Recherchen zu „NSU 2.0“-Drohmails - „Wie eine Schnitzeljagd“

Am 9. September 2000 fiel Enver Şimşek als Erster dem nationalsozialistischen Untergrund zum Opfer. Heute, 20 Jahre später, kursieren Drohmails mit dem Absender „NSU 2.0“. Aktuelle Recherchen der taz führen auf eine heiße Spur.

Zielscheibe des „NSU 2.0" ist auch die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah / dpa
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Autoreninfo

Johanna Jürgens hospitiert bei Cicero. Sie studiert Publizistik und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor arbeitete sie als Redaktionsassistenz beim Inforadio des RBB.

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Im Juni diesen Jahres erschien in der taz ein Text der Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah, in dem sie, satirisch überspitzt, die Abschaffung der Polizei forderte. Die Aufregung war groß, auch weil Innenminister Horst Seehofer Anzeige gegen die Autorin erstatten wollte, von der er dann schließlich doch absah. Auch Drohmails, die mit dem Pseudonym „NSU 2.0“ unterzeichnet waren, erreichten die Kolumnistin - wie taz-Recherchen nun zeigen, hatte der Absender es jedoch schon lange vor dem polizeikritischen Text auf Yaghoobifarah abgesehen. Die Rekonstruktion der Ereignisse liefert neue Spuren. 

Erstes Ziel war Anwältin der Familie Şimşek

Seit zwei Jahren verschickt der sogenannte „NSU 2.0“ Drohungen via Fax, E-Mail oder SMS. Das erste bekannte Ziel war die Frankfurter Anwältin Sera Başay-Yıldız, die Anwältin der Nebenklage für die Familie von Enver Şimşek im NSU-Prozess. Am 2. August 2018 erhielt die Juristin ein Fax mit der Drohung, man würde ihre Tochter als Vergeltung „schlachten“.

Im Text enthalten war nicht nur der Name ihrer Tochter, sondern auch die Wohnanschrift der Familie. Daten, die genau an jenem Tag von Polizeicomputern abgefragt worden waren, wie die Frankfurter Ermittler später herausfinden sollten. Die Liste der Adressaten wurde in den vergangenen Monaten immer länger, auf ihr befinden sich unter anderem die Kabarettistin İdil Baydar und die Linken-Politikerin Janine Wissler.

Unbekannter Anrufer nach ersten Drohschreiben

Ein Vorfall aus dem Jahr 2018, den die taz rekonstruiert hat, scheint nun zu beweisen, dass die Drohungen gegen die Frauen alle miteinander zusammenhängen. Knapp zwei Wochen nach dem ersten Drohschreiben an Başay-Yıldız meldete sich demnach ein Anrufer in der taz-Redaktion. Gegenüber der stellvertretenden Chefredakteurin gab der Mann an, er sei ein Polizist vom Abschnitt 36, Berlin-Wedding. Er brauche die Daten der Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah, da diese Strafanzeige gegen unbekannt erstattet habe.

Yaghoobifarah hatte keine derartige Anzeige erstattet. Als der Anrufer die Daten der Kolumnistin nicht bekommt, beendet er das Gespräch mit den Worten: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Nach Angaben der taz war dies nicht der erste Versuch, an die Daten von Hengameh Yaghoobifarah zu gelangen. 

Verbindung zu „NSU 2.0“

Ein Jahr später erhält die taz eine E-Mail, in der die stellvertretende Chefredakteurin als „Volksschädling“ bezeichnet wird. Der Absender verweist auf das Telefonat vom Vorjahr, in dem er bereits deutlich gemacht habe, dass sich Hengameh ­Yaghoobifarah zurückzuhalten habe. 

Mehrere Hinweise deuten auf eine Verbindung zu den „NSU 2.0“-Drohschreiben: Die E-Mail wurde von der Adresse mit der Endung „yandex.com“ gesendet, die die Ermittler dem „NSU 2.0“ zuordnen. Außerdem enthält das Schreiben Insiderinformationen, die auch in anderen Drohbriefen enthalten waren, darunter die Wohnadresse der Rechtsanwältin Başay-Yıldız. 

Erneute Drohung nach polizeikritischem Text 

Im Juni dieses Jahres, knapp eine Woche nach Yaghoobifarahs Text „All Cops are berufsunfähig“, erhält die Redaktion wieder ein Drohschreiben, diesmal über das Kontaktformular der Website, wieder über die „Yandex“-Adresse.

Der Verfasser nimmt klaren Bezug auf die vorhergegangenen Anrufe, sagt, er habe „schon am 22. August 2018 telefonisch höchstpersönlich klargemacht“, dass er „Hengameh Yaghoobifarah […] ganz besonders zutreffend betreuen“ werde. Angegeben ist außerdem eine Frankfurter Adresse, die der neuen Wohnung von Sera Başay-Yıldız. Laut Innenminister Beuth gab es in Hessen keine polizeiliche Abfrage der neuen Anschrift, im Melderegister war sie jedoch gesperrt. 

Klarer Zusammenhang zwischen Anruf und Fax

Die Anrufe und Drohungen gegen Hengameh Yaghoobifarah belegen einen Zusammenhang zwischen den „Yandex“-Mails und den Drohfaxen an Başay-Yıldız und liefern zudem auch Hinweise auf den Absender der Drohschreiben. Aktuellen Recherchen der Süddeutschen Zeitung und des WDR zufolge haben Sonderermittler aus Hessen in Neukölln und Spandau zwei Polizeibeamte vernommen. Sie stehen im Verdacht, private Daten der Kabarettistin Idil Baydar und der taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah abgefragt zu haben, kurz bevor diese Drohschreiben des „NSU 2.0“ erhielten. 

Zwanzig Jahre nach dem Mord an Enver Şimşek durch den nationalsozialistischen Untergrund sind die aktuellen Recherchen besonders bedrückend. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt finden offenbar weiterhin Anhänger, die sich die Taten des NSU zum Vorbild nehmen, ihr Gedankengut reproduzieren. Die modernen Rechtsextremen sind gut vernetzt, haben aller Wahrscheinlichkeit nach auch Helfer bei der Polizei. So können sie bundesweit alles dafür tun, diejenigen mundtot zu machen, die sich den Kampf gegen den Faschismus auf die Fahne geschrieben haben – per Mail, Fax oder SMS. 

In Anbetracht der Drohschreiben, mit denen sich Yaghoobifarah in den vergangenen Jahren auseinandersetzen musste, erscheint auch ihre Kolumne in einem anderen Licht. 

Die ganze Recherche der taz können Sie hier nachlesen.

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