wird gemacht, weil man dafür weniger Struktur aufbauen muss. Die Leute machen ihre Dienste für vier, fünf Tage, und gehen dann wieder weg. Die Zustände, die in diesem Heim herrschen, interessieren sie nicht.

Was bedeutet das für die Betroffenen?
Die Sprachbarrieren sind für die Bewohner eine Katastrophe, weil sie sich nicht mit dem Personal verständigen können. Für die ausländischen Pflegekräfte ist es ebenso eine Katastrophe, weil sie nicht wissen, was die Bewohner wollen. Und für Ärzte und die Dokumentation ist es sowieso eine Katastrophe, weil nie etwas festgehalten wird. Die Leiharbeiter wissen nicht, wie sie sich ausdrücken sollen.

Wie sieht die Situation der ausländischen Leiharbeiter aus?
Ich habe eine Zuschrift von einer Bosnierin erhalten, die feststellen musste, dass sie zwei Jahre lang keine Zuschläge bekam, obwohl sie Vollzeit gearbeitet hatte. Darüber hinaus galt die Zeit in der Sprachschule, die sie für die Anerkennung brauchte, nicht als Arbeitszeit. Das hat sich am Ende des Monats mit minus 50 Stunden bemerkbar gemacht, die sie vom Urlaub oder vom Gehalt abgeben musste.

Warum tut niemand etwas gegen die Missstände?
Wirklich gute Fachkräfte werden nur als Kostenfaktor angesehen und nicht als Leistungsfaktor. Solange von der Politik die Wertschätzung nicht kommt, dass die Pflege ein anerkannter Beruf ist, in der man eine dementsprechend gute Qualität braucht, wird sich nicht sehr viel ändern.

Wie konnte es so weit kommen?
Die Problematik mit der Organisation der Pflege gab es schon Anfang bis Mitte der neunziger Jahre, als sich eine Gewerkschaft für die Pflegeberufe gebildet hatte. Die hat sich aber Ende der Neunziger aufgelöst, weil es zu wenig Mitglieder gab. Die Pflegekräfte selbst sehen diesen Beruf immer noch als Berufung an. Natürlich gehört ein gewisser Altruismus dazu, aber man muss auch Grenzen setzen.

Und warum gründen die Pflegekräfte keine Gewerkschaft?
Weil es dem Pflegepersonal damals wie heute am Engagement fehlt, etwas zu verändern. Die Pflegeberufe sind immer noch ein Frauenberuf. Das heißt, die Angst vor Jobverlust, Repressalien durch den Arbeitgeber und damit Einschränkungen im Privatleben ist größer. Meist arbeiten die Leute auch schlicht bis zum Umfallen und haben keine Energie mehr für Aufstände.

Wie sollte die Politik reagieren?
Wir brauchen einen gesetzlich festgelegten Personalschlüssel für die Mindestbesetzung je nach Art der Station. Es muss eine gewisse Qualität aufrechterhalten bleiben. Dazu braucht es auch eine bestimmte Anzahl an Fachkräften. An zweiter Stelle müsste man die Arbeitsbedingungen verbessern. Es bringt nichts, die Pflege immer mehr zu spezialisieren und sie immer weiter vom Bett zu entfernen. Die Struktur könnte auch durch flexiblere Arbeitsmodelle verbessert werden, damit Freizeit und Beruf besser vereinbart werden können.

Wo soll das Geld dafür herkommen?
Es gibt einige Möglichkeiten. Die Erste wäre die Einführung einer Bürgerversicherung. In der Pflegeversicherung werden bei gleichbleibendem Beitragssatz rund zwölf Milliarden Euro pro Jahr mehr eingenommen. Diese Mittel können für sofortige und deutliche Leistungsverbesserungen für die Menschen mit Pflegebedarf, zur besseren Bezahlung der Beschäftigten und zur Aufwertung der Pflegeberufe verwendet werden. Das schafft finanzielle Sicherheit und Spielraum für eine grundlegende Pflegereform. 

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