Zehn Jahre Selbstenttarnung des NSU - „Der Rechtsterror wirkt bis heute fort“
INTERVIEW MIT IRENE MIHALIC am 4. November 2021
Heute vor zehn Jahren flog die rechtsextreme Terrorzelle NSU auf. Weder parlamentarische Untersuchungsausschüsse noch der NSU-Prozess konnten die Mordserie aufklären. Die Sicherheitsexpertin der Grünen, Irene Mihalic, fordert deshalb, der Fall müsse neu aufgerollt werden.
In ihrem Wohnmobil sollen sich die Täter selbst umgebracht haben. Aber war es wirklich so? / dpa
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Autoreninfo
Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.
Irene Mihalic ist Sicherheitsexpertin der Grünen. Als solche saß sie im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags und im Untersuchungsausschuss über den Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz. Sie ist ausgebildete Polizeibeamtin und promovierte Polizeiwissenschaftlerin.
Frau Mihalic, heute vor zehn Jahren wurden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Banküberfall tot in einem Wohnmobil in Eisenach gefunden. Nach den Ermittlungen soll Mundlos erst Böhnhardt und dann sich selbst erschossen haben, nachdem er über den Polizeifunk erfahren hatte, dass ihnen die Polizei auf der Spur war. Ob das stimmt, daran gibt es bis heute Zweifel. Was ist Ihr Eindruck?
Das war einer der schwierigsten Punkte, die wir im Untersuchungsausschuss aufzuklären hatten. Wir müssen wahrscheinlich damit leben, dass wir die Frage, was genau am 4. November passiert ist, wohl nie beantworten können.
Sie haben Fotos aus dem Wohnwagen gesehen ...
... wir haben uns sogar den Wohnwagen angesehen auf dem Gelände des Bundeskriminalamts in Meckenheim. Wir sind da mit dem Untersuchungsausschuss hingefahren und haben uns das zeigen lassen, wohlgemerkt Jahre später. Und klar, die Theorie der Polizei ließ sich vor Ort nachvollziehen. Aber andere Theorien sind eben genauso schlüssig. Wenn man nicht vollständigen Zugang zu allen Unterlagen hat und wenn die Aufklärung seitens der Verantwortlichen nicht vollumfänglich unterstützt wird, stößt man eben an Grenzen.
Man muss das Ganze größer fassen. Auch die Theorie, dass Mundlos und Böhnhardt isoliert mordend durchs Land gezogen sind, lässt Raum für Spekulationen. An keinem der NSU-Tatorte ist zum Beispiel DNA von den beiden gefunden worden. Es hat lange gedauert, um herauszuarbeiten, dass das NSU-Trio nur eine Zelle dieses „führerlosen Widerstands“ war, der bis heute fortwirkt. Die Ermittlungsbehörden haben aber jahrelang daran festgehalten, dass es sich um ein isoliertes Trio handele. Das große Netzwerk drumherum, das hat man nicht analysiert. Aber es spricht fast alles dafür, dass es dieses Netzwerk gegeben hat.
Was macht Sie da so sicher?
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Anders ist nicht zu erklären, dass sie jahrelang unerkannt im Untergrund leben konnten. Wer hat sie dabei unterstützt? Wer hat ihnen geholfen, die Tatorte auszuwählen? Dafür brauchte man besondere Ortskenntnisse. Es ist aber immer noch nicht geklärt, warum gerade diese Opfer sterben mussten. Zum Beispiel die Polizistin Michèle Kiesewetter. Wenn es nur darum gegangen wäre, an eine Polizeipistole zu gelangen, hätte es andere Möglichkeiten gegeben.
Sie sind ausgebildete Polizistin und Kriminalwissenschaftlerin. Wie kann es sein, dass die beiden an keinem einzigen Tatort DNA hinterließen?
Gute Frage. Das kann mehrere Ursache haben. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Mundlos und Böhnhard sogenannte „schlechte Überträger“ waren. Es gibt immer Menschen, die nicht sehr leicht DNA-Spuren hinterlassen. Vielleicht waren sie aber auch nur besonders vorsichtig. Und vielleicht waren andere Menschen an den Taten beteiligt.
An den Tatorten hat man massenhaft DNA-Spuren von Dritten gefunden.
Klar, die Orte waren ja auch alle öffentlich. Herauszufiltern, ob es darunter auch Spuren von mutmaßlich Beteiligten gibt, ist aber ungeheuer schwer. Deswegen musste man sich auf Indizien stützen. Und da gibt es das Bekennervideo und andere Hinweise in der Wohnung in Zwickau, die darauf hindeuten, dass die drei in einem engen Zusammenhang mit diesen Taten stehen. Der Punkt ist aber, dass wir viel zu wenig wissen über die Funktionsweise des Rechtsterrorismus.
Als die Polizei die Leichen der beiden Uwes fand, hatte sie da ansatzweise eine Ahnung davon, mit wem sie es zu tun hatte?
Am Ende wahrscheinlich schon. Aber erst mit der Selbstenttarnung sind wichtige Steine ins Rollen gekommen. Ohne sie hätte die Polizei wahrscheinlich noch eine Weile im Nebel gestochert. Die Frage ist: Wie nahe waren die Sicherheitsbehörden an dem Trio dran? Hätte man ihm nicht vorher auf die Schliche kommen können? Das ganze V-Leute-Wesen spielt da eine große Rolle. Das muss aufgearbeitet werden.
Ist es nicht denkbar, dass die beiden von V-Männern umgebracht wurden?
Diese Verschwörungstheorie stand durchaus im Raum, dass die Sicherheitsbehörden mit ihrem Tod in irgendeinem Zusammenhang stehen. Oder dass eine weitere Person eine Rolle gespielt hat. Das ist aber bis heute nicht erwiesen. Wir haben bis heute keine schlüssige Erklärung gefunden, dass es anders gewesen sein könnte als dieser Doppelsuizid. Deshalb ist es wichtig, dass man unter die Aufklärung keinen Schlussstrich zieht, wie es Horst Seehofer zum Jahrestag getan hat. Das muss weiter aufgearbeitet werden.
Schon im Juni haben Sie mit Blick auf die rechtsextremen Anschläge der vergangenen Jahre – von Hanau, Halle und den Mord am hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke – gefordert, dass es in der nächsten Legislaturperiode einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss geben müsse. Jetzt sind die Grünen in der glücklichen Lage, dass sie mit in der neuen Regierung sitzen. War Ihre Forderung Bedingung für die Koalitionsverhandlungen?
Über die Verhandlungen werden Sie von mir nichts erfahren, darüber haben wir Stillschweigen vereinbart. Es ist aber wichtig, dass wir nicht nur über den NSU-Komplex von damals sprechen. Der Rechtsterrorismus wirkt bis heute fort. In den Sicherheitsbehörden sind Netzwerke aufgeflogen, die sich auf einen Tag X vorbereiten. So etwas muss uns selbstverständlich umtreiben.
Sie haben mal gesagt, die NSU-Mordserie sei „die schwelende Wunde im Rechtsstaat“. Welches Gewicht hat der NSU-Komplex in der deutschen Nachkriegsgeschichte, und was würde es bedeuten, wenn die vielen offenen Fragen niemals aufgeklärt werden würden?
Der Rechtsterrorismus hat sich in der Bundesrepublik in größerer Dimension erstmals mit dem Oktoberfest-Attentat 1980 gezeigt. Anfang der 90er-Jahre kamen die massiven Anschläge auf Flüchtlingsheime und Wohnhäuser und seit Mitte der 90er die neue Strategie der „leaderless resistance“ hinzu, unter anderem umgesetzt vom Terror-Trio des NSU. Es gibt eine Kontinuitätslinie zwischen diesen Geschehnissen – und ganz konkrete Personen, die dafür stehen –, die im Ansatz noch nicht aufgearbeitet ist. Und es ist deshalb eine schwelende Wunde, weil der NSU-Komplex zu einer massiven Verunsicherung in der Gesellschaft geführt hat, die bis heute fortwirkt. Es gibt relevante Teile der Gesellschaft, die den Sicherheitsbehörden deshalb bis heute misstrauen.
... natürlich, und sämtliche Communities in diesem Zusammenhang. Das kann uns nicht kalt lassen. Da können wir uns nicht zurücklehnen und sagen, ja gut, das sind halt die anderen. Es geht darum, das Vertrauen in den Staat wiederaufzubauen. Das ist zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des Trios nicht geschehen, wenn Sie zum Beispiel an den Mord an Walter Lübcke denken.
Und derselbe Temme hat pikanterweise nach seiner Tätigkeit beim Verfassungsschutz im Landratsamt von Walter Lübcke gearbeitet. Das heißt, die kannten sich auch. Wenn sich so viele Zufälle ereignet haben sollen, kann ich nur sagen: Das ist schwer zu glauben. Deswegen drängt sich die Frage auf, ob nicht doch mehr Zusammenhänge zwischen Personen, Komplexen und Taten bestehen als bisher bekannt.
Wie schwer war es für Sie im Untersuchungsausschuss, die Ereignisse aufzuarbeiten? Der Verfassungsschutz hatte vorher hunderte Akten geschreddert und einen wichtigen Ordner bis 2134 unter Verschluss gestellt – also für die nächsten 120 Jahre.
Wir haben weder die Akten bekommen noch die Zeugen gehört. Das war ja der Skandal, dass in den Wochen nach dem 4. November 2011 im Keller des Bundesamtes für Verfassungsschutz die Schredder heiß liefen. Ein Referatsleiter hat Akten vernichtet, angeblich, weil die Daten sowieso gelöscht werden müssten. Dass das nicht stimmte, haben wir im Untersuchungsausschuss herausgearbeitet. 2014 hat derselbe Referatsleiter der Staatsanwaltschaft gesagt, der Verfassungsschutz habe nicht gewollt, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass er so viele V-Leute im Umfeld des NSU-Trios hatte. Daran sehen Sie, dass auch staatliche Stellen die Aufklärung blockiert und ihren Beitrag zu verschleiern versucht haben.
Die Grünen haben sehr wohl protestiert. Aber ihnen untersteht nicht das Innenministerium. Die Aufklärung ist für alle Parteien schwierig, nicht nur in Hessen. Alle haben in irgendeinem Bundesland regiert, wo es Zusammenhänge mit dem NSU-Komplex gegeben hat. Das gilt sogar für die Linkspartei. Da kann sich niemand aus der Verantwortung stehlen.
Man weiß heute, dass der Verfassungsschutz V-Leute in der Szene vor Strafverfolgungsbehörden gewarnt und auf Staatsanwälte eingewirkt hat. Er hat die Informanten aus dem NSU-Umfeld auch bezahlt. Würden Sie so weit gehen und sagen, ohne den Verfassungsschutz wäre der NSU-Komplex nie so mächtig geworden?
Nein, so weit kann man nicht gehen. Ich würde auch nicht so weit gehen zu sagen, der Verfassungsschutz hätte wegen dieser NSU-Geschichte keine Daseinsberechtigung mehr. Die Frage ist aber: Welche Rolle soll der Nachrichtendienst spielen? Und: Werden die entscheidenden Lehren daraus gezogen – zum Beispiel mit Blick auf die V-Leute?
Danach sieht es gerade nicht aus. Der Verfassungsschutz wurde zwar personell massiv aufgestockt, aber auch im Fall Lübcke und im Fall Halle hat er an entscheidenden Stellen versagt.
Das betrifft aber die parlamentarische Aufklärungsarbeit. Da hatten wir eine Art Déjà-vu-Erlebnis. Das hat etwas mit einer mangelnden Fehlerkultur zu tun. Und die betrifft das Bundesamt und die 16 Landesämter für Verfassungsschutz genauso wie die Strafverfolgungsbehörden.
Brauchen wir den Verfassungsschutz überhaupt?
Ja, der spielt eine wichtige Rolle in unserer Sicherheitsarchitektur. Wir haben aus gutem Grund ein Trennungsgebot in Deutschland. Die, die alles dürfen – wie die Polizei –, dürfen nicht alles wissen wie der Verfassungsschutz. Der hat seinerseits keine polizeilichen Befugnisse. Diese Trennung hat sich bewährt. Es ist eine wichtige Lehre aus unserer Geschichte.
Aber ist es sinnvoll, dass jedes Bundesland seinen eigenen Verfassungsschutz unterhält?
Über die Strukturen muss man natürlich sprechen. Die Frage ist, ob es Sinn macht, das föderal aufzustellen. Aber die Strukturfrage ist gar nicht entscheidend.
Sondern?
Entscheidend ist die Analysefähigkeit in den Behörden. Die müssen wir dringend verbessern. Es geht darum, mögliche Netzwerkstrukturen zu erkennen. Alles, was ich über das Phänomen Rechtsterrorismus weiß, weiß ich nicht vom Verfassungsschutz, sondern von engagierten Journalisten und Journalistinnen – und von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Die haben sich tief in diese Zusammenhänge eingegraben. Sie können ein Vorbild für die zukünftige Arbeit des Verfassungsschutzes sein.