Streit wegen Notbremsengesetz - Ist unser Föderalismus noch zeitgemäß?

Mit dem gestern verabschiedeten „Notbremsengesetz“ sei angeblich der deutsche Föderalismus in Gefahr, heißt es von Kritikern. Dabei war der Föderalismus ursprünglich nur als Behelfslösung gedacht. Die wirkliche Gefahr für das Land sind seine überkommenen Strukturen.

Angela Merkel am Mittwoch bei der Abstimmung zum Infektionsschutzgesetz / dpa
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Dr. Uwe Dietsche ist Latinist und Mitarbeiter der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommern.

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Es ist vollbracht. Das Bevölkerungsschutzgesetz, im Volksmund „Notbremsengesetz“, wurde mit den Stimmen der Regierungskoalition im Bundestag verabschiedet. Dies feiern nicht nur CDU und SPD als Erfolg. Auch die Grünen, denen das Gesetz nicht weit genug ging und die sich deshalb enthielten, atmeten hörbar auf: Die „bundeseinheitliche Rahmung“ und damit die Einschränkung des Föderalismus sei „überfällig“ gewesen, bekannte die Grünen-Abgeordnete Maria Klein-Schmeink erleichert.

Selbst die FDP, die ihre Zustimmung verweigerte, sah zumindest im Verfahren einen Gewinn. Immerhin hätte man gezeigt, „dass ein zügiges Verfahren möglich ist.“

Der Föderalismus wurzelt bekanntlich tief im Grundgesetz. Doch dieses war von seinen Schöpfern nur als Behelfslösung gedacht. Es sei ein „Schuppen“, wie sich Carlo Schmid (SPD) in der abschließenden Debatte des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 ausdrückte, ein „Notbau“, um über die nächsten Monate oder Jahre zu kommen.

Doch Provisorien halten bekanntlich länger. Der Schuppen steht noch heute. Über die Jahre erstarrte er gleichsam zum lebenden Denkmal. Sich heute auf das Grundgesetz zu berufen heißt, eine nahezu unendliche Autorität für sich zu reklamieren; einen Angriff auf es zu vermelden bedeutet umgekehrt, einen Staatsfeind zu enttarnen. Ausgerechnet die AfD bediente nun diesen Topos und schlug Alarm. Die Kanzlerin lege mit der Notbremse „die Axt an die Wurzeln der föderalen Architektur der Bundesrepublik“.

Fundamentale Reform

Ganz so einfach liegt der Fall indes nicht. Denn die Genese des Gesetzes ließ in der Tat aufhorchen. Immerhin deutete nicht erst Merkels leise Drohung bei Anne Will auf tektonische Kräfteverschiebungen im Staat hin. Bereits im Januar hatte der Chef der CDU-Regierungsfraktion, Ralph Brinkhaus, deutliche Kritik an der Performanz der föderalen Akteure in der Coronakrise geübt und eine fundamentale Reform des Föderalismus angemahnt. Schließlich stünden „nicht Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern im Wettbewerb, sondern Deutschland und China“.

Unmittelbar nach der desaströsen letzten Beratung der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten ließ er verlauten, das föderale Entscheidungsdurcheinander sei „in der Krise immer ein Problem“. Es schien also keinesfalls abwegig, dass das Notbremsengesetz zum Ausgangspunkt einer tiefgreifenden Reform der föderalen Ordnung hätte werden können.

Legitimität vs. Effektivität 

Was das politische Deutschland erst mühsam in der Corona-Pandemie lernen musste, hätte man mit Blick auf die Verfassungsgeschichte moderner Demokratien auch schon früher wissen können. Das Problem der Machtbalance zwischen Bund und Ländern stand bereits vor mehr als 200 Jahren im Zentrum der Diskussionen in den Federalist Papers über die Gründung der USA. Im Kern beruht das Problem auf dem Widerstreit zweier gleich wichtiger Prinzipien in volkssouveränen Staaten: Legitimität und Effektivität. Ersteres verlangt nach Volksnähe, Mitsprache, Eigenverwaltung; letzteres nach zentraler Steuerung und unmittelbarer Entscheidungsgewalt.

Beide Prinzipien sind raumgreifend, sie tendieren jeweils zur Vorherrschaft über das andere. Gelingt es dem Staat nicht, sie auszubalancieren, gerät er ins Trudeln. Tödlich ist es, wenn die Exekutivgewalt ebenso pluralistisch ausgestaltet wird wie die Legislative. Denn „wie im Feld“, sagen die Federalists, „so gibt es auch im Kabinett Momente, die ergriffen werden müssen, wie sie sich gerade ergeben. Denjenigen, die in einem von beiden die Führung innehaben, sollte daher die Möglichkeit gegeben werden, solche Momente zu nutzen“. So entstand in der Verfassung von 1788 das starke Präsidentenamt, das der pluralistischen Willensbildung in Parlament und Senat das Prinzip der Tatkraft entgegensetze.

Diktatur als Totschlagargument

Nun hat zwar Donald Trump bewiesen, dass auch dieses Modell seine Schwächen hat, doch man muss den Amerikanern zugute halten, dass sie wenigstens eine Lösung für die Grundfrage anzubieten haben.

Deutschland ist hier schwerfälliger. Das hat historische Gründe. Denn hierzulande werden Überlegungen zur Stärkung der Zentralgewalt für gewöhnlich mit dem Totschlagargument gekontert, man rede damit der Diktatur das Wort. Unser Föderalismus sei extra deshalb eingerichtet worden, damit sich so etwas wie die Machtergreifung Hitlers nicht wiederholen könne.

Allenfalls könnte man den westlichen Alliierten ein solches Motiv unterstellen, als sie die föderale Ordnung 1948 zur Vorgabe an die Arbeit des Parlamentarischen Rates machten. Letzterer aber schätzte die Wirkung des Föderalprinzips als begrenzt ein. Nicht die Föderalisierung Deutschlands, stellte ebenfalls Carlo Schmid klar, sondern bestenfalls die Demokratisierung könne eine Versicherung gegen den Rückfall in die Barbarei sein.

Das, was am Ende der Arbeit herauskam, überzeugte nicht einmal den späteren  Bundespräsidenten Theodor Heuss. Man habe, orakelte er, mit dem geschaffenen „Experiment“ vermutlich einen wahren „Föderalismus der Bürokratie“ produziert.

Die Pandemie scheint ihm nun Recht zu geben. Die Verhakelungen insbesondere im Datenaustausch zwischen Bund, Robert-Koch-Institut, Ländern sowie den 403 Kreisen und kreisfreien Städte in Deutschland sind sattsam bekannt. Das Hin und Her in Sachen Lockdown ebenso. Es gäbe also gute Gründe, den Föderalismus zu überdenken und nicht immer gleich die Keule der Verfassungswidrigkeit herauszuholen. Seit Jahren belegen Umfragen, dass dafür eine breite Mehrheit in der Bevölkerung bestünde.

Gesetz ohne Flughöhe

Doch die Aufregung ist im konkreten Fall umsonst: Das neue Gesetz erreicht nicht ansatzweise diese Flughöhe. Ganz im Gegenteil: Es nutzt nicht einmal den Raum, den es grundgesetzlich bereits hat. Einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zufolge hätte der Bund sich schon längst den Hut aufsetzen und in Sachen Corona-Bekämpfung die Länder zu seinen Erfüllungsgehilfen machen können, wie es etwa beim Bundesstraßenbau Usus ist. Statt dessen arbeitet sich das Infektionsschutzgesetz pedantisch durch altbekannte Einzelbestimmungen: Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen, Testpflichten.

Natürlich können selbst diese unverhältnismäßig und verfassungswidrig sein; und die FDP hält das für gegeben und kündigte noch in der Sitzung Verfassungsbeschwerde an. Doch eine grundlegende Neuordnung des Bund-Länder-Gefüges droht mit ihnen ebenso wenig wie von der heiß diskutierten Verordnungsermächtigung. Kaum erteilt, wird diese nämlich gleich wieder bewehrt durch den Zustimmungsvorbehalt von Bundestag und Bundesrat. Sie ist ein „Freibrief“, mit dem man jeden um Erlaubnis für alles fragen muss.

Weder Axt im Wald noch Abrissbirne des Parlamentarismus 

Der Befreiungsschlag blieb demnach vorerst aus. Das Gesetz ist weder Axt im Wald noch, wie Linken-Fraktionschef Bartsch mutmaßte, „Abrissbirne des Parlamentarismus“. Eher ist es die berühmte Maus, die der Berg nach heftigem Kreißen zur Welt brachte. Die Grundsatzfrage, wie Föderalismus und Bürokratie eigentlich für den digitalisierten Globalkapitalismus fit gemacht werden können, hat kein Abgeordneter mehr gestellt. Nicht einmal Ralph Brinkhaus, der nun nicht mehr die Reform des Föderalismus, sondern nur noch den „Respekt“ vor ihm beschwor.

Einmal mehr wurde am Haus des deutschen Föderalstaates bloß der herrschaftliche Putz, der von der Fassade bröckelt, erneuert. In seinem Kern aber ist und bleibt er der Schuppen von 1949.

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