Parteiprogramme - Im Modernitätswahn

Kolumne: Grauzone. Glaubt man den Wahlprogrammen der Parteien, leben wir in einer Epoche des bedingungslosen Optimismus. Jede will den fortschrittlichsten Fortschritt bieten. Wirklich modern wäre, ausgetrampelte Denkpfade zu verlassen. Aber das traut sich keiner

Angela Merkel, Drohne: Modernisierungsskepsis war einmal / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

In was für seligen Zeiten leben wir doch. Wir kennen nur einen Weg, und der führt nach steil oben. Denn die Zukunft, sie wird schöner werden, besser, gerechter, digitaler, ökologischer, vielfältiger und vor allem grenzenloser. Der Fortschritt, er ist unaufhaltsam. Moderne, wir kommen!

Modernisierungsskepsis war einmal. Zumindest auf politischer Ebene. Glaubt man den Wahlprogrammen der Parteien, leben wir in einer Epoche des bedingungslosen Optimismus. Nicht über den Fortschritt wird gestritten, sondern über den fortschrittlichsten Fortschritt. Nicht die Moderne selbst wird diskutiert, sondern über den modernsten Weg in die Moderne. Man will zukunftsfähig sein, auf Teufel komm raus.

Bei CDU und SPD ist alles irgendwie modern

Ein Monument des neuen Modernefetischismus ist das Regierungsprogramm der CDU. Denn nichts scheut man im Konrad-Adenauer-Haus so sehr, wie den Verdacht, konservativ zu sein. Also klebt man das Adjektiv „modern“ entschlossen an alles, was daher kommt. Man streitet für ein modernisiertes Arbeitszeitrecht, eine „moderne bäuerliche Landwirtschaft“, modernen Lärmschutz, eine „Modernisierung des Parkplatzangebots“, „moderne Bahnhöfe“, „moderne Energietechnologien“ und moderne, nein: „modernste Glasfasernetze“. Stolz verkündet man, Deutschland sei „ein modernes Land“. Aber irgendwie ist es nicht modern genug. Denn die Moderne ist das Morgen, und wir leben im Heute.

Da lässt sich die SPD nicht lumpen. Schon aus Tradition ist man schließlich dem Brachialmodernismus verpflichtet: Also braucht es ein „Schulmodernisierungsprogramm“, eine „moderne Ausbildung“, einen modernen öffentlichen Dienst, „moderne Handwerksbetriebe“, ein „modernes Einwanderungsrecht“, „modernste digitale Infrastrukturen“, ein „modernes Rentenkonzept“, moderne Mietwohnungen, „modernste Elektroautos“ und moderne Luftdrehkreuze. Ein „modernes Deutschlandbild“ will man ohnehin. Man könnte dieses eintönige Zeugnis der Gedankenlosigkeit beliebig verlängern. 

Selbst die Grünen machen mit

Als Bannerträger des Modernen schlechthin, ja geradezu als Politavantgarde versteht sich aber die FDP. Also ist man auch hier für „moderne Infrastruktur“, „moderne Landwirtschaft“, „modernen Umweltschutz“, „moderne Erwerbsbiografien“ in einer „modernen Arbeitswelt“, ein „modernes Recht für Ehe und Familie“, eine „modernes Staatsbürgerrecht“ und eine „moderne Reproduktionsmedizin“.

Und selbst die Grünen, in ihren Anfangsjahren eine Bastion der Fortschrittsskepsis, steigern sich in einen Modernisierungsrausch: Da man auf dem „Modernisierungspfad“ bleiben möchte, setzt man ganz auf die „ökologische Modernisierung“, die „Modernisierung der Arbeitsbedingungen“, „die „Modernisierung von Häusern und ganzen Stadtvierteln“, ein „modernisiertes Bahnnetz“, eine moderne Asylpolitik, eine „moderne und innovative Familienpolitik“, einen „modernen Verbraucher*innen- und Datenschutz“ und ganz generell eine „moderne und offene Gesellschaft“. 

Keine Frage: Die deutschen Parteizentralen befinden sich in einer Art Modernisierungs-Trance. Wie infantil und einfallslos der inflationäre Gebrauch des Attributes „modern“ für alles und jedes dabei ist, fällt schon keinem mehr auf. Dabei ist nichts so alt wie der Glaube an das Moderne – und nichts so inhaltsleer.

Wirklich modern ist nichts davon

Denn was mit „modern“ konkret gemeint ist, darüber schweigen sich die Wahlprogramme bezeichnenderweise aus. Auf jeden Fall anders muss alles werden und irgendwie innovativ. Das damit verbundene Innovationsgerede ist allerdings so ausgelaugt und oft gehört, dass es nur gestrig wirkt und alles andere als modern. Denn modern – so viel kann man vielleicht sagen – wäre es, ausgetrampelte Denkpfade zu verlassen und nicht das übliche Innovationsgeschwätz in der Endlosschleife zu reproduzieren Aber genau dazu fehlt die Phantasie und wahrscheinlich auch der Mut. Denn das würde einen radikalen Kurswechsel bedeuten. Doch den will man in Deutschland niemandem zumuten – vor allem nicht sich selbst.

Stattdessen speist man das Wahlvolk mit billigen Fortschrittsphrasen ab, die genau das konterkarieren, was sie beschwören sollen. So entlarvt sich eine ganze Branche gerade in ihrem verzweifelten Willen zur Modernität als Gefangene des Gestern.

Das alles wäre unfreiwillig komisch, würde dieser längst überholte Modernisierungsoptimismus nicht fatal an die blinde Zukunftseuphorie des frühen 20. Jahrhunderts erinnern – kurz vor der großen Katastrophe.

Anzeige