Paritätsgesetz: Contra - Guten Gewissens in die gelenkte Demokratie

In Brandenburg hat die rot-rote Koalition das erste Paritätsgesetz in Deutschland verabschiedet. Bei Wahlen sollen Männer und Frauen bei der Aufstellung der Landesliste gleichermaßen berücksichtigt werden. Für den Staatsrechtler Otto Depenheuer ist das ein offener Verfassungsbruch

Hebelt der Staat das Recht aus, um mehr Frauenpower ins Parlament zu bringen? / picture alliance
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Autoreninfo

Otto Depenheuer ist Professor für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosphie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Köln. 

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Dieser Debattenbeitrag lehnt das Paritätsgesetz in Brandenburg ab. Den Pro-Beitrag von Silke Laskwoski finden Sie hier.

Den Staat auf die Freiheit seiner Bürger zu gründen, ist eine anspruchsvolle Idee, Wagnis und Risiko gleichermaßen, beinhaltet sie doch eine permanente Zumutung für die Menschen: Freiheit ist nicht berechenbar, alles kann sich jederzeit ändern, nichts ist verlässlich. Alles könnte anders sein, auf nichts kann man vertrauen. Diese Unsicherheit bildet das Lebensgesetz des freiheitlichen Rechtsstaates. Um seiner Freiheitlichkeit willen gibt er keine Wahrheiten und damit Orientierung vor. Stattdessen hat jeder Bürger das (Grund‑) Recht, „zu tun und zu lassen, was er will“, und sei es noch so töricht, verschroben oder riskant. Und auch seine demokratische Mitwirkungsfreiheit kann der Bürger nach seinem Belieben auszuüben: er kann wählen, wen er will, und im Ergebnis entscheidet die Mehrheit. Aber vielleicht ist diese Idee gegenwärtig zu anspruchsvoll.

Das Hohelied auf die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes geht gegenwärtig paradoxerweise immer mehr einher mit einem zunehmenden Umsichgreifen von patrimonialen Belehrungen staatlicher und gesellschaftlicher Provenienz darüber, was wir essen, wie wir leben, wie schnell wir fahren dürfen – kurzum: wie wir unsere Freiheit „vernünftigerweise“ ausüben sollten. Sanktioniert wird die Nichtbeachtung derartige Appelle durch moralische Diskreditierung und finanzielle Sanktionierung.

Von der Fürsorge zum Fundamentalismus

Gefährlich wird es, wenn wohlmeinende Fürsorge umschlägt in unduldsamen Fundamentalismus, der das „objektiv Richtige“ in rechtliche Verpflichtungen verwandelt: die Evidenz des menschenverursachten Klimawandels, der ungesunden Ernährungsweise von Kindern. Der zunehmende politische Populismus wird dann zum Titel, die Freiheit so zu beschränken, dass die „guten“ Ziele erreicht werden können. Aus dieser Perspektive wird Freiheit zur permanenten Bedrohung für das Überleben und das „gute Leben“ des Gemeinwesens. Daher stellen sie der Offenheit des Diskurses die Evidenz ihrer Überzeugung entgegen, die sich jeder Relativierung entzieht. Politische Teilhabe erfolgt dann nicht mehr aus der Überzeugung der Relativität aller Meinungen mit anschließender Anerkennung jeder Mehrheitsentscheidung, sondern als Durchsetzung des als richtig Erkannten. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet reichlich Anschauungsmaterial über die Folgen dieser selbstgerechten Überzeugungen, und das Grundgesetz sucht dieser Entwicklung erfolgreich vorzubeugen.

Eine Vorstufe zur Aushebelung der offenen Verfassungsstaatlichkeit zeichnet sich seit Jahren in einer stetig anwachsenden Moralisierung der politischen Diskussion ab. Wird die politische Debatte moralisiert, tritt an die Stelle relativistischer Offenheit die moralische Wahrheit mit ihrem fatalen Code, der nur noch zwischen „Gut“ und „Böse“ unterscheiden kann. So wird aus der gleichberechtigten Teilhabe Aller am offenen Diskurs der Abbruch der Diskussion mit den „Bösen“. Dann ist der Weg nicht mehr weit, auch die verfassungsrechtlichen Vorkehrungen der gleichberechtigten und offenen politischen Kommunikation auszuhebeln. So geschehen nunmehr im brandenburgischen Paritätsgesetz. Der faktischen Gleichstellung der Frauen im Landtag soll, da sie sich im offenen demokratischen Prozess einfach nicht durchsetzen will, rechtlich auf die Sprünge geholfen werden, indem die verfassungsrechtlichen Eckpunkte des demokratischen Prozesses gesetzlich suspendiert werden: die Freiheit und die Gleichheit der Wahl.

Wieso nur eine Frauenquote? 

Die Parteien sind nicht mehr frei bei der Aufstellung ihrer Kandidaten, sondern müssen unverrückbar gleich viele Männer wie Frauen aufstellen. Entsprechend sind die Bürger auf die „Wahl“ dieser paritätischen Listen beschränkt – mit dem Ergebnis, dass im brandenburgischen Landtag Parität von Frauen und Männern garantiert sein wird, sollte das Gesetz verfassungsrechtlich Bestand haben. Daran bestehen durchaus erhebliche Zweifel.

Über die Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes braucht hier nicht diskutiert zu werden: Sie liegt auf der Hand. Weniger der offene Verfassungsbruch irritiert, sondern der politische Geist, der sich hier Bahn bricht. Ein politisch legitimes Ziel (Gleichstellung von Mann und Frau) mit dem Bruch elementarer demokratische Prinzipien – Freiheit und Gleichheit der Wahl (Art. 38 GG) – zu erzwingen, spottet dem Geist einer offenen Verfassung. Wenn das „Richtige“ gesetzlich erzwungen wird, muss die Freiheit notwendig auf der Strecke bleiben. Hier wird der elementare Unterschied von gleichem Recht und ungleichen Resultaten ebenso verkannt wie das Repräsentationsprinzip missverstanden: nämlich als mathematisches Spiegelbild und nicht als ethische Verpflichtung jeden Inhabers eines Amtes, der schwören müssen, „Vertreter des ganzen Volkes“ sein zu wollen.

Die Fixierung auf die mathematische Gleichstellung von Frauen und Männern lässt zudem eine erstaunliche Einäugigkeit in Ansehung der unüberschaubaren Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft erkennen: Wieso nur eine Frauenquote? Wo bleiben die Diversen? Wo die Jungen, Kranken, Unpolitischen? Haben diese keinen Anspruch auf Vertretung nach Maßgabe ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung? Und wenn ja, wie sollte sich das mathematisch-spiegelbildlich darstellen lassen? Ein ebenso unfreiwilliger wie entlarvender Witz findet sich in der Gesetzesbegründung: „Personen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuzuordnen sind, sollen frei entscheiden können, für welche Liste sie sich um einen Listenplatz bewerben wollen“ (§ 25). Da hat das Bundesverfassungsgericht gerade festgestellt, dass der personenstandsrechtliche Zwang zur Zuordnung verfassungswidrig ist – hier wird der Zwang zur Selbstoffenbarung wieder eingeführt.

Triumph für Putin

Politisch erstaunlich und geradezu beängstigend ist die Tatsache, mit welcher Leichtigkeit sich moralisch richtige Gesinnung über hart erkämpfte demokratische Errungenschaften hinwegzusetzen bereit ist. Alles, selbst Verfassungsrecht, das dem erstrebten Ziel entgegensteht, wird aus dem Weg geräumt: Darin spiegelt sich der Geist von Fundamentalisten jeglicher Provenienz (auch derjenigen, die glauben, keine zu sein). Im Hintergrund taucht das überwunden geglaubte Phänomen eines Herrschaftsanspruchs aus dem Geiste eigener Wahrheitsgewissheit wieder auf. Zur Erinnerung: Der moderne Staat entstand gerade aus der Überwindung der erbitterten und grausamen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts um die Wahrheit durch Neutralisierung ebendieser Wahrheit. Fortan sollte der säkulare Staat keinen Gott und keine Wahrheit mehr kennen. An die Stelle Gottes trat der Mensch mit seiner Würde, an die Stelle der Wahrheit die Freiheit.

Die neue moralisch aufgeladenen Wahrheitsgewissheit hat folglich ihre Probleme mit dem freien und gleichen Recht aller Bürger an der politischen Willensbildung. Nicht das Ergebnis einer freien Wahl gleichberechtigter Bürger wird akzeptiert, sondern nur das richtige Ergebnis einer dann eben nicht mehr ganz so freien Wahl. Entscheiden die Bürger nicht, wie sie sollten, wird ihnen so viel Freiheit genommen, bis das Ergebnis stimmt. Die liberale Demokratie wandelt sich unter der Hand und aus sich selbst heraus in eine gelenkte Demokratie. Putin wird sich freuen und bestätigt sehen: Die freiheitliche Demokratie beginnt, sich selbst zu entsorgen – und das ganz ohne Hackerangriffe.

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