Next Generation EU - Worum es wirklich geht

Vor dem Hintergrund der Corona-Krise wird die europäische Finanzverfassung grundlegend überarbeitet: Die EU soll künftig Schulden aufnehmen und Steuern erheben können. Aber wer hat hier eigentlich das Sagen und was bedeutet das alles rechtlich? Eine knochentrockene juristische Analyse.

Mark Rutte (l.), Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron beim Sondergipfel am 18. Juli / picture alliance
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Frank Schorkopf ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Göttingen

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I. Europapolitischer Rahmen – das Beschlossene im Überblick

Der Europäische Rat hat sich auf seiner außerordentlichen Tagung vom 17. bis 21. Juli 2020 politisch auf eine komplexe Änderung der EU-Finanzverfassung geeinigt. Das Ergebnis läuft unter der Überschrift „Next Generation EU“ (NGEU), einem neuen Extra-Haushalt der EU im Umfang von 750 Milliarden Euro. 

Mit dem Geld sollen die Folgen der Corona-Pandemie in den Mitgliedstaaten bewältigt werden. Dazu werden Teilsummen den bestehende EU-Förderprogrammen zugewiesen, der Löwenanteil in Höhe von 672,5 Mrd. Euro wird jedoch in eine neu aufgelegte „Aufbau- und Resilienzfazilität“ eingebracht. Organisatorisch angesteuert werden die Programme über ein sogenanntes Aufbauinstrument, mit dem die EU die Finanzmittel zuweist und Maßnahmen identifiziert. 

Das Beschlossene ist aufgrund von Neuerungen auf der Einnahmen- wie der Ausgabenseite unübersichtlich. Denn der politische Wille des Europäischen Rates muss in Rechtsakte übersetzt werden, die eine tragfähige Ermächtigungsgrundlage in den Verträgen voraussetzen und auch im Übrigen mit dem Primärrecht vereinbar sein müssen. Teilweise muss das Europäische Parlament (EP) diesen Rechtsakten noch zustimmen, teilweise müssen die nationalen Parlamente – in Deutschland also Bundestag und Bundesrat – diese sogar ratifizieren.   

Das Instrument ist in den mehrjährigen Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027 eingebettet, über den die Mitgliedstaaten bereits vor der Pandemie streitig verhandelt haben. Organisatorisch ist der NGEU gerahmt durch ein sogenanntes Aufbauinstrument (EURI-Verordnung). 
Eine der Neuheiten ist die Finanzierung des NGEU über die Begebung von EU-Anleihen, die über den EU-Haushalt abgesichert sind und von den Mitgliedstaaten zurückgezahlt werden sollen. Zur rechtlichen Umsetzung dieser Konstruktion soll deshalb der Eigenmittelbeschluss des Rates geändert werden.

Auch der Mehrjährige Finanzrahmen der EU spielt eine Rolle, der ohnehin für den Zeitraum von 2021 bis 2027 erneuert werden musste. Auf der Ausgabenseite werden die Finanzmittel zum größeren Teil als verlorene Zuschüsse und zum geringeren Teil als Kredite vergeben, allerdings nicht – wie in der Euro-Staatsschuldenkrise – durch neue zwischenstaatliche Institutionen, sondern über den EU-Haushalt. 
Mit Blick auf die ausstehende rechtliche Konkretisierung der Beschlüsse des Europäischen Rates geht es im Folgenden um eine Beurteilung der politischen Beschlüsse zu den Eigenmiteln (II.), zum mehrjährigen Finanzrahmen (III.) und zum NGEU (IV.) aus juristischer Perspektive, mit besonderer Aufmerksamkeit auf deren Primärrechtskonformität und der parlamen-tarischen Beteiligung der Mitgliedstaaten.

II. Eigenmittelbeschluss

1. Der Eigenmittelbeschluss ist ein im vertraglichen Primärrecht (Art. 311 Abs. 1 bis 4 AEUV) vorgesehener Rechtsakt der EU. Dieser Rechtsakt steht für die Ausgestaltung der Einnahmenseite des Finanzierungssystems sowie Umfang und Struktur der daraus entstehenden nationalen Finanzierungsanteile am EU-Haushalt. Er legt die Kategorien von Finanzierungsquellen und eine Obergrenze für die Einnahmen fest. 
Ausdrücklich erwähnt der Wortlaut von Art. 311 Abs. 3  des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV), dass neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt oder aufgehoben werden können, was seit einigen Jahren in der EU bereits diskutiert wird. Der Rechtsakt wird vom Rat einstimmig – nach lediglich einer Anhörung des EP – beschlossen. 

Der Eigenmittelbeschluss ist von den Mitgliedstaaten nach den Vorgaben des jeweiligen nationalen Verfassungsrechts zu ratifizieren. Da die Bundesrepublik mit der Ratifikation Hoheitsrechte auf die EU überträgt (Steuerhoheit, Kreditaufnahme faktisch zu Lasten des Bundeshaushalts), benennt das Integrationsverantwortungsgesetz den Eigenmittelbeschluss ausdrücklich als einen zustimmungsbedürftigen Unionsrechtsakt. Das bedeutet, dass der Bundestag vor einer Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat ein Gesetz nach Artikel 23 Absatz 2 Grundgesetz, § 3 Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG) an-nehmen muss, um den Vertreter entsprechend zu autorisieren. Der Bundesrat muss diesem Gesetz zustimmen.

Die offene Frage ist, mit welcher Mehrheit der Bundestag ein solches Gesetz beschließen müsste: mit einfacher oder sogar mit Zweidrittelmehrheit? Die Frage der parlamentarischen Mehrheitserfordernisse spielt gegenwärtig eine politische Rolle im Deutschen Bundestag, weil die Regierungskoalition für eine Zweidrittelmehrheit wenigstens die Unterstützung von zwei kleineren Fraktionen (Bündnis 90/Die Grünen, FDP) benötigt. Es werden zunehmend Kontroversen über das Mehrheitserfordernis bei europabezogenen Entscheidungen des Bundestages ausgetragen. 

Die letzte Änderung des Eigenmittelbeschlusses im Jahr 2015 ist auf der Grundlage von Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG, § 3 IntVG mit einfacher Mehrheit ratifiziert worden (Bundestags-Drucksache 18/4047). Interessant ist, dass die Bundesregierung den Gesetzentwurf zusätzlich auf Artikel 59 Absatz 2 GG gestützt hat. Es handelt sich um die Ratifikationskompetenz für klassisch völkerrechtliche Verträge. Diese Bezugnahme lässt darauf schließen, dass die Bundesregierung den Eigenmittelbeschluss als eine Primärrechtsänderung versteht.

Bemerkenswert ist außerdem, dass die Ratifikation im Jahr 2015 den Ratsbeschluss rückwirkend zum 1.1.2015 in Kraft gesetzt hat. Eine entsprechende Rückwirkung auf den 1.1.2021 ist auch für den neuen Eigenmittelbeschluss vorgesehen (Europäischer Rat, Schlussfolgerungen vom 21.7.2020, Rn. 141). Käme es zu einer Verzögerung bei der mitgliedstaatlichen Ratifikation, wirkte diese sich so nicht den EU-Haushalt aus – dadurch wird aber auch deutlich, dass die Regierungen die parlamentarische Ratifikation lediglich als Förmlichkeit betrachten, die nur mit einem gemeinschaftlichen „Ja“ enden kann.

2. In der Rechtswissenschaft ist umstritten, zu welcher Kategorie Unionsrecht der Eigenmittelbeschluss gehört: Eine Seite nimmt an, es handele sich um einen Sekundärrechtsakt (Hauptargument: „Beschluss“ des Rates). Die andere Seite ist der Ansicht, es handele sich um einen Akt konkretisierenden Primärrechts (Hauptargument: Ratifikationsbedürftigkeit des Eigenmittelbeschlusses). 

Bei diesem Streit handelt es sich nicht um ein Glasperlenspiel. Denn bei einer Kategorisierung als Sekundärrecht müsste ein Eigenmittelbeschluss dem geltenden Primärrecht genügen. Mit anderen Worten: Der neue Eigenmittelbeschluss könnte und müsste am geltenden Vertragsrecht geprüft werden. So ließe sich etwa prüfen, ob die geplante Aufnahme von EU-Steuern in die Kategorie der Eigenmittel mit dem weiteren Vertragsrecht übereinstimmt. Ist der Eigenmittelbeschluss hingegen selbst Primärrecht, kann er das bereits geltende Vertragsrecht ändern.

3. Die EU-Organe sind der Ansicht, dass der bisherige Kanon an Eigenmitteln um die Steuer erweitert werden kann und erweitert werden sollte. Der Kommissionsvorschlag vom 2018 (COM (2020) 325), den die Kommission im Jahr 2020 ergänzt hat (COM (2020) 445), sieht dazu unter anderem vor:

•    neue Kategorien von Eigenmitteln, d.h. (i) eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, (ii) ein Anteil der Versteigerungseinnahmen aus dem EU-Emissionshandelssystem, (iii) ein nationaler Beitrag, der anhand der anfallen-den nicht wiederverwerteten Verpackungsabfälle aus Kunststoff berechnet wird. 

•    einen Grundsatz, dass zukünftige Einnahmen, die sich unmittelbar aus der EU-Politik ergeben, dem EU-Haushalt zufließen sollten.
Zusätzlich ist in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Juli 2020 die Rede von der Einführung einer originären EU-Finanztransaktionssteuer (Europäischer Rat, Schlussfolgerungen vom 21.7.2020, Rn. A 29). 

Der neue Eigenmittelbeschluss enthält zudem eine Ermächtigung der Kommission, Mittel an den Kapitalmärkten aufzunehmen (Verschuldungskompetenz), und erhöht die bisherige Eigenmittelobergrenze (1,23 Prozent des Bruttonationaleinkommens EU – BNE) auf permanent 1,40 Prozent BNE und bis zum Jahr 2058 befristet um weitere 0,6 Prozent BNE auf insgesamt 2,0 Prozent BNE.

4. Ob die EU sich überhaupt aus der direkten Besteuerung von Unionsbürgern und Unternehmen mit Sitz in der EU finanzieren darf, ist umstritten. Bei der rechtlichen Beurteilung spielt eine Rolle, wie der Eigenmittelbeschluss eingeordnet wird (siehe Ziff. 2).

Ein Besteuerungsgrundlage könnte eine Durchführungsverordnung nach Art. 311 Abs. 4 AEUV sein, die der Rat mit Zustimmung des EP erlassen dürfte (wenn er dazu im Eigenmittelbeschluss ermächtigt werden würde). Die EU-Steuer müsste jedoch bereits im Eigenmittelbeschluss vorgesehen sein, weil es sich um einen intensiven Eingriff in die Rechte der Unionsbürger handelt, den die Mitgliedstaaten nicht den EU-Organen zur Ausführung überlassen dürfen.

Die große Bedeutung von originären EU-Steuern für die Grundrechte der Bürger vor dem Hintergrund von Besteuerung als Kern souveräner Staatlichkeit sowie die Änderung der EU-Finanzstruktur spricht dafür, dass die Zustimmung zum geänderten Eigenmittelbeschluss sogar mit einer Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden müsste (siehe Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 2 GG).

Unabhängig von der prinzipiellen Zulässigkeit einer EU-Steuer ist unstreitig, dass das Vertragsrecht eine Steuerkompetenz bislang nicht enthält. Auch die Kreditermächtigung gegenüber der Kommission ist ein neues Instrument. Zwar gibt es bislang bereits EU-Anleihen, deren Volumen jedoch stark begrenzt ist und deren Einnahmen wiederum für Kredite – und nicht für verlorene Zuschüsse – verwendet werden. Solche Kompetenzerweiterungen wären in jedem Fall „tiefgreifende Veränderungen“ des Unionsrechts.

Abschließend lässt sich noch darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil die „Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme“ zu den „wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung“ zählt, die von der Verfassungsidentität geschützt und damit integrationsfest sind (BVerfGE 123, 267, 358, Rn. 249). Danach könnte eine Ermächtigung der EU zur originären Steuererhebung gegenüber dem Bürger auf eine absolute Grenze der Integration treffen, also verfassungswidrig sein.  

III. Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027

1. Der mehrjährige Finanzrahmen ist eine auf sieben Jahre ausgerichtete Planung über die Ausgabenprioritäten der EU. Der Finanzrahmen ist Grundlage für den jährlichen EU-Haushalt und ist damit ein Instrument der politischen Schwerpunktsetzung.

Der Finanzrahmen konkretisiert den Eigenmittelbeschluss und muss sich, etwa in Bezug auf die Eigenmittelobergrenze, in dessen Rahmen halten. Er wird als Verordnung vom Rat einstimmig mit Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen (Artikel 312 Ab-satz 2 AEUV). 

2. Die Verordnung wird vom Rat ohne weitere Beteiligung der nationalen Parlamente erlassen, eine Ratifikation wie beim Eigenmittelbeschluss ist nicht vorgesehen.

Eine Beteiligung des Bundestages und des Bundesrates erfolgt deshalb bei diesem Rechtsakt nach den allgemeinen Regeln des Artikel 23 Absätze 2 bis 7 GG in Verbindung mit dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) und dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZ-BLG). Der mehrjährige Finanzrahmen ist ein EU-Vorhaben, das beteiligungspflichtig ist (5 Prozent Abs. 1 Nr. 10 EZUBBG).

Die Bundesregierung muss rechtzeitig unterrichten und dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Eine Stellungnahme, zu deren Abgabe der Bundestag nicht verpflichtet ist, hat dann eine gewisse Direktionswirkung gegenüber der Bundesregierung (Einzelheiten: § 8 EUZBBG). Am Ende des Tages kann sich die Bundesregierung jedoch mit ihrem Standpunkt durchsetzen, zumal eine politische Einigung im Europäischen Rat bereits erfolgt ist. Dem Bundestag bleiben die allgemeinen Kontroll- und Disziplinierungsinstrumente.

IV. „Next Generation EU“ (NGEU)

1. Das vom Europäischen Rat auf Vorschlag der Kommission beschlossene NGEU soll eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts verhindern und eine nachhaltige und widerstandsfähige Erholung der Wirtschaftstätigkeit in der EU fördern.

Das Instrument wird unionsrechtlich – neben den bestehenden Finanzierungsprogrammen – auf zwei neuen Sekundärrechtsakten beruhen: 

•    einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung ei-ner Aufbau- und Resilienzfazilität (COM(2020) 408), einem weiteren Finanzierungsprogramm, das mit 672,5 Mrd. Euro ausgestattet werden soll und

•    einer Verordnung des Rates zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der Corona-Pandemie – „EURI-Verordnung“ (COM (2020) 441), die die 750 Mrd. Euro den einzelnen Programmen zuweist.

Hinzu kommt die Änderung des Eigenmittelbeschlusses (siehe Ziff. II.3). Diese ist notwendig, damit das Gesamtfinanzvolumen von 1.824 Mrd. Euro (NGEU in Höhe von 750 Mrd. Euro plus Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-27 in Höhe von 1.074 Mrd. Euro) von der Eigenmittelobergrenze gedeckt ist und Refinanzierungsinstrumente (EU-Steuern) eingeführt werden können. Die technische Einrichtung des Programms und die Abwicklung der Auszahlungen erfolgt aufgrund der beiden Verordnungen.

2. Wenn die EU Sekundärrechtsakte erlässt, benötigt sie nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Artikel 5 Absatz 1 und 2 EUV) eine Rechtsgrundlage im Primärrecht, die im Rechtsetzungsverfahren auch ausdrücklich genannt werden muss.

Die Rechtsgrundlage für die Errichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität ist Art. 175 AEUV. Dieser Vertragsartikel sieht den Betrieb der bekannten Strukturfonds vor und ermöglicht in Absatz 3 eine Neuregelung von „spezifischen Aktionen außerhalb der Fonds“. Rat und Parlament würden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschließen, das heißt der Rat mit qualifizierter Mehrheit, das Europäische Parlament ohnehin mit einfacher Mehrheit. Die Rechtsfragen dieses Bausteins spielen in der öffentlichen Debatte keine größere Rolle.

3. Interessanter ist die Verordnung, mit der das Aufbauinstrument zur Unterstützung der Erholung nach der Corona-Pandemie („EURI-Verordnung“) geschaffen werden soll.

Die Kommission nennt in ihrem Rechtsetzungsvorschlag als Rechtsgrundlage Artikel 122 AEUV (ohne Nennung eines der beiden Absätze). Der Juristische Dienst des Rates ist der Ansicht, dass Artikel 122 Absatz 1 AEUV einschlägig ist, der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat Artikel 122 Absatz 2 AEUV als passende Rechtsgrundlage identifiziert (soweit die Maßnahmen auf die Corona-Epidemie gerichtet sind). Ob Artikel „122 AEUV“ als Rechtsgrundlage ausreicht, ist in der bisherigen Diskussion umstritten.

Der Wortlaut des Vertragsartikels zeigt, dass für finanzielle Hilfen der Absatz 2 gegenüber dem Absatz 1 spezieller ist. Absatz 2 jedoch bezieht sich nur auf „einen“ Mitgliedstaat (Singular, nicht alle 27 Mitgliedstaaten) und will die Hilfen auf den Krisenfall bezogen sehen. Das letztgenannte Kriterium wirft Fragen auf, ob die mögliche Ausschüttung der NGEU-Mittel mit der „Gießkanne“ erfolgen kann oder nicht ein sehr spezifisches Ausgabenprogramm vorliegen muss. Dass zwischen die Finanzhilfen und den NGEU weiteres Sekundärrecht geschaltet ist, das solche Bedingungen und Verfahren definiert, wird ebenfalls als Argument gegen die Rechtsgrundlage verwendet. Denn wenn ein Mitgliedstaat ausnahmsweise und dringend Finanzhilfe benötigt, dann kann diese doch nicht von (politischen) Bedingungen abhängig gemacht werden.

Artikel 122 AEUV ermöglicht ein verbindliches Handeln des Rates ohne Beteiligung des EP. Bei Absatz 1 käme es noch nicht einmal zu dessen Anhörung, bei Absatz 2 wird das EP immerhin über den Ratsbeschluss unterrichtet. Sicherlich sind die Mitwirkungsrechte des EP in einer Gesamtschau zu beurteilen – es wäre dem EP ein Leichtes, seine Zustimmung zur Aufbau- und Resilienzfazilität (Ziff. 2) politisch mit der Mitsprache bei der EURI-Verordnung zu verknüpfen.

4. Die Beteiligung des Bundestages an dem Verfahren zum Erlass der beiden Verordnungen ist auf den ersten Blick einfach: Artikel 23 Absatz 2 bis 7 GG sehen die Beteiligung im Wege der Unterrichtung und Stellungnahme vor. Allerdings handelt es sich bei den Verordnungen um Maßnahmen der EU, die den Bundeshaushalt belasten. Es werden nämlich erhebliche Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt und außerdem Kreditzusagen gemacht. In diesem Fall ist Art. 115 GG einschlägig, der solche Schritte der Zustimmung mit einfacher Mehrheit des Bundestages unterwirft. Die finanziellen Beiträge der Bundesrepublik müs-sen haushaltsrechtlich abgesichert werden.

Die rechtliche Würdigung der Beteiligung des Bundestages kann hier nur skizzenhaft erfolgen. Allerdings zeigt sich schon jetzt, dass die Grundverpflichtung der Bundesrepublik zu deutlich erhöhten EU-Beiträgen abstrakt bereits im Eigenmittelbeschluss erfolgt. So könnte es sein, dass dieser aufgrund der deutlichen Steigerung der Eigenmittelobergrenze (Ziff. II.1) auch nach Art. 115 GG zustimmungspflichtig wird.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Bundestag im Rahmen der „Euro-Rettung“ eine Reihe von speziellen Beteiligungsrechten gegenüber der Bundesregierung erhalten hat, die funktional auch auf den NGEU passen würden. So unterrichtet die Bundesregierung den Bundestag über die Übernahme von Gewährleistungen nach dem Stabilisierungsmechanismusgesetz (StabMechG) und quartalsweise über die aktuelle Inanspruchnahme des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM).

Aufgrund Interessenparallelen und der in Rede stehenden Haushaltsautonomie wäre es deshalb angezeigt, dass die Bundesregierung den Bundestag auch über die im Rahmen von NGEU vergebenen Darlehen (inklusive Rückzahlungsrisiken) strukturiert unterrichtet. Denkbar wäre, dass der Bundestag – wie bereits beim StabMechG und dem ESM – einfachgesetzliche Konkretisierungen seiner Beteiligungsrechte schafft. Das würde die demokratische Legitimation und die Öffentlichkeit der Vorgänge „in Brüssel“ verbessern. Zudem ließe sich in einem solchen „NGEU-Beteiligungsgesetz“ auch die konkrete Ausübung des von den Niederlanden durchgesetzten Notbremsemechanismus für die Finanzhilfe (Europäischer Rat, Schlussfolgerungen vom 21.7.2020, Rn. A 19) regeln. Die Ausgangslage ist klar vergleichbar mit den bestehenden Beteiligungsgesetzen.

V. Schluss

Für die juristische Beurteilung des Projekts „Next Generation EU“ ist es wichtig, nicht auf das Instrument, sondern auf die einzelnen EU-Rechtsakte zu blicken, mit denen es ins Werk gesetzt werden wird. Die Kurzanalyse zeigt, dass das Projekt aus mehreren Einzelschritten besteht, die in komplexer Weise miteinander verzahnt sind.

Durch die Beschlüsse des Europäischen Rats vom Juli 2020 wird die Finanzverfassung der EU grundlegend verändert. Die Nettotransfers einzelner EU-Mitgliedstaaten werden – sicherlich auch wegen des Brexit – deutlich steigen, und die Zahl der Nettoempfänger wird zunehmen (bislang ist Italien etwa ein Nettozahler). Die deutlich erhöhte Eigenmittelobergrenze für den EU-Haushalt zeigt, dass die EU/Mitgliedstaaten Geld als europäische Steuerungsressource nunmehr stärker operationalisieren wollen.

Der Einstieg in eine direkte EU-Besteuerung von Unionsbürgern und Unternehmen betont, dass wir uns in einer verfassungsrechtlichen Schwebelage befinden, in der die Ableitungszusammenhänge europäischer politischer Herrschaft nicht mehr eindeutig sind und die Ämter und Organe der Mitgliedstaaten und der Union um Legitimität im Sinne sozialer Anerkennungswürdigkeit normativer Gebundenheit werben.

Besorgnis kann in diesem Zusammenhang erregen, dass es in Zukunft zwar eine Parallelität der Steuerhoheit geben wird (EU und Mitgliedstaaten), diese Ansprüche jedoch in keiner Weise koordiniert und ebensowenig in ihrer tatsächlichen Gesamtbelastung für den Bürger begrenzt sein werden. Vieles wird davon abhängen, wie konkret der Eigenmittelbeschluss die neuen Eigenmittelkategorien definiert und den Konkretisierungsspielraum von Rat und EP begrenzt (Artikel 311 Absatz 4 AEUV). Da die Rückzahlung der NGEU-Kredite bis zum Jahr 2058 über die Beiträge der Mitgliedstaaten an den EU-Haushalt erfolgt, zahlen die Unionsbürger indirekt durch ihre nationalen Steuern und Abgaben diese europäischen Ausgaben.

Die NGEU-Elemente des Projekts sind auf Befristung angelegt. Die Aussage, dass durch NGEU die Finanzstruktur der EU auf Dauer zu der einer Fiskalunion gemacht werden wird, ist eine europapolitische Prognose, die allerdings von der Erfahrung getragen wird. Politökonomisch betrachtet liegt die Schlussfolgerung nahe, dass sich die Mitgliedstaaten bei zukünftigen Verhandlungen über einen mittelfristigen Finanzrahmen des verfügbaren und bewährten Instrumentariums bedienen werden, um ihre sehr gegensätzlichen Interessen beim EU-Haushalt auszugleichen. Dazu gehören in Zukunft auch EU-Kredite und EU-Steuern.

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