Olaf Scholz in Berlin - Der Mann hinter dem roten Balken

Die Dynamik des Wahljahrs hat dazu geführt, dass der blasse Macher Olaf Scholz plötzlich beste Chancen aufs Kanzleramt hat. Beim Wahlkampfauftritt in Berlin bleibt er seiner Linie treu: ruhig bleiben. Reicht das?

Olaf Scholz am 27. August auf dem Bebel-Platz in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Olaf Scholz ist das Gegenteil einer Rampensau. Einer Rampensau, wie es etwa Gerhard Schröder war, der letzte Sozialdemokrat, der es ins Kanzleramt geschafft hat. In schwarzer Hose und weißem Hemd tritt der ein Meter siebzig große, schmale Mann an diesem Freitagnachmittag auf die Bühne, die ihm die Sozialdemokraten auf dem Berliner Bebelplatz bereitet haben. Benannt ist der Platz nach dem Begründer der Sozialdemokratie, bekannt ist er für die Bücherverbrennung, die die Nationalsozialisten hier nach der Machtübernahme veranstalteten.

Den rechten Arm leicht erhoben, die Hand nach unten, winkt Olaf Scholz zur Begrüßung, die 600 bis 700 SPD-Anhänger und Berlin-Touristen klatschen höflich. SPD-Parteivize Kevin Kühnert, der die Veranstaltung moderiert, hat ihn zuvor als „Mann hinter dem Balken“ (der steigenden Umfragen) und als „Kirsche auf der Sahnetorte“ (der heutigen Veranstaltung) angekündigt.

Kühnert hinter Scholz

Die SPD hat sich hinter Scholz versammelt, hinter dem ehemaligen SPD-Generalsekretär aus Schröder-Zeiten, dem Hamburger Bürgermeister und Finanzminister der GroKo. Auch Kevin Kühnert hat sich eingereiht, der als Juso-Chef 2019 maßgeblich daran beteiligt war, Olaf Scholz als Parteichef zu verhindern. Das Stillhalten zahlt sich aus: Scholz‘ große Popularität – knapp 30 Prozent würden Scholz bei einer Direktwahl zum Kanzler wählen, Baerbock 17, Laschet nur 14 – hat der SPD einen Höhenflug in den Umfragen beschert. Inzwischen liegt die Partei, die bei 14 Prozent festgenagelt schien, vor den Grünen und etwa gleichauf mit der Union.

Warum nur? Es kann nicht das Charisma dieses Mannes sein, nicht die Begeisterungsfähigkeit. Die Antwort lautet: Scholz patzt nicht. Auch nicht an diesem Nachmittag in Berlin. Er beginnt mit etwas länglichen Ausführungen zu Afghanistan: Scholz verteidigt den Einsatz an sich, unter Berufung auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 sei es richtig gewesen, an der Seite der Amerikaner vor Ort Terroristen zu bekämpfen. „Es war richtig“ – dieser Satz durchzieht Scholz‘ Rede, auch in Bezug auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Scholz verschärft den Ton gegenüber der Union

Den größten Applaus erntet er, als er sich hier klar gegen Union und FDP positioniert „Wenn wir vier 400 Milliarden neue Schulden gemacht haben werden am Ende des nächsten Jahres, dann ist das nicht der Zeitpunkt, wo Leute, die so viel verdienen wie ich, oder noch mehr, dringend eine Steuersenkung brauchen, was CDU/CSU und FPD vorschlagen. Das ist nicht nur unfinanzierbar, das ist auch unmoralisch.“ Das mit dem eigenen Einkommen hat Scholz schon öfter so gesagt. Damit will er signalisieren, dass er, der Kanzlerkandidat der Arbeiterpartei, sich seiner eigenen Privilegien bewusst ist. Genau an dieser Stelle hatte einst Peer Steinbrück gepatzt, als er mitten im Wahlkampf in einer beifälligen Bemerkung zu Protokoll gab, niemals eine Flasche Wein zu kaufen, die nur fünf Euro kostet.

Scholz verspricht mehr Wohnungsbau, und zwar 400.000 neue Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 Sozialwohnungen, „Schluss mit der Kinderarmut“ (konkret wird es allerdings nicht an der Stelle), und ein stabiles Rentenniveau – auch an dieser Stelle verbunden mit Kritik an Union und FDP. Scholz lobt die sozialdemokratische Rentenpolitik, seine Formel ist: „Mehr Beschäftigung bedeutet stabile Renten.“ Dass aber die stabilen Renten nur möglich sind, weil die Zuschüsse des Staates inzwischen über 100 Milliarden Euro jährlich liegen, verschweigt Scholz seinen Zuhörern. Und ebenso, dass die jetzige Koalition anstatt einer dringend nötigen Reform nur eine Rentenkommission hervorbrachte, die am Ende ein Nicht-Ergebnis gebar.

Wirtschaft first, Klimaschutz second

Stattdessen spricht Scholz vom Respekt. Respekt verdienen die Pflegekräfte – mit deren tariflicher Bezahlung Scholz nun endlich Ernst machen will. Den Geringverdienern verspricht er gleich zu Anfang der Legislaturperiode 12 Euro Mindestlohn – eine „Gehaltserhöhung für zehn Millionen Bürger.“ Das soll die Wunden heilen, die Schröder einst in der sozialdemokratischen Wählerschaft mit der Agenda 2010 riss. Allerdings hat ihn die Linke an dieser Stelle schon links überholt: Sie fordert 13 Euro.

Wohl der wichtigste Unterschied zu den Grünen: Es dauert eine halbe Stunde, bis Scholz auf den Kampf gegen den Klimawandel zu sprechen kommt, auf das Ziel, bis 2045 CO2-neutral zu werden. Es sei das „größte industrielle Modernisierungsprojekt, das in Deutschland seit weit über 100 Jahren stattgefunden hat.“ Und wieder ist es die Union, die sich bisher beim Ausbau der Erneuerbaren gedrückt habe, wie Scholz sagt. Die Unionsparteien seien ein „Standortrisiko, ein Risiko für Wohlstand und Industrie in Deutschland.“ Er dagegen will im ersten Jahr der Regierung die Ausbauziele für Wind- und Solarkraft festlegen und die Gesetze ändern, um die Genehmigungsverfahren zu verkürzen.

Die Nähe zu den Grünen ist bei Scholz offenkundig – gäbe es eine Regierungsoption für Rot-Grün wie 1998, fiele der Wahlkampf wohl leichter: „Die besten Freunde von den Grünen“, sagt Scholz, seien für die richtigen Ziele. Sie hätten jedoch eine „kleine Schwäche bei der Umsetzung“, bräuchten also sozialdemokratische Führung wie unter Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz.

„Ich bitte alle, ganz leise zu sein.“

Scholz schließt mit einem Moment der Ehrlichkeit: „Wahltag ist am 26. September, deshalb bitte ich alle, ganz leise zu sein“, sagt er mit Blick auf die Umfragewerte. Ein Schröder hätte jetzt unter tosendem Beifall gerufen: „Deshalb lasst uns kämpfen!“ Scholz sagt mit ruhiger Stimme: „Nutzt die Zeit, mit vielen zu sprechen, ihnen zu sagen: Wer will, dass Olaf Scholz der nächste Kanzler wird, der muss sein Kreuz bei der SPD machen.“ So hatte schon Malu Dreyer die letzte Landtagswahl in Rheinland-Pfalz gewonnen: Wer Dreyer will, muss SPD wählen. Nolens volens.

Nach dem Auftritt nutzt Scholz die Zeit, um ausführlich mit Afghanen zu sprechen, die am Rande der Kundgebung für eine Rettung ihrer Angehörigen demonstriert hatten – allerdings spricht Scholz so leise, dass für Außenstehende kaum zu verstehen ist, worum genau es geht. Da schweift der Blick auf den Prachtbau, der den Bebel-Platz auf der südlichen Seite begrenzt: M.M. Warburg und Co. steht dort in goldenen Lettern. Ist das ein Menetekel? Seine Verwicklung als Hamburger Bürgermeister in den Cum-Ex-Skandal der noblen Warburg-Bank könnte etwas sein, das den populären Kanzlerkandidaten auf den letzten Metern noch ins Stolpern bringen könnte. Aber wie hatte Scholz gesagt? „Deshalb bitte ich alle, ganz leise zu sein.“

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